Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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  Heft 53, März 2003, 14. Jhrg

Editorial

Die Bundesrepublik befindet sich in einer Stagnationskrise. Die Arbeitslosigkeit wird, selbst nach den Prognosen des Jahreswirtschaftsberichts der Bundesregierung, nicht ab-, sondern weiter zunehmen. Viele Gemeinden steuern in ein finanzielles Desaster. Die sogenannten "Reformen" auf dem Arbeitsmarkt und in der Sozialversicherung orientieren sich allesamt an einem Ziel: Reduzierung von Lohneinkommen, Deregulierung der Arbeitsverhältnisse, "Entlastung" des privaten Kapitals, Minderung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe: Standortsanierung auf Kosten der Lohnarbeit. Welche Handlungsspielräume und Aufgaben haben unter solchen zunehmend restriktiven Bedingungen Betriebsräte und Gewerkschaften in den Betrieben? Mit welchen neuen Zumutungen haben sie sich auseinanderzusetzen? Was denken Jugendliche, die Arbeit suchen oder die gewerkschaftlich organisiert sind, unter diesen Bedingungen? Hat linker Parlamentarismus überhaupt Handlungsspielräume oder ist er - siehe das Desaster der PDS - zum Scheitern verurteilt? Solchen Aspekten linker Politik unter Krisenbedingungen soll im vorliegenden Heft nachgegangen werden. Es geht nicht um theoretische Entwürfe von Alternativen, sondern um nüchterne Bestandsaufnahmen des Umgangs mit gegenwärtigen Handlungszwängen in Betrieb und Gesellschaft und um die Bedeutung, die dem "subjektiven Faktor" dabei zukommt.

Wir beginnen mit zwei Betriebsberichten. VW ist das "Labor", aus dem die Konzepte der Hartz-Kommission stammen. Stephan Krull, Betriebsrat bei VW Wolfsburg, zeichnet die Auseinandersetzungen um die VW-interne "Arbeitsreform" und fragt nach der Verallgemeinerbarkeit der Erfahrungen der gewerkschaftlichen Interessenvertretung bei VW. Die Krise der überregionalen Tageszeitungen, die mit dem drastischen Rückgang ihres Anzeigenaufkommens zusammenhängt, führt zu enormem Druck auf die Belegschaften. Entlassungen und Lohneinbußen sind der Tribut, mit dem sie bei der Sanierung zur Kasse gebeten werden. Viktor Kalla, Betriebsratsvorsitzender der "Frankfurter Rundschau", schildert den Verlauf der Auseinandersetzung bei der FR, die Widersprüche von Abwehr und Einbindung, die zu konstatierenden Erosionen im gewerkschaftlichen Bewußtsein.
 
Über Einstellungen und Interessenartikulation von gewerkschaftlich organisierten Jugendlichen berichtet der Leiter der Jugendabteilung der IG Metall, Jan Engelhardt. Er stellt die Ergebnisse der IG-Metall-Jugendstudie und das Konzept der "aktivierenden Jugendarbeit" vor. Tiefgehende Unterschiede in Lebensweise und Jugendkulturen ergeben sich aus dem innerdeutschen Ost-West-Gegensatz. Ostdeutsche Jugendliche nehmen den Kapitalismus der Bundesrepublik in vieler Hinsicht anders wahr als ihre westdeutschen Altersgenossen. Dass dies mit der Geschichte der Region - ihrer Prägung durch die ehemalige DDR - und ihrer besonderen Krisenbetroffenheit nach dem Anschluß zusammenhängt, zeigt der Beitrag von Peter Förster, der eine bereits 1987 begonnene Langzeitstudie über den Mentalitätswandel bei jungen Ostdeutschen bis heute fortführt.

Berlin ist faktisch pleite. Kurt Neumann untersucht den Skandal um die Berliner Bankgesellschaft ("staatsmonopolistische Sumpfblüte"). Er verbindet seine Vorschläge zur Bewältigung der Bankenkrise mit Vorschlägen zur weitergehenden Analyse heutiger Formen der Einbeziehung und Unterordnung staatlicher Potenzen unter das Diktat der privaten Kapitalverwertung.

Sind dies Bedingungen, unter denen linker Parlamentarismus überhaupt eine Chance hat, Alternativen zu realisieren und sich selbst als Alternative zum "Sumpf" der herrschenden Interessen darzustellen? Harald Werner, der sich auf die Regierungsbeteiligungen der PDS, insbesondere auf das Beispiel Berlin, bezieht, konstatiert nicht nur "Machtlosigkeit im Vorhof der Macht", sondern auch ein systematisches Versagen des linken Parlamentarismus. Das Hauptproblem sieht er in der fehlenden Kommunikation zwischen außerparlamentarischer Bewegungslinker und der Linken im Parlament. Werner Seppmann konfrontiert in seinem Beitrag zur Aktualität der Klassenfrage die fragmentierenden und entsolidarisierenden Tendenzen der sozialkökonomischen Dynamik des Kapitalismus mit Ansatzpunkten für die Suche nach einer neuen Identitätsbildung in Arbeit und Alltag der Lohnabhängigen.

Die Imperialismus-Diskussion aus Z 52 setzen wir in diesmal mit Beiträgen von Horst Heininger, Uwe-Jens Heuer und Steffen Dörhöfer fort. Heininger diskutiert, von Gerfried Tschinkel befragt, verschiedene Ansätze aktueller Fassung des Imperialismus-Problems (Bischof, Hardt-Negri, Schmid/Mayer u.a.). Heuer kritisiert Herfried Münklers Kriegstheorie. Das Konzept der "immateriellen Arbeit" und seiner theoretischen Bezugspunkte steht im Mittelpunkt von Dörhöfers Blick auf Hardt/Negris Buch "Empire" (womit die Diskussion hierzu in "Z" fortgesetzt wird).

Weitere Beiträge: Domenico Losurdo prüft Ansätze zur Bewältigung der Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert. Er plädiert für Abkehr von Utopismus, "Ent-Messianisierung des kommunistischen Projekts und ein Voranbringen des notwendigen Lernprozesses. Harald Neubert setzt sich mit Überlegungen zur Neuformulierung sozialistischer Politik und Programmatik nach dem Scheitern des Realsozialismus auseinander. Emmerich Nyikos entwickelt in seinem Beitrag einen Ideologiebegriff, nach dem Ideologie nicht nur "falsches Bewußtsein" produziert, sondern als "spontane Philosophie" des Alltags (Gramsci) immer auch praktische Orientierungsfunktionen hat und daher von der Widersprüchlichkeit zwischen Objektivationen und Bewußtseinsformen konkreter Verhaltensweisen her zu bestimmen ist. Karl Hermann Tjaden verbindet neue Untersuchungen zur Chemikalienbelastung von Mensch und Umwelt mit Überlegungen zur begrifflichen Fassung des Stoffwechsels von Mensch und Natur.

Z 54 (Juni-Ausgabe) wird im Schwerpunkt die EU-Osterweiterung behandeln. Danach, so der Plan der Redaktion, wollen wir uns Fragen von "Macht und Herrschaft" in der Bundesrepublik zuwenden.
 
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