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Heft 58, Juni 2004, 15. Jhrg
Andreas Wehr
Wer regiert in Europa?
Die neue Hegemonialordnung der Europäischen Verfassung
Der heutige Sozialstaat „sei erkämpft gegen den nationalen Kapitalismus. Aber
den gibt es nicht mehr.“ So Franz Müntefering auf dem SPD-Sonderparteitag am 21.
März 2004. Es gehört zu den gängigen Argumentationsmustern neoliberaler Politik,
die ökonomischen und politischen Entscheidungszentren im Nirgendwo der
Globalisierung verschwinden zu lassen, um damit jegliche
Gegenwehr für sinnlos, da ortlos zu erklären. Dies gilt vor allem für die
Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union, die aufgrund des komplizierten
Zusammenspiels bei der Gesetzgebung von nationalen Regierungen, Europäischer
Kommission und in manchen Fällen auch des Europäischen Parlaments als besonders
verworren, unübersichtlich und daher kaum beeinflussbar erscheinen. Weitgehende
Einigkeit besteht darüber, dass diese Prozesse nicht mehr mit den herkömmlichen
Mustern der Analyse nationalstaatlicher Machtentfaltung erklärt werden können.
Doch selbst kritische Analysen der europäischen Integration, die Hegemonie auf
internationaler Ebene als eine Herrschaftsstruktur bezeichnen, die „wesentlich
auf den Konsens der Beherrschten beruht, ohne allerdings Dominanz und Zwang
auszuschließen“1, kommen an der Feststellung nicht vorbei, dass
„grundsätzlich davon auszugehen ist, dass die nationale Handlungsarena und
demzufolge auch die Apparate und Agenturen des Nationalstaats für die
Reproduktion der gesellschaftlichen und globalen Machtstrukturen noch immer
zentral sind.“2
Der Untersuchung der Mechanismen, wie nationale Macht diese transnationalen
Strukturen konstituiert, mit deren Hilfe sie wiederum die Reproduktion ihrer
jeweiligen nationalen Gesellschaftsordnungen organisiert, absichert und sich in
diesem Prozess selbst verändert bzw. verändert wird, kommt demnach zentrale
Bedeutung zu. Im Folgenden soll dies an Hand des vom Europäischen Konvent
vorgeschlagenen Verfassungsentwurfs näher beleuchtet werden.3
Es soll gezeigt werden, wie die EU mittels dieser Verfassung aus einer
staatenbündischen Ordnung in eine Hegemonialordnung überführt werden soll, die
zukünftig von den großen europäischen Mächten, mit Deutschland im Zentrum,
bestimmt wird.4 Dass dieser Prozess keineswegs widerspruchslos verläuft, zeigte
sich bereits beim ersten, gescheiterten Versuch, die Europäische Verfassung auf
der Ratstagung im Dezember 2003 durchzusetzen. Der Anlass des Scheiterns, der
Streit über die Stimmenzahl von Polen und Spanien bei den Abstimmungen im
Europäischen Rat und im Ministerrat, war dabei keinesfalls zufällig. Es handelte
sich um nichts anderes als um einen Streit über den zukünftigen Einfluss
einzelner Nationalstaaten, und hier vor allem ihrer jeweils herrschenden
Klassen, auf die Entscheidungen in der Union. Er berührte damit den Kern der
Organisation nationaler Macht in einer transnationalen Machtstruktur.
Eine der wichtigsten Aufgaben des Europäischen Konvents war es, Vorschläge für
den institutionellen Aufbau der EU vorzulegen, mit denen die sogenannten
„Left-overs“, jene seit dem Vertrag von Amsterdam 1997 ungelöst gebliebene
Fragen, geregelt werden sollten. Bei ihnen geht es bekanntlich um die zukünftige
Größe der Europäischen Kommission, das Abstimmungsverfahren im Ministerrat und
um die Ausweitung der Entscheidungen dort mit qualifizierten Mehrheiten. Ihre
Neuregelung wird offiziell für unumgänglich gehalten, um die Union nach ihrer
Erweiterung auf 25 Staaten handlungsfähig zu halten. Tatsächlich geht es aber in
erster Linie darum, den Einfluss der dominierenden Mitgliedstaaten der Alt-EU
auch nach dem Beitritt einer ganzen Reihe kleiner, aber dennoch mit voller
Souveränität ausgestatteter Staaten möglichst ungeschmälert zu erhalten. Zumal
mit der Osterweiterung einige Länder hinzukommen, die innenpolitisch als
instabil gelten müssen und denen man bei Beibehaltung einstimmiger
Beschlussverfahren in wichtigen Fragen unberechenbare Blockadehaltungen zutraut.5
Eine verkleinerte Europäische
Kommission
Im Anschluss an den Beitritt der zehn
neuen Staaten wird bei der für November 2004 anstehenden Neuwahl der Kommission
die Zahl ihrer Mitglieder auf 25 ansteigen, da nach dem Vertrag von Nizza „der
Kommission ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedslandes angehört.“ Nach
verbreiteter Ansicht behindert eine solch große Zahl von Kommissaren die
Arbeitsfähigkeit dieses Gremiums. Einige Staats- und Regierungschefs hatten
deshalb im Dezember 2000 auf der Tagung des Europäischen Rats in Nizza versucht,
eine Regelung durchzusetzen, nach der die Kommission im Anschluss an die
EU-Erweiterung wieder verkleinert werden kann. Dies stieß aber auf den
entschiedenen Widerstand der mittleren und kleineren Mitgliedsländer und der in
Nizza bereits mit am Tisch sitzenden Beitrittsstaaten. Sie sahen in dem national
ausgewählten Kommissar eine unverzichtbare Möglichkeit ihrer Einflussnahme auf
die Entscheidungsfindung der Kommission. So erreichten die auf Verkleinerung der
Kommission drängenden Länder, unter ihnen in erster Linie Frankreich und
Deutschland, lediglich die Verabschiedung einer sogenannten
„Rendezvous-Klausel“, was heißt, dass man sich allein darauf verständigen
konnte, die Frage später erneut aufzugreifen.
Da aber ungewiss ist, ob sich der Rat künftig wirklich auf eine substanzielle
Reduzierung der Zahl der Kommissionsmitglieder und damit auf die Straffung ihrer
Arbeit wird einigen können, war es das Ziel des Konvents, dieses Problem jetzt
zu lösen. Nach Art. I-25 Abs. 3 des Konventsentwurfs wird die Zahl der
Kommissare auf insgesamt 15 begrenzt: „Die Kommission besteht aus einem
Kollegium, das sich aus ihrem Präsidenten, dem Außenminister der Union, der
Vizepräsident ist, und aus dreizehn Europäischen Kommissaren, die nach einem
System der gleichberechtigten Rotation zwischen den Mitgliedstaaten ausgewählt
werden, zusammensetzt.“ Um den Staaten, die noch in
Nizza hartnäckig an „ihrem Kommissar“ festhielten, diese Reduzierung schmackhaft
zu machen, wurde die Funktion des „Kommissars ohne Stimmrecht“ geschaffen, der
wenigstens für die gleichzeitige Präsenz aller Mitgliedstaaten am
Kommissionstisch sorgen soll.
Kaum beachtet wurde bisher, dass nach dem Konventsentwurf die Stellung des
Kommissions-präsidenten erheblich gestärkt wird. Ihm fällt zukünftig nach Art.
I-26 Abs. 2 das Recht zu, die übrigen Kommissionsmitglieder zu benennen. Er
wählt dazu aus einer Liste von drei Personen aus, die jeder Mitgliedstaat
erstellt. Gegenwärtig ist es nach Art. 124 EG-Vertrag noch der Europäische Rat,
der im Einvernehmen mit dem Kommissionspräsidenten über die auf Grundlage der
Vorschläge der Mitgliedstaaten zusammengestellte Liste der Kommissare mit
qualifizierter Mehrheit beschließt. Dabei sind die Vorschläge der EU-Länder in
der Regel allein ausschlaggebend. Nach den Vorstellungen des Konvents erhält der
Kommissionspräsident künftig auch die Möglichkeit, einzelne
Kommissionsmitglieder entlassen zu können. Schließlich bekommt er nach Art. I-26
Abs. 3 eine Kompetenz für Leitlinien, „nach denen die Kommission ihre Arbeit
ausführt“.
Eine weitere Konzentration der Macht innerhalb der Kommission würde sich
ergeben, wenn der erst nach Abschluss der Arbeit des Konvents von den
Regierungschefs Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands vorgelegte
Vorschlag Wirklichkeit werden würde, einen Vizepräsidenten der Kommission für
die Wirtschaftskoordinierung zu schaffen.6 Und natürlich soll
dieser Vizepräsident aus einem dieser drei Länder kommen, wobei das deutsche
Kapital daran denkt, jemand aus seinem Land in dieses Amt zu bringen.7
In einer verkleinerten Kommission, deren Mitglieder von ihrem Präsidenten
ausgewählt werden, verstehen sich die Kommissare kaum noch als Vertreter ihres
Entsendestaates. Mit einer deutlich gestärkten Rolle des Kommissionspräsidenten
und schließlich mit dem neu geschaffenen Amt des Außenministers der Union, der
zugleich Vizepräsident der Kommission ist, würde dieses Gremium schon sehr dem
Bild einer klassischen Regierung ähneln. Vor diesem Hintergrund fällt um so
schwerer ins Gewicht, dass der Kommissionspräsident auch zukünftig nicht frei
vom Europäischen Parlament gewählt werden kann. Das dazu vom Konvent in Art.
I-26 vorgesehene Verfahren sieht in Absatz 1 vor: „Unter Berücksichtigung der
Wahlen zum Europäischen Parlament schlägt der Europäische Rat diesem im
Anschluss an entsprechende Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen
Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor. Das Europäische
Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder. Erhält
dieser Kandidat nicht die Mehrheit, schlägt der Europäische Rat dem Europäischen
Parlament innerhalb eines Monats einen neuen Kandidaten vor, wobei dasselbe
Verfahren wie zuvor angewandt wird.“ Die entscheidende Vorauswahl bleibt demnach
dem Europäischen Rat vorbehalten.
Die Stärkung des Europäischen Rats
Der Europäische Rat, das Gremium der
Staats- und Regierungschefs, das nach Art. I-20 „der Union die für ihre
Entwicklung erforderlichen Impulse gibt und ihre allgemeinen politischen
Zielvorstellungen und Prioritäten festlegt“, soll ebenfalls gestärkt und seine
Arbeit gestrafft werden. Die Schaffung des Amtes eines hauptamtlichen
Ratspräsidenten war im Konvent lange Zeit umstritten gewesen. Die kleineren und
mittleren Länder sahen in ihm das Symbol eines Direktoriums der großen
Mitgliedstaaten. Auch lehnten sie die damit verbundene Abschaffung der
halbjährlichen Rotation der Ratspräsidentschaft ab, da dies den Verlust von
Möglichkeiten zur Beeinflussung der Arbeit des Rates bedeutet.
Der Streit über die
Abstimmungsregelung im Ministerrat und Europäischen Rat
Der Beitritt von nicht weniger als zehn
Staaten, denen mit Bulgarien und Rumänien und womöglich der Türkei bald weitere
folgen werden, wird die Union grundlegend verändern. Ein Berater des
Konventmitglieds Erwin Teufel beschrieb diese Herausforderung wie folgt: „Mit
Blick auf die bevorstehende Erweiterung der EU von 15 auf 25 und mehr
Mitgliedstaaten war in den neun-
ziger Jahren klar geworden, dass die große gesamteuropäische Union des 21.
Jahrhunderts einer neuen verfassungsmäßigen Ordnung bedarf, um handlungsfähig zu
bleiben.“ Und unter Handlungsfähigkeit wird dabei immer auch die Wahrung des
eigenen, deutschen Interesses verstanden.
Der Europäische Rat legte im Dezember 2000 in Nizza die Regeln für die
Abstimmungen im Ministerrat und Rat neu fest. Der Einfluss der
bevölkerungsstarken Staaten wurde dabei vergrößert. Frankreich beharrte jedoch
darauf, mit 29 der so genannten „gewichteten“ Stimmen gleich viel wie
Deutschland zu erhalten. Ebenfalls 29 bekamen Italien und Großbritannien. Polen
und Spanien wurden jeweils 27 zugestanden. Nun wurde in jüngster Zeit immer
wieder als Skandal herausgestellt, dass Polen und Spanien noch nicht einmal
zusammen über so viel Einwohner wie Deutschland verfügen und dennoch jeweils nur
zwei Stimmen weniger haben. Übersehen wurde dabei allerdings, dass ihr Abstand
bei der Bevölkerungszahl zu Frankreich, Italien und Großbritannien geringer ist
als die Differenz der jeweiligen Bevölkerungszahl dieser drei Länder zu
Deutschland. Das Ungleichgewicht bei der Stimmenverteilung entstand also
dadurch, dass in Nizza vier Ländern die gleiche Stimmenzahl von 29 gegeben
wurde, obwohl Deutschland sehr viel größer als die übrigen
drei ist.
In Nizza wurde aber auch erstmalig die Berücksichtigung des demografischen
Faktors bei Abstimmungen beschlossen. Zukünftig kann ein Beschluss angefochten
werden, wenn er nicht mindestens 62 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentiert.
Die Bevölkerungsquote kann aber nur angewandt werden, um Beschlüsse zu
verhindern, sie vermag nicht, bei Abstimmungen Stimmendefizite auszugleichen. In
einer Analyse des Ergebnisses von Nizza heißt es zu den Konsequenzen der
Einführung dieses demografischen Faktors: „Spielt man die verschiedenen
Staatenkonstellationen durch, zeigt sich, dass die Bevölkerungsquote nur
Deutschland als dem größten Mitgliedstaat zusätzliche Blockademöglichkeiten
eröffnet. (...) Unter Berufung auf das Bevölkerungserfordernis erreicht
Deutschland eine Sperrminorität schon dann, wenn es einen
zweiten und einen der kleinen Staaten (außer Luxemburg) auf seiner Seite hat.
Ähnlich verhält es sich auch nach Aufnahme der zwölf Kandidatenländer.
Deutschland kann dann mit seinem Bevölkerungsanteil Entscheidungen verhindern,
wenn es die Unterstützung von zwei der drei nächst größeren Staaten findet. Alle
anderen Staaten brauchen hierfür mindestens drei Partner. Letztlich gleicht das
demographische Netz also die deutsche Unterrepräsentation bei der
Stimmengewichtung wieder aus, jedenfalls im (negativen) Sinne einer
Sperrminorität. (...) Die eigentliche und wichtigste Neuerung ist die
erleichterte Blockademöglichkeit durch Deutschland mit Hilfe der
Bevölkerungs-klausel.“8
Der Konventsvorschlag sieht nun in Art. I-24 vor, diesen demografischen Faktor
zu einer von zwei Bedingungen für das Zustandekommen eines jeden mit
qualifizierter Mehrheit gefassten Beschlusses zu machen: „Beschließt der
Europäische Rat bzw. der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit, so muss diese
der Mehrheit der Mitgliedstaaten entsprechen und mindestens drei Fünftel der
Bevölkerung der Union repräsentieren.“ Bei 25 Mitgliedstaaten können demnach bis
zu 12 Staaten überstimmt werden. Bei 450 Millionen Unionsbürgern umfasst die
überstimmbare Minderheit von 40 Prozent immerhin ca. 180 Millionen EU-Bürger.
Was würde sich bei der Annahme dieses Konventsvorschlags konkret ändern? Nach
dem geltenden Vertrag von Nizza sind für eine qualifizierte Mehrheit
erforderlich: In der auf 25 Staaten erweiterten EU mindestens 72,3 Prozent der
sogenannten gewichteten Stimmen, eine Mehrheit der Mitgliedstaaten und, sollte
dies von einem Mitgliedstaat verlangt werden, der Nachweis, dass die
hinter dem Beschluss stehende qualifizierte Mehrheit im Ministerrat zumindest 62
Prozent der EU-Bevölkerung repräsentiert.
Sollte die Bevölkerungszahl, wie es der Konventsentwurf nun vorsieht, als
positives Kriterium an die Stelle der gewichteten Stimmen treten, so würden sich
die Machtverhältnisse zwischen den Staaten erheblich verschieben. Begünstigt
wären davon die vier bevölkerungsstärksten Länder, und hier insbesondere
wiederum Deutschland. Da die Länder Frankreich, Großbritannien, Italien und
Deutschland gegenwärtig jeweils 29 gewichtete Stimmen haben, beträgt ihr
prozentualer Anteil an den 345 Gesamtstimmen nach der Erweiterung nur jeweils
8,4 Prozent. Ganz anders sähe es hingegen aus, wenn die Bevölkerungszahl zu dem
entscheidenden Kriterium wird. Dann würde sich allein der Anteil Deutschlands
glatt auf 17 Prozent verdoppeln. Die Anteile Frankreichs, Großbritanniens und
Italiens würden sich auf immerhin noch jeweils ca. 12 Prozent erhöhen. Da sich
aber die von Spanien und Polen nur geringfügig von 7,8 auf 8 Prozent vergrößern,
ginge der Einfluss dieser beiden Staaten zurück. Dies ist denn auch der Grund
für ihren bislang hartnäckigen Widerstand gegen die vom Konvent vorgeschlagenen
Abstimmungsregeln.9
Betrachtet man nun die möglichen Rückwirkungen des Konventsvorschlags auf
denkbare Konstellationen bei Koalitionsbildungen im Ministerrat und Europäischen
Rat, so ist bereits auf einen Blick erkennbar, dass die vier Großen mit zusammen
53 Prozent bereits fast die erforderlichen 60 Prozent erreichen würden. Für das
Zustandekommen qualifizierter Mehrheiten bedarf es aber noch der Mehrheit der
Mitgliedstaaten als zweites Erfordernis. Hier besitzt jeder Staat nur eine
Stimme, egal ob es sich um Malta oder um Deutschland handelt. Da die vier großen
Länder aber nur noch wenige Bündnispartner zum Erreichen der 60 Prozent-Schwelle
bei der Bevölkerungszahl benötigen, werden sie bei der Suche nach einer Mehrheit
der Mitgliedstaaten freier in ihrer Wahl. Nach dem Konventsvorschlag steigt
daher auch die Bedeutung der kleinen Staaten, denn sie werden bei der
Herstellung der einfachen Mehrheit der Mitgliedstaaten dringend gebraucht.
Verlierer wären dagegen die mittelgroßen Staaten, neben Polen und Spanien die
Niederlande aber auch Staaten
mit jeweils rund zehn Millionen Einwohnern, wie Belgien, Griechenland, Portugal,
Ungarn und die Tschechische Republik. Da mit der Einführung des demografischen
Faktors ihr Gewicht zurückgeht, sinkt auch ihre Bedeutung als Bündnispartner.
Unterscheidet man bei möglichen Mehrheiten zwischen alten und neuen
Mitgliedstaaten, also zwischen der EU-15 und der zukünftigen EU-25, so können
die alten Mitgliedsländer nach den Vereinbarungen von Nizza ihre Mehrheit noch
gerade so halten. Kommen aber Bulgarien und Rumänien (EU-27) dazu, so würden sie
diese verlieren. Würde auch noch die Türkei (EU-28) Mitglied
werden, so hätten die gegenwärtigen EU-Länder überhaupt keine
Gestaltungsmehrheit mehr. Die neuen Mitglieder würden andererseits die ihnen
nach dem Nizza-Vertrag zustehende Sperrminorität nach der Annahme des
Verfassungsentwurfs verlieren. Weder in einer EU der 25, noch der 27 oder der 28
würden sie darüber noch verfügen.
Die Abstimmungsregelungen sind für die politischen Auseinandersetzungen in der
EU von entscheidender Bedeutung, insbesondere bei der Ausfechtung der
anstehenden Verteilungskonflikte. Dies gilt sowohl für die Neuordnung der
gemeinsamen Agrarpolitik als auch für die Zukunft der Regional- und
Strukturfonds. Verlieren die neuen Mitgliedstaaten ihre Sperrminorität, so wird
es für sie sehr viel schwerer werden, etwa bei den Entscheidungen über die
Reform der Regional- und Strukturpolitik ihre Interessen zur Geltung zu bringen.
Die von Transferleistungen der Union besonders abhängigen Kohäsionsländer
(Spanien, Griechenland, Portugal, Irland und bald auch die mittelosteuropäischen
Staaten) verfügen nach der geltenden Nizza-Regelung in der EU der 25 ebenfalls
noch über eine Sperrminorität. Sollte aber die vom Konvent vorgeschlagene
Regelung Anwendung finden, so würden auch sie sie verlieren. Schon allein
deshalb wird wohl Spanien, auch unter der neuen sozialistischen Regierung, kaum
der im Konventsentwurf vorgesehenen 60 Prozent-Klausel zustimmen können. Von der
gegenwärtigen irischen Ratspräsidentschaft wurden daher bereits mögliche Quoren
von 64 bzw. 66 Prozent genannt.
Die Ausweitung der Entscheidungen
mit qualifizierten Mehrheiten
Die gegenwärtig vertraglich
festgeschriebene Notwendigkeit der Einstimmigkeit im Ministerrat bei vielen
Entscheidungen wird als ein besonderes Hemmnis für die zukünftige
Handlungsfähigkeit der Union angesehen. Zwar waren bereits bei den
vorangegangenen Vertragsrevisionen von Maastricht, Amsterdam und Nizza immer
mehr Bereiche hinzugekommen, in denen mit qualifizierten Mehrheiten im
Ministerrat abgestimmt wird, der große Durchbruch war jedoch ausgeblieben. Nach
dem Konventsentwurf sollen nun Entscheidungen mit qualifizierten Mehrheiten
gemäß Art. I-33 in Verbindung mit Art. III-302 zur Norm werden. Die Abstimmung
mit qualifizierter Mehrheit wird
daher auch als „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ bezeichnet. Da dabei
regelmäßig das Europäische Parlament mit einbezogen ist, wird es auch
Mitentscheidungsverfahren genannt. Im Konvent wurde die konkrete Frage, welche
einzelnen Entscheidungen zukünftig in diesem Mitentscheidungsverfahren getroffen
werden sollen, so gut wie überhaupt nicht angesprochen. Diese Dinge sind im Teil
III des Entwurfs geregelt, dessen Entwurf erst kurz vor Ende der Konventsarbeit
präsentiert wurde.
Vielfach wird befürchtet, dass zukünftige Vertragsänderungen und damit auch eine
weitere Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens angesichts von 25 und mehr
EU-Staaten immer schwieriger werden, da jede einzelne Vertragsänderung ja von
allen Staaten ratifiziert werden muss. Dies ist immer ein langwieriges und ein
zudem ungewisses Verfahren, wie die überraschende
Ablehnung des Nizza-Vertrages durch die irische Bevölkerung gezeigt hat. Es
bestand deshalb vor allem im Präsidium des Konvents ein großes Interesse daran,
eine Regelung zu finden, mit der der Anwendungsbereich des
Mitentscheidungsverfahrens ausgeweitet werden kann, ohne gleich ein offizielles
Vertragsänderungsverfahren durchführen zu müssen. In Art. I-24 wird mit der
sogenannten „Passarelle“ nun ein autonomes Vertragsänderungsverfahren
vorgeschlagen. Danach kann der Europäische Rat nach einem Prüfungsverfahren von
mindestens sechs Monaten von sich aus einstimmig einen Beschluss erlassen,
wonach bisher einstimmig zu treffende Entscheidungen in den Bereich der mit
qualifizierter Mehrheit zu treffenden Entscheidungen übertragen werden können.
Damit wäre dem Europäischen Rat erstmals die Möglichkeit gegeben, das
Entscheidungs-verfahren für einzelne Fragen von sich aus in ein anderes
Abstimmungsverfahren zu überführen, ohne zuvor den Vertrag ändern zu müssen.
Eine neue Hegemonialordnung wird
erkennbar
Direkt nach dem Scheitern des ersten
Anlaufs zur Verabschiedung der Europäischen Verfassung im Dezember 2003 wurde
von den Regierungen in Berlin und Paris der Eindruck erzeugt, als führe an der
Schaffung einer kerneuropäischen Zusammenarbeit einiger weniger Mitgliedstaaten,
gruppiert um die deutsch-französische Achse, kein Weg mehr vorbei.10
Inzwischen ist es um diesen Vorschlag wieder sehr ruhig geworden. Der deutsche
Außenminister Fischer, der am Beginn der Verfassungsdiskussion im Mai 2000 noch
von der Notwendigkeit eines „Gravitationszentrums“ um Deutschland und Frankreich
gesprochen hatte 11, sieht nun in „klein-europäischen
Vorstellungen“ nur noch Lösungen, die „die strategische Dimension des Kontinents
nicht ausfüllen können.“12 Und in einem Interview mit der FAZ
sagte er auf die Frage, welche Inhalte der Humboldt-Rede er heute anders
formulieren würde: „Es ist die Frage, ob eine kerneuropäische Perspektive
außerhalb der Verfassung im heutigen Europa noch Bestand haben könnte.“13
Und in der Tat, warum sollte auch auf eine kerneuropäische Lösung orientiert
werden, wo doch nach dem Verfassungsvertrag die vier großen Staaten zusammen nur
noch dicht unterhalb der zur Erreichung qualifizierter Mehrheiten erforderlichen
Grenze blieben? Und warum sollten neue, kerneuropäische Entscheidungsgremien
mühsam aufgebaut werden, wo doch in einer deutlich verkleinerten Kommission die
großen Staaten durch ihr gemeinsames Vorgehen im Rat mit Leichtigkeit die
Schlüsselressorts des Kommissionspräsidenten, des europäischen Außenministers
und auch eines möglichen Superkommissars für Wirtschaft unter sich verteilen
könnten? Schon jetzt treffen sich die Regierungen der großen Länder in
verschiedenen Koordinationsrunden mit unterschiedlichen Zusammensetzungen, um
die politische Agenda der Ratssitzungen vorzubereiten.14 Man
sieht: Nationale Macht verschwindet keineswegs im Nirgendwo, sondern
reorganisiert sich auf transnationaler Ebene.
Verlierer dieser neuen Hegemonialordnung in der EU werden die mittleren und
kleinen Mitgliedstaaten sein. Es ist daher zu erwarten, dass der stärkste
Widerstand gegen den Verfassungsvertrag von den kritischen Öffentlichkeiten
dieser Länder kommen wird. Vor allem in Skandinavien, insbesondere in Dänemark
und Schweden, gibt es ein waches Bewusstsein über den engen Zusammenhang
zwischen der Abgabe von Souveränitätsrechten an die EU und dem Abbau des
Wohlfahrtsstaates
Wie man aber zukünftig mit Störenfrieden, insbesondere aus den osteuropäischen
Staaten, zu sprechen gedenkt, demonstrierte schon einmal der Leiter des Centrums
für angewandte Politikforschung (CAP), Werner Weidenfeld, in seiner Wut über das
Scheitern des EU-Gipfels im Dezember 2003: „Polen wird sehr schnell spüren, was
es bedeutet, alleine den historischen Kurs Europas aufhalten zu wollen. Von der
Finanzplanung bis zur Strukturpolitik wird der polnischen Regierung ein eisiger
Wind ins Gesicht wehen - was naturgemäß die Verhandlungsbereitschaft wachsen
lässt und die innenpolitische Bereitschaft zum Kompromiss fördert.“15
Es ist zu erwarten, dass dieser Ton nicht unbeantwortet bleiben wird. Vor allem
in den Beitrittsstaaten wird er auf empfindliche Ohren treffen. In Malta und
Zypern ist die Erinnerung an die eigene Vergangenheit als Kolonie noch sehr
lebendig. Und bei Slowenien, der Slowakei und den drei baltischen Staaten
handelt es sich um Länder, die erst Anfang der neunziger Jahre ihre staatliche
Souveränität überhaupt begründen bzw. neu erringen konnten. Aber auch die
früheren Mitgliedsländer der Warschauer Vertragsorganisation werden sich an die
erst kürzlich vergangene Zeit der „eingeschränkten Souveränität“ erinnert
fühlen.
Hier zeichnen sich neue Reibungsflächen oder gar Bruchlinien einer erweiterten
EU ab, da in einer wachsenden Zahl von Staaten die Bereitschaft zur Hinnahme
weiterer weitreichender Souveränitätsverzichte abnimmt.16 Mit
dem Verfassungsvertrag werden nun aber gerade jene Bestimmungen für eine neue
europäische Ordnung festgelegt, mit denen der Kern über die Peripherie der EU
seine Hegemonie entwickeln kann. Von der Entscheidung über diese Verfassung wird
daher der gesamte weitere Weg der Europäischen Union abhängen.
1
Robert W. Cox, Soziale Kräfte, Staaten und Weltordnungen:
Jenseits der Theorie internationaler Beziehungen; in: ders., Weltordnung und
Hegemonie in der Internationalen Politischen Ökonomie, FEG-Studie Nr.11, Marburg
1998, S. 26-28.
2
Hans-Jürgen Bieling, Die neue europäische Ökonomie:
Transnationale Machtstrukturen und
Regulationsformen, in: Martin Beckmann, Hans-Jürgen Bieling, Frank Deppe
(Hrsg.), Eurokapitalismus und globale politische Ökonomie, Hamburg 2003, S. 45.
3
Der vom Konvent am 18. Juli 2003 vorgelegte „Entwurf eines
Vertrages über eine Verfassung
für Europa“ wird entsprechend seinen Teilen mit römischen Ziffern wiedergegeben.
4
Vgl. Andreas Wehr, Europa ohne Demokratie? Die europäische
Verfassungsdebatte – Bilanz,
Kritik und Alternativen, Köln 2004, hier insbesondere S.39-81.
5
Einen Vorgeschmack darauf erhielt die europäische Öffentlichkeit
bereits mit dem von einigen
polnischen Politikern formulierten Kampfruf „Nizza oder Tod“, mit dem sie in der
Auseinandersetzung um den Verfassungsentwurf ihren unbeugsamen Willen
unterstrichen, an der auf dem Gipfel von Nizza gefundenen Stimmenverteilung im
Europäischen Rat und im Ministerrat
festzuhalten, die Spanien und Polen privilegiert.
6
Über einen solchen „Superkommissar“ heißt es in der FAZ: „Die
europäischen Regierungschefs sollten aus ihrem Kreis sowie in Übereinstimmung
mit dem Europaparlament eine Art Broker ernennen, fordern einige hinter
verschlossenen Türen. Dieser sollte sich mit einem qualifizierten
Mitarbeiterstab und möglichst ungebremst von institutionellen Verflechtungen den
größten Problemen widmen und Lösungsvorschläge unterbreiten.“ FAZ vom 9.3.2004
„Ein Broker für Brüssel“.
7
„Auch bei der Besetzung des voraussichtlichen Vizepräsidenten der
EU-Kommission für die
Wirtschaftskoordinierung zum 1. November könnte Frankreich der Bundesregierung
den Rang
ablaufen, warnen deutsche Wirtschaftsfachleute.“ FAZ vom 16.3.2004 „Berlin will
EU-Gesetzgebung schneller übertragen“.
8
Thomas Widmann, Der Vertrag von Nizza – Genesis einer Reform, in:
Europarecht, Heft 2,
2001, S.206.
9
„Gewinner des Konvents-Modells wäre Deutschland. Denn hier würde
der Tatsache Rechnung
getragen, dass die deutsche Bevölkerung mit Abstand die größte in der EU ist. Im
Nizza-Vertrag hat Deutschland noch genauso viele Stimmen wie die anderen drei
großen Mitgliedsländer“, FAZ vom 2.2.2004 „Die Macht der Prozente“. Vgl. auch
Andreas Wehr, Kommt jetzt die große Krise? in: Marxistische Blätter, H.1/2004.
10
Vgl. etwa den Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 15.12.2003
unter der Schlagzeile
„Kerneuropa rückt näher“. Die Überschrift im Handelsblatt vom 16.12.03 lautete
gar „Romano
Prodi segnet Kerneuropa ab“.
11
Vgl. Rede des Bundesaußenministers Fischer am 12.5.2000 in der
Berliner Humboldt-Universität „Vom Staatenbund zur Föderation – Gedanken zur
Finalität der europäischen Integration“.
12
Jan Ross, Mehr Welt, weniger Nabel – Kerneuropa ist tot, meint
Joschka Fischer. Es lebe das
strategische Europa, in: Die Zeit vom 4.3.2004.
13
FAZ vom 6.3.2004 „Die Rekonstruktion des Westens“.
14
Eine solche fest etablierte informelle Runde existiert bereits
unter den EU-Innenministern
Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Großbritanniens und Spaniens. Dieser Kreis
trifft sich etwa zweimal im Jahr und spricht die wichtigsten Vorhaben im Bereich
der EU-Innenpolitik ab. Die Verteidigungsminister Belgiens, Deutschlands,
Frankreichs und Luxemburgs wiederum verabredeten auf dem sogenannten Brüsseler
„Pralinengipfel“ im April 2003 eine enge militärische Zusammenarbeit. Nach der
erfolgten Klarstellung, dass es bei dieser Koordination nicht um eine Konkurrenz
zur NATO gehe, zeigt nun auch Großbritannien Interesse daran. Und schließlich
könnte aus dem Treffen der Regierungschefs Deutschlands, Großbritanniens und
Frankreichs von Anfang März 2004 jenes „Direktorium“ der EU entstehen, vor dem
etwa die italienische Regierung bereits warnte.
15
Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 18.12.2003 „Europas historische
Chance“. Das CAP wird gemeinsam von der Münchener Maximilians-Universität und
der Bertelsmann-Stiftung getragen. Es hat als Think Tank durch Veranstaltungen
und Schriften, etwa durch die Herausgabe des Info-Dienstes „Spotlight“, die
Konventsarbeit ständig begleitet und zu beeinflussen versucht. Mitarbeiter im
Konzern Bertelsmann ist auch der einflussreiche CDU-Europaabgeordnete Elmar
Brok. Er ist Vorsitzender des Ausschusses für Außen- und Sicherheitspolitik des
Europäischen Parlaments und war Konventsmitglied. Als einer von zwei
Parlamentsvertretern war er bereits an den Vorarbeiten der 1997 in Amsterdam und
2000 in Nizza ausgehandelten Verträge beteiligt. Auch der Regierungskonferenz,
die den Konventsentwurf im Herbst 2003 überarbeitete, gehörte er als einer von
zwei Berichterstattern des Europäischen Parlaments an.
16
Bereits die überraschende Ablehnung des Vertrags von Nizza in
einer Volksabstimmung in Irland wird auf die besondere Sensibilität der irischen
Bevölkerung im Hinblick auf drohende Souveränitätseinbußen zurückgeführt. Das
Nein erinnerte daran, dass es sich bei Irland um den
jüngsten Staat der Alt-EU handelt, der erst nach langen und blutigen Kämpfen in
den zwanziger Jahren seine Unabhängigkeit errang.
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