Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
<<Zurück
 
  Heft 67, September 2006, 17. Jhrg

Editorial

Zunächst sei es unumgänglich, „den Becher der Niederlage bis zum letzten Tropfen auszutrinken“, schrieb Heinz Jung im Januar 1990: „Sonst wird es keinen Neuanfang geben.“ Dies war die Konstellation, in der er 1989/1990 Idee und Konzept von Z entwickelte und seine ganze Energie in die neue Zeitschrift investierte. Er war zugleich davon überzeugt, „dass der Marxismus in Deutschland schon mittelfristig in der Gesellschaft auch als politische Strömung wirksam sein kann, wenn es den Marxisten gelingt, die ‚alte’ Klassenproblematik mit den neuen sozialen, kulturellen und globalen Problemen zu verbinden und dafür politische und soziale Ausdrucksformen zu schaffen.“
Heinz Jung starb, für alle unerwartet, am 19. August 1996. Aus Anlass seines 10. Todestages haben wir auf den folgenden Seiten Texte zusammengestellt, die er 1989/1990 in kritischer und selbstkritischer Reflexion des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der DDR und der Krise der marxistischen Bewegung verfasst hat. Aktuell sind diese Texte auch heute vor allem deswegen, weil Heinz Jung es vermochte, jeglicher Larmoyanz zu widerstehen und den nüchternen und schonungslosen Blick auf die Zusammenbruchskrise und die kritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte und Theorie mit dem Blick nach vorn, dem Blick auf die Zukunftsperspektiven der marxistischen Bewegung zu verbinden. Er ging unbeirrt von der Notwendigkeit der konkreten Analyse konkreter Verhältnisse aus, für deren Entwicklung und Veränderung man offen sein müsse. Seine Gedanken zu einem marxistischen Neuanfang wurden auch Programm des Zeitschriftenprojekts Z. Vor zehn Jahren schrieben wir zur Würdigung von Heinz Jung (Z 28, Dezember 1996, S. 14): „Diese Haltung der ‚Offenheit’ für die Veränderungen der Realität, die seine wissenschaftliche Arbeit wie seine politische Biografie prägen, dieser gegen den Zeitgeist immune, parteiliche ‚Anti-Dogmatismus’, der Heinz Jung stets nach neuen Wegen suchen ließ, ohne dabei Zweifel über die Richtung gesellschaftlicher Veränderungen aufkommen zu lassen, das ist vielleicht das Wichtigste, was aus seinem engagierten und tätigen Leben zu lernen ist.“

In welchem Verhältnis stehen Zentrum und Peripherie des Kapitalismus, welches Kräfteverhältnis besteht zwischen „alten“ und „neuen“, aufsteigenden Zonen des Kapitalismus? Schon vor 150 Jahren wirft Marx in einem Brief an Engels (sh. die letzte Umschlagseite dieses Heftes) dieses „schwierige“ Problem auf. Erleben wir heute einen Aufstieg der kapitalistischen Schwellenländer, eine neue Dynamik des Kapitalismus von seiner Peripherie her?
Mit dem Kürzel BRIC hat die Goldman Sachs Group die aus ihrer Sicht zu wichtigen Akteuren in der Weltwirtschaft aufsteigenden kontinentalen Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und China als eine Gruppe zusammengefasst. Oft wird auch Südafrika dazu gerechnet. Welche Auswirkung wird deren wachsendes Gewicht auf die Funktionsweise des globalen Kapitalismus haben? Welches Kapitalismusmodell hat sich in den BRIC-Ländern etabliert? Welche inneren Widersprüche und Konflikte entwickeln sich in diesen Ländern und welche Stellung hat die politische Linke in ihnen?
Stefan Schmalz umreißt die Rolle der BRIC-Staaten in der Weltwirtschaft und deren unterschiedliche Entwicklungswege. Sie haben zwar Machtressourcen auf verschiedenen Ebenen, insbesondere im Finanzsektor angehäuft, werden aber erst mittelfristig durch gezielte Kooperation strukturale Machtverhältnisse in der Weltwirtschaft umwälzen können. Luiz Augusto E. Faria zeigt in seinem Beitrag über das brasilianische Entwicklungsmodell, dass sich Brasilien entgegen der BRIC-Euphorie seit rund 25 Jahren in einer strukturellen Stagnationsphase befindet. Gert Meyer beleuchtet Russlands Rückkehr als wichtiger Akteur auf der Weltbühne. Nach der Finanz- und Währungskrise 1998 hat sich das Land unter günstigen Weltmarktbedingungen zu einer Energie- und Rohstoffmacht entwickelt, wobei sich die tiefe soziale Spaltung in Russland weiter verfestigt. Radhika Desai analysiert die indische Ökonomie seit der Unabhängigkeit 1947 und kritisiert die modernisierungstheoretischen Argumentationsmuster in der BRIC-Debatte. Sie zeigt, dass die neoliberale Umstrukturierung keineswegs förderlich für die ökonomische und soziale Entwicklung Indiens war, sondern zu strukturellen Problemen geführt hat. China ist derzeit das wichtigste Zugpferd der Weltwirtschaft. Es hat Abschied genommen vom Sozialismus und eine Transformation zum Staatskapitalismus durchlaufen, so Hyekyung Cho. Die Autorin interpretiert die chinesische Entwicklung als Variante des „ostasiatischen Kapitalismus“ und diskutiert Stärken und Schwächen Chinas auf dem Weltmarkt. Im Anschluss an Gramsci beschreibt Jens Erik Ambacher die Entwicklungen im Post-Apartheid-Südafrika seit 1994 als passive Revolution. Der ANC ist seit der Regierungsübernahme auf eine neoliberale Wirtschaftspolitik umgeschwenkt. Dies führt zu einer wachsenden sozialen Spaltung, die sich nun auch innerhalb der verschiedenen Apartheid-Bevölkerungsgruppen wieder findet. Christina Deckwirth untersucht die Verhandlungsaktivitäten der BRIC-Staaten in der WTO und dem GATT. Brasilien und Indien, die sich in den 1990er Jahren den Vorgaben der Zentrenstaaten unterordnen mussten, haben mit der Gründung der G-20 im Jahr 2003 neuen Einfluss gewonnen. Der BRIC-Schwerpunkt wurde von unserem Gastredakteur Stefan Schmalz betreut.

Weitere Themenschwerpunkte sind Wolfgang Abendroths Aktualität als marxistischer Politiktheoretiker – mit Beiträgen von Frank Deppe und Peter Römer und einer Nachlese zu den Veranstaltungen anlässlich seines hundertsten Geburtstages – sowie aktuelle Aspekte der Ideologie-Theorie. Hierzu stellen Erich Hahn – seine Studie über Ideologiebedarf und Ideologieproduktion in Umbruchphasen des Kapitalismus wird im nächsten Heft fortgesetzt – sowie Thomas Collmer (über A. Honneth) und Ingo Elbe (über Holloway) ihre Überlegungen zur Diskussion. Konferenzberichte und eine aktuelle Literaturschau beschließen das Heft.
 
Zum Seitenanfang