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Heft 57, März 2004, 15. Jhrg
Domenico Losurdo
Bürgerliche Gesellschaft und Staat: Hegel, Marx und die zwei Liberalismen
"Wer in der Freiheit etwas anderes sucht, ist zum Dienen bestimmt."
(Tocqueville)
"Man muss, wenn von Freiheit gesprochen wird, immer wohl achtgeben, ob es nicht
Privatinteressen sind, von denen gesprochen wird." (Hegel)
"Freiheit ist ein großes Wort, aber unter dem Banner der Freiheit der Industrie
wurden die räuberischsten Kriege geführt, unter dem Banner der Freiheit der
Arbeit wurden die Werktätigen ausgeplündert." (Lenin)
1. Liberale Tradition und Ausnahmezustand
Warum schenken Marx und Engels Hegel viel mehr Aufmerksamkeit als der liberalen
Tradition? Wir kennen wohl Poppers Antwort und seinen Kreuzzug gegen die
falschen Propheten und die Feinde der "offenen Gesellschaft", in erster Linie
gerade Marx und Hegel. In Wahrheit muss als banale Apologie der liberalen
Tradition jede Auffassung betrachtet werden, die ihr eine ganz besondere
Beachtung der individuellen Freiheit und deren Unantastbarkeit zuschreibt. Gehen
wir einmal über die makroskopischen Ausschlussklauseln hinweg, die es Locke
ermöglichen, die Sklaverei der Schwarzen in den Kolonien für ganz normal zu
halten und in einem der klassischen Texte des Liberalismus die These zu
formulieren, dass es Menschen gebe, die "durch Naturgesetz der absoluten
Herrschaft und der unbedingten Gewalt ihrer Herren unterworfen sind".
Konzentrieren wir uns auf die kapitalistische Metropole und abstrahieren wir
nicht nur von den Kolonien im engeren Sinn, sondern auch von den Bevölkerungen
kolonialer Herkunft (die Schwarzen und die Indianer zuerst im englischen Amerika
und später in den Vereinigten Staaten). Ist wenigstens im so abgegrenzten engen
Bereich die Sphäre der individuellen Freiheit in jedem Fall unantastbar? In
Wahrheit hat Montesquieu keine Zweifel daran, dass es zur "Gewohnheit der
freiesten Völker, die es je auf der Erde gegeben hat" gehöre, "einen Augenblick
lang einen Schleier über die Freiheit zu legen, so wie man die Statuen der
Götter verbirgt". Dies sei die Situation, die sich mit dem Ausnahmezustand
einstellt: um ihr entgegenzutreten, müsse man sich jene "bewundernswerte
Institution" zunutze machen, die die römische Diktatur darstellte.
Ein Jahrhundert später empfiehlt Tocqueville in den Junitagen 1848 die
Erschießung all derer an Ort und Stelle, die "in Verteidigungshaltung"
angetroffen würden. Mehr als ein Jahr nach der verzweifelten Arbeiterrevolte,
als die unerbittliche Repression die jakobinische und sozialistische Gefahr für
immer abgewandt zu haben schien, hält der französische Liberale die eiserne
Faust gegen die linke Gefahr noch immer für notwendig: man könne sich nicht mit
"Palliativa" zufrieden geben; um nicht nur den Berg (d. h. die Bergpartei),
sondern auch "alle umliegenden Hügel" hinwegzufegen, müsse man sich "mutig an
die Spitze all derer - welcher Couleur auch immer - stellen, die die Ordnung
wieder herstellen wollen"; nicht einmal vor einer "heroischen [...] Abhilfe"
dürfe man zurückschrecken. Indirekt wird hier die Notwendigkeit von
Ausnahmegesetzen mit der Aufhebung der konstitutionellen Freiheiten angeregt.
Als Historiker unermüdlich den jakobinischen Terror verurteilend, fordert
Tocqueville als Außenminister die französischen Truppen in Rom auf, "die
demagogische Partei mit Terror zu überziehen".
Verlassen wir Europa und überqueren wir den Atlantik. "The Federalist" ist der
Meinung, dass mit dem Ausnahmezustand die den Bundesbehörden erteilten
Machtbefugnisse "unbegrenzt sein müssten" (without limitation) und ohne
"irgendwelche verfassungsmäßige Bindungen" (constitutional shakles).
Andererseits - merkt Hamilton an - hatte auch die römische Republik keine
Bedenken, "in der absoluten Macht eines einzigen Individuums Zuflucht zu suchen,
der den großartigen Titel Diktator annahm", wenn sie schweren Gefahren
entgegentreten, und sich "gegen die Rebellion ganzer Klassen der Gemeinschaft"
verteidigen musste, "deren Verhalten sogar die Existenz des Staates gefährdete".
Nicht viel anders argumentiert Hegel, wenn er die Gründe für den jakobinischen
Terror zu verstehen versucht: "In der französischen Revolution erhielt eine
fürchterliche Gewalt den Staat, das Ganze überhaupt". Der Tort und die Tragödie
Robespierres lägen darin, dass er an der Ideologie und an der politischen Praxis
des Ausnahmezustands festhielt, den gerade seine unerbittliche Energie hatte
überwinden können (JR, S. 246). Man könnte sagen, der jakobinische Führer habe
im Eifer des Gefechts schließlich den Übergangscharakter des Instituts der
römischen Diktatur aus den Augen verloren. Nur während des "Zustands der Not, es
sei innerer oder äußerlicher", der sich also aus inneren Umwälzungen oder aus
internationalen Konflikten herleite, zeige sich die "Souveränität" in ihrer
Einfachheit und Härte mit der "Aufopferung" aller ansonsten "gerechtfertigten"
"Besonderheiten", die jetzt gezwungen sind, sich der Notwendigkeit der "Rettung
des Staats" zu beugen (Rph., § 278 A). "Die Existenz des Staats" oder die
"Rettung des Staats", von der Hamilton bzw. Hegel reden, konfiguriert sich bei
Locke (Two Treatises of Civil Government, § 210 u. § 160) als das "Gemeinwohl":
wenn es in Gefahr ist, erlaube die "Prärogative" legitim dem Souverän, dieses
mit einer "willkürlichen Gewalt" oder einer "Verfügungsgewalt" zu retten, die
"ohne Gesetzesvorschrift und manchmal sogar gegen sie" ausgeübt werden könne.
Eine revolutionäre Diktatur für den Ausnahmezustand, der unvermeidlich mit der
Niederwerfung des Ancien Régime und dessen Versuchen der Rückeroberung der Macht
auftritt, wird von Marx ausdrücklich vorgesehen. Dem entspricht die von der
liberalen Tradition vorgesehene Diktatur, die die Drohung einer Revolution oder
eines Umsturzes durch die Volksmassen abwehren soll. Dank der Einrichtung der
Diktatur - unterstreicht Montesquieu - wurde im alten Rom das "Delirium der
Freiheit" neutralisiert: das souveräne Volk war gezwungen, "den Kopf zu senken
und die volksnahesten Gesetze blieben stumm"1.
Traditionellerweise werfen die Liberalen Marx vor, mit seiner theoretischen
Propagierung der Diktatur des Proletariats dem Terror oder dem Totalitarismus
Tür und Tor geöffnet zu haben. Lesen wir bei Marx, wie die englischen Liberalen
der revolutionären Agitation in Irland entgegentreten. Zur Verhinderung der
Verbreitung der Arbeiterinternationale setzt Gladstone einen regelrechten
"Polizeiterrorismus" ein (MEW, 18, S. 136). Über eine politische Organisation
und eine bestimmte soziale Gruppe hinaus wird ein ganzes Volk "nur durch die
Bajonette und den bald offnen, bald verhüllten Belagerungszustand" unter
Kontrolle gehalten (MEW, 23, S. 733), und zwar mit Hinrichtungen ohne Prozess
und mit den drastischsten Kriegsmaßnahmen (MEW, 11, S. 392, Anm.)
2. Hegel, Marx und die Kritik des liberalen Holismus
Bei anderer Gelegenheit wird der rigorosen Beachtung der Selbstständigkeit und
der Würde des Individuums, die der liberalen Tradition zugeschrieben wird, der
vorgebliche Holismus (oder Organizismus) von Hegel und Marx entgegengesetzt, für
schuldig befunden, das konkrete und einzelne Individuum auf dem Altar einer
unersättlichen Totalität oder eines willkürlich von der Geschichtsphilosophie
definierten Zweckes zu opfern. Auf die Zweideutigkeit und Unangemessenheit
dieser Kategorien soll hier nicht eingegangen werden. Es gibt zumindest einen
Punkt, wo sich die Seiten zu verkehren scheinen, in dem Sinne, dass Hegel die
Liberalen bezichtigt, das Individuum aus den Augen zu verlieren oder es auf dem
Altar des Allgemeinen opfern zu wollen. Die Verfechter des laissez faire
protestieren gegen das Eingreifen der politischen Gewalt auf ökonomischem Gebiet
mit dem Argument, dass die Wirtschaft, ihren Automatismen überlassen,
schließlich von selber, momentane Krisen und Störungen überwindend, ihr
Gleichgewicht wiederfinde. Hier Hegels Antwort: "Sagt man also: im Allgemeinen
wird sich das Gleichgewicht immer herstellen, so ist dies richtig. Aber es ist
hier ebenso ums Besondere als ums Allgemeine zu tun; die Sache also soll sich
nicht bloß im Allgemeinen machen, sondern die Individuen als Besonderheit sind
Zweck und haben eine Berechtigung." (V. Rph, III, S. 699)
Eine noch deutlichere Kritik am liberalen Holismus kann man bei Marx lesen. Im
Kapital entwickelt er die Kritik der liberalen Tradition, indem er einige ihrer
Propositionen aufs Korn nimmt: "Um die Gesellschaft glücklich [...] zu machen" -
schreibt Mandeville - "ist es nötig, daß die große Majorität sowohl unwissend
als arm bleibt"; "der sicherste Reichtum [besteht] aus einer Menge arbeitsamer
Armen". Dann gibt er Destutt de Tracy das Wort: "Die armen Nationen sind die, wo
das Volk gut dran ist, und die reichen Nationen sind die, wo es gewöhnlich arm
ist." (MEW, 23, S. 643 u. S. 677) Das ist die "Identität zwischen
Nationalreichtum und Volksarmut", die von Marx gebrandmarkt wird (MEW, 23, S.
753), der unermüdlich auf diesem Thema besteht: in der bürgerlichen Gesellschaft
ist "Nationalreichtum [...] nun einmal von Natur identisch mit Volkselend" (MEW,
23, S. 799). Deshalb suche der Ökonom "im Interesse des sog. Nationalreichtums
[...] nach Kunstmitteln zur Herstellung der Volksarmut" (MEW, 23, S. 793).
Die "Kritik der politischen Ökonomie", die den Leitfaden des Marxschen Denkens
bildet, und sogar zum Untertitel seines Hauptwerks wird, ist gerade die Kritik
des bürgerlichen und liberalen Holismus, der sich anmaßt, in Massen die
konkreten Individuen auf dem Altar jenes "grammatikalen Wesens", das
"Nationalreichtum" heißt, zu opfern (MEW, 8, S. 542). Ein Opfer, das manchmal
ungeheuerliche Ausmaße annimmt: "Die Hungersnot erschlug 1846 in Irland über
eine Menschenmillion, aber nur arme Teufel. Sie tat dem Reichtum des Landes
nicht den geringsten Abbruch." (MEW, 23, S. 731)
Oft wird Marx, als Geschichtsphilosoph abgestempelt, vorgeworfen, die konkreten
Individuen auf ein bloßes Mittel zur Erreichung der Ziele der Revolution
herabzusetzen, die er theoretisch ausgearbeitet und verfolgt hat. Aber sehen wir
uns einmal an, wie er das Verhalten der liberalen Bourgeoisie der industrieellen
Revolution gegenüber kritisiert: "In der Gesellschaft vollzieht sich eine
lautlose Revolution, vor der es kein Entrinnen gibt und die sich um die
menschlichen Existenzen, die sie zerbricht, ebensowenig kümmert wie ein Erdbeben
um die Häuser, die es zerstört. Unterliegen müssen jene Klassen und Rassen, die
zu schwach sind, die neuen Lebensbedingungen zu meistern. Kann es aber etwas
Kindischeres und Kurzsichtigeres geben als die Ansichten jener Ökonomen, die
allen Ernstes glauben, dieser jammervolle Übergangszustand bedeute nichts weiter
als die Anpassung der Gesellschaft an den Aneignungstrieb der Kapitalisten,
sowohl der Grundherren wie der Geldherren?" (MEW, 8, S 544)
Noch vor der Industrierevolution findet vom Ende des 16. bis zum Ende des 18.
Jahrhunderts in England eine Agrarrevolution statt, mit der Einzäunung des
Gemeindelands, seiner Umwandlung in Privatbesitz und der Vertreibung der Bauern,
die dadurch ihres Lebensunterhalts beraubt wurden, um Platz zu schaffen für
Schafweiden, die die im Entstehen begriffene Textilindustrie benötigte. Die
Aufmerksamkeit auf "die ganze Reihe von Raubtaten, Greueln und Volksdrangsalen"
lenkend, "welche die gewaltsame Volksexpropriation [...] begleiten", kritisiert
Marx heftig "die stoische Seelenruhe [des] politischen Ökonomen", der angesichts
dieser Tragödie sein gutes Gewissen mit einem recht einfachen Argument behält:
"Die richtige Proportion zwischen Acker- und Viehland mußte hergestellt werden."
(MEW, 23, S. 756)
Weit davon entfernt, sich auf ein "grammatikales Wesen" zu reduzieren, erweist
sich hier der "Nationalreichtum" als eine furchtbare und unersättliche
Wirklichkeit. Marx brandmarkt "den großen herodischen Kinderraub, den das
Kapital in den Anfängen des Fabriksystems an den Armen- und Waisenhäusern
verübte." (MEW, 23, S. 425, Anm. 144 und a. a. O.) Wir haben es mit einem
ungeheuerlichen "Moloch" zu tun, "dem, ohne auch nur zu murren, ganze
Völkerschaften geopfert werden müssen" (MEW, 8, S. 544). Das ist ein Motiv und
eine Metapher, die beständig wiederkehren und die sogar in den offiziellen
Dokumenten der Ersten Internationale auftaucht. In seiner Polemik gegen
diejenigen, die jede gesetzliche Regulierung der Arbeit in den Fabriken im Namen
des Liberalismus ablehnen, stellt Marx einen Vergleich an zwischen "der blinden
Herrschaft der Gesetze von Nachfrage und Zufuhr, welche die politische Ökonomie"
der Bourgeoisie konstituiere, und dem "mysteriosen Ritus der Religion des
Moloch", der den "Kindermord" fordere und in den modernen Zeiten eine "besondere
Liebhaberei für die Kinder der Armen" habe (MEW, 16, S. 11).
Rühmt die liberale Bourgeoisie den Westen als den Ort, wo die Anerkennung des
Individuums und seiner autonomen Würde ihre vollendete Verwirklichung findet,
dann amüsiert sich Marx mit einer impliziten Polemik gegen diese
Selbstverherrlichung, Bilder heranzuziehen, die auf die Geschichte und die
Religionen des Orients verweisen, um den unersättlichen Holismus zu attackieren,
der den Kapitalismus charakterisiere. Er zeichne sich durch eine
"Timur-Tamerlansche ‚Verschwendung' von Menschenleben" aus (MEW, 23, S. 279,
Anm. 103). Mit Bezug auf den Wagen des indischen Gottes Wischnu, von dem sich
die Gläubigen während der Prozessionen erdrücken ließen, brandmarkt Marx die
bürgerliche Gesellschaft als "das Juggernaut-Rad des Kapitals" (MEW, 23, S.
297). Wir haben es also mit einer orientalisch beeinflussten Religion zu tun,
die das "ununterbrochene Opferfest der Arbeiterklasse" bedeutet (MEW, 23, S.
511). Die Revolution wird nötig, um diese barbarischen Opfer abzuschaffen: "Erst
wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den
Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen
Kontrolle der am meisten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann
wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen
Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken
wollte." (MEW, 9, S. 226)
Mit dem Ausnahmezustand wird die Brutalität der liberalen Bourgeoisie noch
augenfälliger. In Irland bringt sie eine so grausame und terroristische Politik
voran, dass "in Europa [...] etwas Ähnliches unerhört" und nur unter den
"Mongolen" zu finden sei (MEW, 16, S. 552). Und auf die Selbstverherrlichung des
liberalen Westens als privilegiertem und exklusivem Ort der Freiheit, folgt
erneut der entmythisierende Gegenschlag von Marx. Angesichts der Gefahr, die sie
läuft, schrecke die sich ihres Liberalismus brüstende herrschende Klasse
allerdings nicht davor zurück, explizit die Notwendigkeit zu behaupten, den Teil
dem Ganzen zu opfern. Folgendermaßen formuliert Lord Palmerston die Ablehnung
der Religionsfreiheit für die katholischen Iren: "Die Gesetzgebung eines Landes
[hat] das Recht, einen Teil der Gemeinschaft zu derartiger politischer
Rechtlosigkeit zu verurteilen, wenn sie es zur Sicherheit und Wohlfahrt des
Ganzen für notwendig hält [...] Das gehört zu den fundamentalen Grundsätzen, auf
denen eine zivilisierte Regierung beruht." Hier taucht das Schlüsselwort des
Holismus (Sicherheit und Wohlfahrt des Ganzen) auf; es taucht bei einem
erstrangigen Exponenten des liberalen England auf und nicht bei Marx, der
dagegen polemisch gegen Lord Palmerston, die von diesem geforderte totale
Unterwerfung der "Masse des Volkes" unter das illusorische und mysthifizierende
Allgemeine verurteilt, das die "Gesetzgebung", "oder mit anderen Worten: die
herrschende Klasse" ist (MEW, 9, S. 361).
3. Der Ort der Herrschaft
Will man also die Gründe für das sympathetische Interesse von Marx und Engels
für Hegel verstehen, muss man einen anderen Ansatz versuchen. Im Mittelpunkt des
liberalen Denkens steht die Dichotomie Freiheit/Despotismus. Man sollte sich
daher einleitend nach dem Ort fragen, an dem der Despotismus, die Negierung der
Freiheit auftritt. In einem Text aus dem Jahre 1842 beobachtet Tocqueville:
"Überall dehnt die Gleichheit progressiv ihre Vorherrschaft aus, abgesehen von
der Industrie, die sich jeden Tag mehr in einer aristokratischen Form
organisiert"; der Lohnarbeiter befinde sich "in einer engen Abhängigkeit"
(étroite dépendence) vom Arbeitgeber. Trotz des faszinierenden liberalen und
egalitären Anscheins der "großen französischen Gesellschaft" insgesamt, sei die
Industriegesellschaft (société industrielle) im engeren Sinne weiterhin von
einer starren Hierarchie gekennzeichnet, die nicht nur der Gleichheit, sondern
auch der individuellen Freiheit derjenigen wenig Raum lasse, die sich auf den
untersten Stufen dieser Hierarchie befinden (OC, III, 2, S. 105-6).
Diese Analyse weist ein paar Übereinstimmungen mit der in den gleichen Jahren
von Marx entwickelten auf: "Während innerhalb der modernen Fabrik die
Arbeitsteilung durch die Autorität des Unternehmers bis ins einzelnste geregelt
ist, kennt die moderne Gesellschaft keine andere Regel, keine andere Autorität
für die Verteilung der Arbeit als die freie Konkurrenz [...] Man kann als
allgemeine Regel aufstellen: Je weniger die Autorität der Teilung der Arbeit
innerhalb der Gesellschaft vorsteht, desto mehr entwickelt sich die
Arbeitsteilung im Innern der Werkstatt und um so mehr ist sie der Autorität
eines einzelnen unterworfen. Danach steht die Autorität in der Werkstatt und die
in der Gesellschaft, in bezug auf die Arbeitsteilung, im umgekehrten Verhältnis
zueinander." (MEW, 4, S. 151)
Beide hier miteinander verglichenen Autoren sind sich wohl klar darüber, dass
die Machtverhältnisse in der kapitalistischen Fabrik, wesentliches Element der
bürgerlichen Gesellschaft, einerseits zu "enger Abhängigkeit" der beschäftigten
Arbeiter und andererseits zur praktisch souveränen "Autorität" des Besitzers
führen (später wird das Manifest der kommunistischen Partei explizit von
"Despotie" sprechen). Was allerdings die politischen Optionen betrifft, könnte
der Gegensatz nicht schärfer sein. Tocqueville geht so weit, den
"sozialistischen Doktrinen" die gesetzliche Regelung und die damit verbundene
Kürzung der Arbeitszeit ("le travail de douze heures") anzulasten, die daher
Gegenstand einer uneingeschränkten Verurteilung wird. (OC., VIII, 2, S. 38).
Gegen den Anspruch, "die Voraussicht und Weisheit des Staates an die Stelle der
individuellen Voraussicht und Weisheit" zu setzen, proklamiert der französische
Liberale, dass "es nichts gibt, das den Staat autorisiert, sich in die Industrie
einzumischen" und "das Individuum zu tyrannisieren", und zwar unter dem Vorwand
es "besser zu regieren" und es "vor sich selbst zu schützen" (OC., III, 3, S.
180).
Die Ablehnung jeglicher gesetzlichen Regelung der Arbeitszeit erscheint hier als
ein Kampf zur Verteidigung der Freiheit und der Menschenrechte: gehörte dazu
nicht auch die Möglichkeit für den Kapitalisten und den Arbeiter, ohne äußere
Einmischung einen Vertrag abzuschließen? Verständlich wird daher die Ironie von
Marx, der, zumindest in diesem Fall, die Kompromissfähigkeit der englischen
herrschenden Klasse positiv bewertet: "An die Stelle des prunkvollen Katalogs
der ‚unveräußerlichen Menschenrechte' tritt die bescheidne Magna Charta eines
gesetzlich beschränkten Arbeitstags" (MEW, 23, S. 320). Beim Vergleich zwischen
Marx und Tocqueville scheinen sich jetzt die Seiten zu verkehren. In diesem
Falle erweist sich der Erste als anglophiler als der Zweite: "Frankreich hinkt
langsam hinter England her. Es bedarf der Februarrevolution zur Geburt des
Zwölfstundengesetzes, das viel mangelhafter ist als sein englisches Original".
Das Kapital fügt jedoch hinzu: "Trotzdem macht die französische revolutionäre
Methode auch ihre eigentümlichen Vorzüge geltend. Mit einem Schlag diktiert sie
allen Ateliers und Fabriken ohne Unterschied dieselbe Schranke des Arbeitstags,
während die englische Gesetzgebung bald an diesem Punkt, bald an jenem, dem
Druck der Verhältnisse widerwillig weicht und auf dem besten Weg ist, einen
neuen juristischen Rattenkönig auszubrüten." (MEW, 23, S. 317-8)
Diese Aussage hätte Tocqueville in seiner Überzeugung bestätigt, dass der
gesetzlichen Regelung der Arbeitszeit Despotismus anhaftet; Marx dagegen
beurteilt den französischen Liberalen nicht anders als jene englischen
Liberalen, die - so spottet Das Kapital - unermüdlich "die Sklaverei der
Fabrikakte" kritisierten, und gegen sie die "vollkommne Freiheit der Arbeit"
forderten (MEW, 23, S. 317).
Ganz anders argumentiert Marx, der die abolitionistische Bewegung und den
Sezessionskrieg ("das einzig großartige Ereignis der Zeitgeschichte") der
Agitation für die Regelung und Kürzung der Arbeitszeit an die Seite stellt, die
in England ihren Mittelpunkt hat. Es handelt sich um zwei Momente eines einzigen
Emanzipationskampfs der Arbeit, sei sie nun "in schwarzer Haut" oder in "weißer
Haut" (MEW, 23, S. 270, Anm. 90 u. S. 318). Es ist ein Kampf, der nicht nur die
"Sklaverei sans phrase in der neuen Welt", sondern auch "die verhüllte Sklaverei
der Lohnarbeiter in Europa" infrage stellt (MEW, 23, S. 787). Im Übrigen werden
der Obstruktionismus und die subversive Haltung der englischen Kapitalisten
gegen die Gesetzgebung über die Fabrikarbeit vom Kapital als "eine Proslavery
Rebellion in Miniatur" abgestempelt (MEW, 23, S. 302).
Aber schon bei Hegel finden sich alle notwendigen theoretischen Voraussetzungen,
um den Kampf für die Regelung und Kürzung der Arbeitszeit als einen Kampf für
die Freiheit hinzustellen: "Durch die Veräußerung meiner ganzen durch die
Arbeit konkreten Zeit und der Totalität meiner Produktion würde ich das
Substantielle derselben, meine allgemeine Tätigkeit und Wirklichkeit, meine
Persönlichkeit zum Eigentum eines anderen machen." (Rph., § 67)
Noch eloquenter sind vielleicht die entsprechenden Stellen in den Vorlesungen:
"Durch die Veräußerung also meiner ganzen konkreten Zeit, erfüllt durch meine
Arbeit, oder die Produktion in ihrer Totalität, wird auch das Ganze mit
veräußert [...] Meine Persönlichkeit ist also nur erhalten, wenn nur ein Teil
meiner Besonderheit durch die Zeit beschränkt veräußert wird." (V. Rph., 3, S.
254).
Direkt oder indirekt beeinflusst diese Lektion die Marxsche positive
Beschreibung des "vielhundert-jährigen Kampfes" (MEW, 23, S. 286) des Arbeiters,
sich nicht "seinen ganzen Lebtag" auf Arbeitskraft reduzieren zu lassen, nicht
eine weitere "Verkürzung seiner Lebenszeit" zu erfahren. Das Kapital zitiert und
unterschreibt die Klage der englischen Arbeiter über die ihnen aufgezwungenen
Bedingungen, "daß die unter dem jetzigen System erheischte Länge der Arbeitszeit
zu groß ist und dem Arbeiter keine Zeit für Erholung und Entwicklung läßt, ihn
vielmehr auf einen Zustand der Knechtschaft herabdrückt, der wenig besser als
die Sklaverei ist" (MEW, 23, S. 318-9, Anm. 196).
4. Die Eingrenzung der
politischen Sphäre
Verlassen wir jetzt die Fabrik und
folgen dem Arbeiter, der nach einem langen Arbeitstag nach Hause zurückkehrt.
Speziell auf das Industriegebiet von Manchester Bezug nehmend, merkt Tocqueville
an, dass die Arbeiterviertel wie ein "verseuchtes Labyrinth" erschienen, ein
"Inferno" seien: die elenden Hütten sähen aus wie "das letzte Obdach, das ein
Mensch zwischen der Armut und dem Tod beziehen kann. Trotzdem erwecken die
unglücklichen Wesen, die diese Löcher bewohnen, den Neid einiger ihrer
Artgenossen. Unter ihren elenden Wohnstätten gibt es eine Reihe von Höhlen, zu
denen ein halbunterirdischer Korridor führt. In einem jeden dieser feuchten und
abstoßenden Örtlichkeiten sind durcheinander zwölf oder fünfzehn Menschenwesen
angesammelt."
Das erschreckende Massenelend steht in krassem Gegensatz zur Opulenz Weniger:
"Die organisierten Kräfte einer Menge produzieren zum Vorteil eines Einzelnen."
Dieses Spektakel führt zu einem recht bedeutenden Ausruf: "Hier der Sklave, dort
der Herr, dort der Reichtum Weniger, hier die Armut der größten Zahl." (OC., V,
2, S. 80-2) Es handelt sich um eine Sklaverei, die jedoch in der bürgerlichen
Gesellschaft auftritt, und die daher, von Tocquevilles Gesichtspunkt aus, keine
reale politische Relevanz hat, und sicher nicht durch das Eingreifen des Staates
in eine per Definition unverletzliche Sphäre abgeschafft werden kann. Deshalb
wird als Ausdruck von Sozialismus und Despotismus jede Gesetzesmaßnahme
abgelehnt, die unter dem Vorwand, das "Elend" der "unteren Klassen" zu lindern,
dazu auffordert, "die Eigentümer zu zwingen, ihre Wohnräume unter dem Marktpreis
zu vermieten" (OC., XV, 2, S. 182).
Anders und entgegengesetzt ist die Haltung von Marx. In den Manuskripten der
Jugendzeit beschäftigt auch er sich mit den "Kellerwohnungen in London", aber um
den "ungeheuren Gewinn" zu brandmarken, den die "Hausvermieter" aus dem "Elend"
der Arbeiter ziehen (diese wirkliche Quelle des "nationalökonomisch" gefeierten
"gesellschaftlichen Reichtums") und um eine politisch-soziale Ordnung unter
Anklage zu stellen, die sich auf die "Gleichgültigkeit gegen die Menschen" in
ihrer Konkretheit gründet (MEW, Erg. Bd. 1, S. 497 u. S. 552). Später wird
Engels in der "Wohnungsfrage" ein wesentliches konstitutives Element der
sozialen Frage und das heißt der "Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden
Klasse durch die herrschende Klasse" ermitteln (MEW, 18, S. 213 ff.).
Abschließend kann gesagt werden: Tocqueville beschreibt die kapitalistische
Fabrik und die bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit nicht weniger realistisch
oder dramatisch als Marx und Engels. Und dennoch verschwindet beim französischen
Liberalen die realistiche oder dramatische Analyse wie von Zauberhand, wenn es
darum geht, eine politische Gesamtbilanz zu ziehen: Wir haben es mit dem Land zu
tun, das Frankreich zum Modell erküren müsse, wenn es "die Zukunft der freien
Insititutionen" retten möchte (OC., V, 2, S. 84). Sind das Elend und die
Verhältnisse "enger Abhängigkeit" oder sogar der Sklaverei erst einmal in eine
Sphäre ohne politische Relevanz relegiert (weil sie das Privatleben betreffen
oder auf die ewige Vorsehung verweisen) in eine Sphäre, in die man sich mit der
politischen Aktion nicht einmischen darf oder kann, dann verkehrt sich das
eingangs so trübe und abstoßende Bild Manchesters in sein Gegenteil: "In der
äußeren Erscheinung der Stadt bezeugt alles die individuelle Stärke des
Menschen, nichts die reguläre Gewalt der Gesellschaft. Bei jedem Schritt legt
die Freiheit ihre launische und schöpferische Kraft an den Tag. Nirgendwo zeigt
sich die langsame und kontinuierliche Aktion der Regierung." (OC., V, 2, S. 80)
Noch vor Marx kommt Hegel das Verdienst zu, hervorgehoben zu haben, dass die
materielle Ungleichheit, wenn sie ein bestimmtes Niveau erreicht, auch die
Freiheit zunichte macht: weil die Not "den ganzen Umfang der Realiserung der
Freiheit angreift" (V. Rph., 4, S. 342), die "totale Rechtlosigkeit" mit sich
bringt (Rph., § 127), letztendlich gleichbedeutend mit Sklaverei ist.
Die Heilige Familie fasst folgendermaßen ihre Kritik am bürgerlich-liberalen
Staat zusammen: in seiner entwickeltsten Form, wenn er die
Zensus-Diskriminierung der Wahl abgeschafft, und die Umwandlung der politischen
Klassen des Ancien régime in Klassen der bürgerliche Gesellschaft zu Ende
geführt hat, beschränke er sich darauf, "die Augen [zuzudrücken] und erklärt
wirkliche Gegensätze für unpolitische, ihn nicht genierende Gegensätze" (MEW, 2,
S. 101). Analog argumentiert die Kritik des Hegelschen Staatsrechts: "Indem
Hegel die bürgerliche Gesellschaft als Privatstand bezeichnet, hat er die
Ständeunterschiede der bürgerlichen Gesellschaft für nichtpolitische
Unterschiede erklärt" (MEW, 1, S. 280), die "nur eine Privatbedeutung in bezug
auf den Staat, keine politische Bedeutung haben" (MEW, 1, S. 282). Diese
Assimilierung ist jedoch eindeutig eine Verzerrung: wie soll man dann den
Vergleich zwischen dem Hungernden und dem Sklaven erklären? Und wie soll man die
Hegelsche Theorie der unverzichtbaren "materiellen Rechte" erklären (B. Schr. S.
488)? Hegel wirft dem Liberalismus vor, sich ausschließlich um die "ungestörte
Sicherheit der Person und des Eigentums" zu kümmern, ohne das Problem des "Wohls
jedes Einzelnen", des "besonderen Wohls" zu erwägen (Rph., § 230). Die
Theoretiker des laissez-faire verfechten die These, die Krise ganzer
ökonomischer Sektoren "ginge den Staat nichts an", denn "wenn auch einzelne
zugrunde gingen, so hebe sich dadurch das Ganze", aber Hegel entgegnet, dass
jedes einzelne Individuum, "jeder das Recht zu leben" habe (Rph. I, § 118 A).
Die Kritik des liberalen Holismus ist zugleich die Kritik einer Doktrin und
einer politischen Ordnung, die den materiellen Lebensbedingungen der konkreten
Individuen keine Achtung schenken. Es handle sich "darum, daß das Individuum
auch nach seiner Besonderheit als Person betrachtet wird" (Rph., III, 188); es
sei jedoch unmöglich, es in seiner Besonderheit zu betrachten, wenn man von
seinen materiellen Bedürfnissen abstrahiere.
Zweifellos macht sich Marx die Hegelsche Lehre zunutze, wenn er die liberale
Einschränkung der politischen Sphäre kritisiert. Diese Einschränkung scheint bei
Tocqueville ihren vollendetsten Ausdruck zu finden. Am Vorabend der 48er
Revolution beobachtet er besorgt das Verhalten der "Arbeiterklassen": dem
Anschein nach seien sie ruhig, nicht mehr von den "politischen Leidenschaften
gequält"; leider hätten sich "ihre Leidenschaften von politischen in soziale
verwandelt" (OC., III, 2, S. 750). Die soziale Frage, das Massenelend, die
Verteilung des Reichtums, die Eigentumsverhältnisse: alles das stehe der
politischen Sphäre fern. Inzwischen sorge man sich "um die sozialen Reformen, um
die Güter mehr noch als um die Freiheiten"; leider seien die "glühenden
Überzeugungen" und die "wahre politische Leidenschaft" verschwunden (OC., III,
2, S. 104). Die "herrschende Leidenschaft", sei von einer "politischen" zu einer
"industriellen geworden" (OC., III, 2, S. 101). In dem von Tocqueville so
bewunderten und geliebten Amerika verbirgt er sich nicht die von den Armen
erlittene diskriminierende Behandlung: sogar als Zeugen würden sie bis zum
Abschluss des Gerichtsverfahrens ins Gefängnis gesteckt. So bleibe "in dem
gleichen Land, in dem der Kläger ins Gefängnis kommt, der Dieb in Freiheit, wenn
er eine Kaution bezahlen kann". Das Urteil Tocquevilles ist ziemlich streng,
aber er beeilt sich, diese Praxis unter die "Zivilgesetze" (lois civiles) und
nicht unter die "politischen Gesetze" (lois politiques) einzureihen; aus diesem
Grund habe "die Masse der amerikanischen Juristen" nichts dagegen einzuwenden,
und sie erblicke darin auch keinen Widerspruch zur "demokratischen Verfassung"
(OC., IV, 1, S. 325).
Es steht also fest: die politische Sphäre wird der "sozialen", "industriellen"
oder "bürgerlichen" Sphäre entgegengesetzt, mit dem paradoxen Resultat, dass
sogar die unterschiedliche und tadelnswerte Behandlung der Reichen und der Armen
in den Vereinigten Staaten tendenziell aus dem politischen Bereich im engeren
Sinn ausgeschlossen wird.
5. Der Konflikt der Freiheiten
Da nicht nur der Staat, sondern auch
die bürgerliche Gesellschaft Ort der Herrschaft und der Unterdrückung sein kann,
kann sich ein Konflikt entwickeln zwischen dem Bedürfnis der Emanzipierung vom
Staat, das die bürgerliche Gesellschaft insgesamt oder ihre hegemonische Klasse
verspürt, und dem Emanzipationsbedürfnis der schon im Bereich der bürgerlichen
Gesellschaft unterdrückten sozialen Schichten, die in ihrem Kampf gegen die
Unterdrückung durch die hegemonischen Klasse an den Staat appellieren. Dies ist
der Konflikt der Freiheiten. Adam Smith lenkt die Aufmerksamkeit auf diesen
Punkt. Er merkt an, dass die Sklaverei leichter "unter einer despotischen
Regierung" als unter einer "freien Regierung" abgeschafft werden könne, in der
"jedes Gesetz von ihren [der Sklaven] Herren verabschiedet wird, die niemals
eine für sie nachteilige Maßnahme durchgehen lassen werden". Mit Blick auf die
englischen Kolonien in Amerika, wo es eine Art lokale Selbstregierung durch die
oft sklavenbesitzenden weißen Siedler gibt, und wo gerade der liberale Locke
auch auf verfassungsmäßiger Ebene den Grundsatz der "absoluten Gewalt und
Autorität" eines jeden "freien Mannes" "über seine schwarzen Sklaven" verbürgt
sehen will2,
mit Blick auf diese Realität, merkt Smith an: "Die Freiheit des freien Mannes
ist die Ursache der großen Unterdrückung der Sklaven. Und da sie den
zahlreichsten Anteil der Bevölkerung stellen, wird keine mit Humanität
ausgestattete Person die Freiheit in einem Land herbeiwünschen, in dem diese
Institution besteht."3
Zu Denken gibt die hier indirekt von Smith zum Ausdruck gebrachte Präferenz für
die "despotische Regierung", die einzige in der Lage, die Institution der
Sklaverei abzuschaffen. Der Konflikt, mit dem wir es hier zu tun haben, ist
nicht der zwischen "formeller" und "substanzieller" Freiheit, wie in der
marxistischen Vulgata; und auch nicht der, der die Verteidiger und Feinde der
"negativen Freiheit", von der Berlin spricht, oder der "offenen Gesellschaft",
von der Popper spricht, einander gegenüberstellt. In dem hier untersuchten Fall
ist der Konflikt ein ganz anderer. Infrage gestellt wird weder der Wert der
"formellen" oder "negativen" Freiheit, noch der Wert der politischen Freiheit
(und der lokalen Selbstregierung). In einer konkreten und bestimmten Situation
erweist sich die Forderung nach der "negativen" und mehr noch nach der
politischen Freiheit in hoffnungslosem Widerspruch zur lokalen Selbstregierung
und zur politischen Freiheit der Sklavenbesitzer. In der Tat wird viele
Jahrzehnte später die Sklaverei im Süden der Vereinigten Staaten erst nach einem
blutigen Krieg und der darauffolgenden, von der Union den sezessionistischen und
Sklavenhalter-staaten aufgezwungenen Militärdiktatur abgeschafft. Und man
braucht nur ein paar der damaligen "demokratischen", das heißt die Sklaverei
befürwortende Pamphlete zu lesen, um sich ein Bild von den jakobinischen
Methoden Lincolns zu machen, der beschuldigt wird, "Militärregierungen" und
"Militärgerichte" eingesetzt, und "das Wort ‚Gesetz'" als den "Willen des
Präsidenten" interpretiert zu haben, und den habeas corpus als die "Macht des
Präsidenten, jeden und so lange es ihm beliebt einzusperren"4.
Nach dem Verzicht auf die eiserne Faust seitens der Union, sehen sich die Weißen
erneut den habeas corpus und die lokale Selbstregierung anerkannt, aber den
Schwarzen werden nicht nur die politischen Rechte entzogen, sondern sie werden
einem Regime der Apartheid, sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen und der
Lynchjustiz unterworfen, das heißt einem Regime, das für die ehemaligen Sklaven
paraktisch weiterhin den Ausschluss von der negativen Freiheit mit sich bringt.
Man könnte sagen, dass der Konflikt der Freiheiten der Leitfaden der Hegelschen
Interpretation der modernen Geschichte ist. Im Ancien régime führe die "Freiheit
der Barone" zur "absoluten Knechtschaft" der "Nation" und verhindere die
"Befreiung der Hörigen". Deshalb ist "das Volk [...] überall durch die
Unterdrückung der Barone befreit worden" (Ph. G., S. 902-3). Der Adel verspüre
den Verlust des Privilegs, das ihn beispielsweise zum einzigen Verwahrer der
Rechtspflege machte, als "ungehörige Gewalttätigkeit, Unterdrückung der Freiheit
und Despotismus" (Rph., § 219 A). Hegel, der Hallers Polemik gegen die
"despotischen" antifeudalen Gesetze sehr wohl gegenwärtig hat (B. Schr., S. 680)
spricht selbst ohne Bedenken von "Despotismus", allerdings mit einer anderen und
entgegengesetzten Bedeutung: "Die Revolutionen gehen nun entweder vom Fürsten
oder vom Volk aus. So hat der Kardinal Richelieu die Großen unterdrückt und das
Allgemeine über sie erhoben. Dies war Despotismus, aber die Unterdrückung der
Vorrechte der Vasallen war das Wahre." (Rph. I, § 146 A) Der hier verteidigte
"Despotismus" ist der revolutionäre, antifeudale Despotismus, was auch von der
Rühmung jener "ungeheuren Revolution" bestätigt wird, an der Friedrich II.
beteiligt war, und die zum "Verschwinden der Bestimmung von Privateigentum,
Privatbesitz in Bezug auf den Staat" geführt habe (V. Rph., 4, S. 253). Wie man
besonders am Beispiel Richelieus gesehen hat, ist dieser Despotismus ein Moment
der Verwirklichung der Allgemeinheit und bildet gerade deshalb eine
koninuierliche Linie mit den nachfolgenden Revolutionen von unten; nachdem es
zum ersten Mal in den Reformen in Erscheinung getreten war, die von oben den
Abbau der Hörigkeit erzwingen und nachdem es sich in der amerikanischen
Revolution durchgesetzt hatte, befestigte sich "das Prinzip der allgemeinen
Grundsätze [...] in dem französischen Volke und brachte dort die Revolution
hervor" (Ph. G., p. 920).
Die positive Bewertung des antifeudalen Despotismus ignoriert oder unterschätzt
nicht die damit verbundenen Kosten, sie verdrängt also nicht die Tatsache, dass
wir es weiter mit einem Konflikt der Freiheiten zu tun haben. Dies wird außerdem
von der Analyse des Übergangs im alten Rom von der Monarchie zur Republik und
von der Republik zum Kaiserreich bestätigt. Weit davon entfernt, das
"Allgemeine" zu repräsentieren, repräsentiert der republikanische Senat,
Ausdruck jener Patrizier, die eine Monarchie gestürzt hatten, die von ihnen
beschuldigt wurde, sich den Plebejern gegenüber zu wohlwollend zu verhalten, das
"Partikuläre" und das heißt, die Interessen der Aristokratie; Cäsar überwindet
dagegen, zwar mit Rekurs auf "Gewalt", die "Partikularität" und bringt das
"Allgemeine" zur Geltung (Ph. G., S. 690-93 und S. 711-12). Den gleichen Weg
einschlagend, komme später Caracalla das Verdienst zu, "alle Unterschiede
zwischen den Untertanen des ganzen Römischen Reiches aufgehoben" und die
"Gleichheit der Bürger" sanktioniert zu haben. Ja, "der Despotismus ist es, der
die Gleichheit einführt". Es handle sich aber um die "abstrakte" Freiheit des
"Privatrechts". Auf "Privatpersonen" reduziert, seien die Individuen von
jeglicher politischer Beteiligung ausgeschlossen. Zwischen dem Kaiser und dem
"Volk" "fehlte eine rechtliche und sittliche, d. i. eine Organisation des
Staates, das Band einer Verfassung, die eine Ordnung für sich berechtigter
Kreise des Lebens in den Gemeinden und Provinzen bildet, die für das allgemeine
Interesse tätig, auf die allgemeine Staatsverwaltung einwirken" (Ph. G., S.
716-7). Mit dem Kaiserreich hat das reiche politische Leben einer Republik
aufgehört, selbst wenn diese von einer Aristokratie beherrscht wurde, die
unbeirrt an einer Ordnung festhielt, die sich auf die Unterdrückung der Plebs
stützte; allerdings sind die Rechtsgleichheit und die Freiheit der Privatperson
auf den Trümmern einer republikanischen Freiheit eingeführt worden, in deren
Genuss nur ein enger Kreis von Privilegierten und Unterdrückern gekommen war.
Es ist der Konflikt der Freiheiten, den wir kennen, und den Hegel systematischer
in seiner Analyse des "Notrechts" theoretisch fasst. Der Hungernde, der sich in
Lebensgefahr befindet, hat das Recht, ein Stück Brot zu stehlen, das ihm das
Überleben zusichert. Gewiss verletzt er auf diese Weise beim Bestohlenen den
freien Genuss seines Eigentums; dennoch ist dieser Diebstahl der Versuch, einer
Situation zu entfliehen, die von "totaler Rechtlosigkeit" gekennzeichnet ist.
Auf dem Konflikt der Freiheiten, der sich in diesem Fall ergibt, besteht Hegel
energisch: "Es steht hier ein zwiefaches Unrecht gegenüber, und die Frage ist,
welches als das größere anzusehn. Das geringere ist gegen das höhere ein
Unrecht". Das Opfer des Lebens vor dem Eigentum abzulehnen, bedeute das höchste
Unrecht zu verhindern; "streng" das "strenge Recht" gegen das Notrecht geltend
machen, bedeute, das "Unrecht" oder jedenfalls das höchste Unrecht geltend
machen (V. Rph., III, S. 403 u. S. 405). Es ist ein Konflikt der Freiheiten, den
Hegel sich auch auf logischer Ebene zu überprüfen bemüht. Der Hungernde, der das
Eigentum verletzt, spricht über den bestohlenen Eigentümer ein einfach-negatives
Urteil aus, das nicht seine Rechtsfähigkeit infrage stellt;
Eigentumsverhältnisse, die den Hungernden aussichtslos verurteilen wollen,
sprechen ein negativ-unendliches Urteil über ihn aus, sie aberkennen ihm nicht
ein besonderes und begrenztes Recht, son-dern die Gesamtheit der Rechte, sie
üben praktisch die gleiche Gewalt über ihn aus, die ein Krimineller ausüben
könnte5.
6. Verdrängung des Konflikts der Freiheiten und psychologi-sches und
anthropologisches Abgleiten
Die konkrete historische Lage, in der die politische Aktion stattfindet, ist
oft von einem Konflikt der Freiheiten und der Rechte gekennzeichnet. Es gibt ein
Paradebeispiel, das Hegel der griechischen Tragödie entnimmt. Der Konflikt
zwischen Antigone und Kreon ist die Kollision zwischen zwei "sittlichen
Mächten". Antigone repräsentiert die "Familienliebe", die Anhänglichkeit an die
Gefühle und die natürlichen Bindungen der Verwandtschaft, Kreon verkörpert das
"Gesetz des Staats", die Objektivität der Rechtsnorm. Unter normalen Bedingungen
leben beide Mächte in einer übereinstimmenden und problemlosen Einheit zusammen,
aber es können Konfliktsituationen auftreten, die zu einer schmerzlichen, ja
sogar tragischen Wahl zwingen. "Kreon ist nicht ein Tyrann, sondern ebenso eine
sittliche Macht". Deshalb ist die Antigone von Sophokles das "absolute Exempel
der Tragödie" (W, 17, S. 133). Und die Tragödie ist das Modell, die geeignetste
Literaturgattung, um die großen historischen Konflikte zu verstehen. Gerade weil
Hegel beständig den Konflikt der Freiheiten im Auge hat und hervorhebt, dass
Cäsar es ist, der die Allgemeinheit verkörpert, anerkennt er problemlos, dass
Brutus, Cäsars Mörder, ein "höchst edles Individuum" ist: die "edelsten Männer
Roms" nähren die Illusion, dass es genüge, eine einzelne Person zu eliminieren,
um eine republikanische Freiheit zu retten, die von jeher das Instrument einer
begrenzten privile-gierten Schicht, und jetzt zu "leerem Formalismus" geworden
ist (Ph. G., 712).
Der Kontrast zur liberalen Tradition wird jetzt deutlicher. Ganz anders als
Hegel drückt sich Montesquieu über Richelieu aus: "Dieser Mann hätte den
Despotismus im Gehirn gehabt, wenn er ihn nicht schon im Herzen gehabt hätte."
Ähnlich argumentiert Constant, wie aus seiner Verurteilung der Bemühung Ludwigs
XIV. hervorgeht, "die Autorität der Parlamente, des Klerus, aller mittleren
Organisationen zu zerstören". Die hier verteidigten mittleren Organisationen
sind natürlich nicht die Gewerkschaften oder die Korporationen, die von der
liberalen Tradition als Störelement und als Instrument der Überwältigung der
Vertragsfreiheit und der freien Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft
wahrgenommen werden, sondern die verschiedenen Machtzentren des Feudaladels und
des feudalen und bürgerlichen Eigentums. Die Stellungnahme von Montesquieu und
Constant ist auch die von Madame de Staël, nach der Richelieu und die absolute
Monarchie ungerechterweise die Freiheit zerstörten, die das alte Frankreich
genossen habe. Nach Abschaffung der Leibeigenschaft reduziert sich alles auf den
Konflikt zwischen Freiheit und Despotismus. Was das alte Rom anbetrifft,
skizziert Montesquieu folgendermaßen den Zusammenstoß zwischen der Senatspartei
(Sulla und Brutus) und der Volkspartei (Marius und Cäsar): einerseits die
"Partei der Freiheit", andererseits "die Angriffe eines ebenso wütenden wie
blinden Pöbels"6.
Ähnlich sieht Tocqueville die Konflikte in Bezug auf die Arbeitszeiten und -
modalitäten in der Fabrik, und auf die Wohnungsmieten als einen Zusammenstoß
zwischen despotischer Manie der Reglementierung und Verteidigung der Freiheit.
In diesem Zusammenhang spielen die materiellen Lebensbedingungen
der römischen Plebs, der Leibeigenschaft im Ancien Régime oder des modernen
Proletariats keinerlei Rolle, und auch nicht die Macht- Herrschafts- und
Unterdrückungsverhältnisse, die in der bürgerlichen Gesellschaft zwischen den
höheren und den niedrigen Klassen gelten. Wir können somit die von Popper und
seinen Anhängern gepflegte Geschichtsphilosophie verstehen: die ganze
Weltgeschichte reduziert sich auf den Konflikt zwischen Freunden und Feinden
der offenen Gesellschaft. Abgesehen vom Manichäismus zeichnet sich diese
Auffassung durch das psychologische und anthropologische Abgleiten aus: nicht
konkrete politisch-soziale Subjekte mit ihrer Forderung nach Freiheit und
bestimmten Rechten werden als Feinde der offenen Gesellschaft angegeben,
sondern der Tendenz nach unangepasste und zuinnerst autoritäre Individuen oder
Massen von Individuen. So etwa wird Richelieu von Montesquieu beschrieben. Und
so beschreibt Tocqueville diejenigen, die die „heilige Sache“ der Freiheit
profanierend (OC., V, 2, S. 91), sich ihrer bedienten, um materielle Forderungen
zu stellen: „Wer in der Freiheit etwas anderes sucht, ist zum Dienen bestimmt.“
(OC., II, 1, S. 217)
7. Die zwei Liberalismen
Mit seinem Ruf nach einer starken Zentralmacht in antifeudalem Sinne spricht
Hegel folgerichtig auch über die Wahlmonarchie in Polen ein negatives Urteil aus
(Rph., § 281 A). In dieser Kritik erblickt Ilting eine Stellungnahme zugunsten
des "monarchischen Prinzips" und letztlich der Ideologie der Restauration7!
In Wahrheit wird die Wahlmonarchie noch schärfer von Marx verurteilt, der in ihr
ein Instrument nicht nur des polnischen Feudaladels, sondern auch der
zaristischen Autokratie und deren Expansionismus verdammt. Die "republikanische
Freiheit", die von den Anhängern des "Wahlkönigreichs" und den Gegnern einer
starken Zentralmacht so hoch gerühmt wird, erweise sich bei einer genaueren
Analyse als "Adelsdemokratie" mit der Unterjochung der Leibeigenen8.
Die Ideologie der Restauration hat gar nichts damit zu tun! Können wir
wenigstens von klarer und eindeutiger Antithese der liberalen Tradition
gegenüber reden? Kehren wir zu Adam Smith zurück. Hinsichtlich der
Leibeigenschaft in Osteuropa macht er eine Beobachtung, die der schon
besprochenen hinsichtlich der Sklaverei in Amerika ähnelt. Es stimmt, die
"Leibeigenschaft" besteht weiterhin "in Böhmen, Ungarn und in jenen Ländern, in
denen der Souverän gewählt wird und er folglich nie eine große Autorität haben
kann"9.
Die Wahlmonarchie wird also auch von
dem bedeutenden liberalen Ökonomen verurteilt, der als Gegengewicht zur
"Freiheit" der großen Lehensherren oder der Sklavenbesitzer die "große
Autorität" eines Erbmonarchen anempfiehlt, und er ist bekanntlich sogar bereit,
eine "despotische Regierung" zu akzeptieren, was Amerika anbetrifft.
Wie man sieht, kann die Fahne der Freiheit auch vom Feudaladel und sogar von den
Sklavenbesitzern hochgehalten werden. Darüber ist sich Hegel sehr wohl im
Klaren, wenn er vor der Parole "Freiheit" warnt, die von den Großgrundbesitzern
ausgegeben wird, und zu dem Schluss kommt: "Man muss, wenn von Freiheit
gesprochen wird, immer wohl achtgeben, ob es nicht eigentlich Privatinteressen
sind, von denen gesprochen wird." (Ph. G., S. 902) Diese Schlussfolgerung
erweckt das Interesse und sogar den Enthusiasmus von Lenin, der darin, wegen der
gebührenden Aufmerksamkeit für die "Klassenverhältnisse", "Ansätze des
historischen Materialismus" entdeckt10.
Auch der russische Revolutionär warnt, wie Hegel, und im Gegensatz zu
Tocqueville, vor den Zweideutigkeiten der Kategorie Freiheit: "Freiheit ist ein
großes Wort, aber unter dem Banner der Freiheit der Industrie wurden die
räuberischsten Kriege geführt, unter dem Banner der Freiheit der Arbeit wurden
die Werktätigen ausgeplündert."11
Tatsächlich rechtfertigt und rühmt John Stuart Mill den Opiumkrieg als Kreuzzug
für die Freiheit.: "Das Verbot, Opium nach China einzuführen" verletze mehr noch
"die Freiheit [...] des Käufers" als die "des Erzeugers oder des Verkäufers"12.
Immer im Namen der Freiheit, gegen die "moralische Polizei, die manchmal zur
physischen wird" und die von der Gewerkschaftsbewegung ausgeübt werde,
verurteilt der englische Liberale die Versuche der Arbeiter, die Akkordarbeit
abzuschaffen oder einzugrenzen13.
Bekanntlich verurteilt Smith die Wahlmonarchie wegen der unbegrenzten Macht, die
sie der Feudalaristokratie zuerkennt. Sollten wir also auch Smith zusammen mit
Hegel und Marx (und Lenin) unter die Gegner des Liberalismus und der offenen
Gesellschaft einreihen? Bevor wir diese Frage beantworten, können wir eine von
Bismarck formulierte Unterscheidung anführen. Er erklärt, er habe seine
"Abneigung gegen die Herrschaft der Bürokratie" von der "ständisch-liberalen
Stimmung" her entwickelt, die unter den Junkern und unter dem Adel des
vorrevolutionären Preußen weit verbreitet gewesen sei: von diesem Liberalismus
müsse man allerdings - fügt Bismarck sogleich hinzu - den
"rheinisch-französischen Liberalismus" oder den "Geheimratsliberalismus" streng
getrennt halten, der einschneidenen antifeudalen Reformen von oben zugeneigt
sei, und an dem sich eine unterdrückerische und erstickende Staatsbürokratie
inspiriere, mit ihrer "Neigung [...] für Nivellierung und Zentralisierung" und
sogar zur "geheimrätlichen Allgewalt". Nicht selten entlarve sich der
Staatsbeamte schließlich als "Königlich Preußischer Hofjakobiner", der mit der
Idee von einer Art "roten Demokratie" liebäugle!14
Es ist interessant festzustellen, dass man eine ähnliche Unterscheidung beim
jungen Marx vorfindet. Die von ihm geleitete "Rheinische Zeitung" nennt sich
eine "liberale Zeitung", ist aber darauf bedacht, zu präzisieren, dass dieser
Liberalismus keineswegs mit dem "gewöhnlichen Liberalismus" verwechselt werden
dürfe. Wenn letzterer "alles Gute auf Seite der Stände und alles Böse auf Seite
der Regierung gesehn" hatte, dann zeichne sich die "Rheinische Zeitung" durch
ihre Bemühung aus, die Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse in ihrer
konkreten Konfiguration zu analysieren und ohne Bedenken, unter bestimmten
Bedingungen, "die allgemeine Weisheit der Regierung gegen den Privategoismus der
Stände" hervorzuheben, welche oft von den feudalen Schichten und von einer
engstirnigen und kurzsichtigen Großbourgeoisie monopolisiert würden. Im
Gegensatz zum "gewöhnlichen Liberalismus" und weit davon entfernt, "einseitig
die Bürokratie" zu bekämpfen, anerkennt sie problemlos deren Verdienste im Kampf
gegen die "romantische Richtung" oder die romantisch-feudale Richtung (MEW, Erg.
Bd. Erster Teil, S. 424).
Trotz der unterschiedlichen und entgegengesetzten Werturteile, finden wir sowohl
bei Bismarck als auch bei Marx die Unterscheidung zwischen einem Liberalismus,
der dahin tendiert, die Selbstregierung einer vom Feudaladel oder von der
Bourgeoisie hegemonisierten bürgerlichen Gesellschaft anzuerkennen und einem
Liberalismus, der dazu bereit ist, in die Herrschafts- und
Unterdrückungsverhältnisse einzugreifen, die gerade in der bürgerlichen
Gesellschaft auftreten. Im Verlauf des Kampfes gegen den Absolutismus der
Stuart, zu Anfang der englischen liberalen Bewegung, definierte einer ihrer
Exponenten die von ihm geschätzte "wahre Freiheit" folgendermaßen: "Kraft eines
bestimmten Gesetzes wissen wir, dass unsere Ehefrauen, unsere Kinder, unsere
Knechte, unsere Güter uns gehören (are our own), dass wir für uns selbst bauen,
pflügen, säen, ernten."15
Statt sie infrage zu stellen, bestätigt die "wahre Freiheit" die existierenden
Knechtschaftsverhältnisse noch, weil sie eine unantastbare Privatsphäre
betreffen. Noch am Ende des 18. Jahrhunderts, im Verlauf des sogenannten
"aristokratischen Wiederauflebens" (aristocratic resurgence), das sich in
zahlreichen europäischen Ländern entwickelt, verteidigt der Feudaladel die
Hörigkeit gegen die von der Monarchie geförderte Modernisierung und Revolution
von oben oft mit liberalen Parolen, und sich gelegentlich explizit auf Locke und
auf Montesquieu berufend16.
Ebenso wie er in der Metropole die Hörigkeit verteidigt, ist für den
Liberalismus, als Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft, auch der
Sklavenbesitz in den Kolonien legitim und unantastbar. Zur Zeit der
Rebellion der englischen Kolonien in Amerika agitieren die Verteidiger der
Sklaverei "die Rhetorik der Revolution und das Locksche Thema der
Eigentumsrechte"17.
Ähnlich verhalten sich in den darauffolgenden Jahrzehnten die Befürworter der
peculiar institution und der Sezession.
Historisch hat sich jedoch ergeben, dass "unsere Knechte" die Gleichstellung mit
"unseren Gütern" nicht passiv hingenommen haben und in Entgegensetzung zur
"wahren Freiheit", die der schon zitierte Exponent des englischen Liberalismus
so schätzte, eine ganz andere Freiheit verlangten, die das Eingreifen der
Staatsmacht forderte, um die Hörigkeit abzuschaffen und gewissermaßen die
Emanzipierung der subalternen Klassen zu fördern. Die Verknüpfung und der
Zusammennstoß zwischen diesen beiden verschiedenen Ideen von Freiheit und der
politisch-sozialen Subjekte, die sich darauf beriefen, erklärt den besonders
komplexen Charakter der ersten englischen Revolution und der französischen
Revolution schlechthin.
Auf diese Höhe stellt sich Hegel. Der Kampf für die Freiheit wird jetzt zum
Kampf für die Anerkennung. Verständlich und schätzenswert ist daher sowohl das
Streben zum Beispiel der englischen Siedler in Amerika nach Anerkennung gleicher
Würde und nach gleichem Recht der Vertretung durch die Londoner Regierung, als
auch das Streben der schwarzen Sklaven nach Anerkennung ihrer menschlichen Würde
und ihres Rechtes auf Freiheit. Die Kategorie Kampf für die Anerkennung
ermöglicht es auch, die Konflikte zu verstehen, die zwischen den verschiedenen
Bedeutungen der Freiheit - beide legitim, ja beide sogar unausweichlich -
entstehen können.
Was geschieht dagegen in der liberalen Tradition? Smith verurteilt als gegen die
Freiheit gerichtet, die Koalitionen, die von "verzweifelten Menschen" gegründet
werden, die dem Hungertod zu entgehen versuchen, und er identifiziert damit
eindeutig die Freiheit mit der Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft.
Wenn er hingegen die "despotische Regierung" auffordert, die Sklaverei
abzuschaffen, dann folgt er einem anderen theoretischen Paradigma, das die
Freiheit mit der Beseitigung der in der bürgerlichen Gesellschaft selbst
exisitierenden Unterdrückungsverhältnisse identifiziert. Constant verurteilt
bekanntlich die Schulpflicht wegen des Zwangselements, das es für die Eltern mit
sich bringe. Ein paar Jahrzehnte später polemisiert Mill, sich für die
Schulpflicht aussprechend, gegen die "missverstandenen Freiheitsbegriffe" der
Eltern und fügt hinzu: "Der Staat [...] muss eine wachsame Kontrolle über die
Ausübung der Macht aufrechterhalten, die Individuen mit seiner Erlaubnis über
andere Individuen haben."18
In diesem divergierenden Urteil sehen wir den Übergang von einem theoretischen
Paradigma zu einem anderen, und dieser Übergang ist auch das Resultat des
Kampfes derer, die von einer Freiheit ausgeschlossen sind, die als einfache
Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft verstanden wird.
Schließlich kann man Hayms Kritik an Hegel vestehen. Sein Fehler sei es gewesen,
sich in seiner politischen Philosophie von einem "abstrakt Allgemeinen"
inspirieren zu lassen. Der Staat müsse sich dagegen "konkret", von der "im Volke
faktisch vorhandenen Gliederung" aus, in der "bürgerlichen Ge-sellchaft" bilden;
"ständisch gliedert sich in der bürgerlichen Gesellschaft das Leben: diese
bürgerliche Gliederung gilt es, ins Politische zu erheben, die Regierung
organisch aus den organischen Elementen des Staates erwachsen zu lassen"19.
Ebenso wie Bismarck hat auch Haym keine Vorliebe für den
"rheinisch-französischen Liberalismus"; auch er fühlt sich in
"ständisch-liberaler Stimmung", selbst wenn jetzt dieser Stand eher auf die
Bourgeoisie als auf die Junker verweist.
Literatur
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(1898), Cotta, Stuttgart und Berlin
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hrsg. von G. Lasson, Meiner, Leipzig (im Text mit der Abk. Ph. G. angegeben)
Georg W. F. Hegel, 1956: Berliner Schriften, hrsg. von J. Hoffmeister, Meiner,
Hamburg (im Text mit der Abk. B. Schr. angegeben)
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Meiner Hamburg (im Text mit der Abk. J. R. angegeben)
Georg W. F. Hegel, 1969-1979: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von E. Moldenhauer
und K. M. Michel, Suhrkamp, Frankfurt a. M. (im Text mit der Abk. W angegeben;
für die Grundlinien der Philosophie des Rechts dagegen die Abk. Rph.)
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Ilting, from-mann-holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt (im Text mit der Abk. V. Rph
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einer Nachschrift, hrsg. von D. Henrich, Suhrkamp, Frankfurt a. M. (im Text mit
der Abk. Rph. III angegeben)
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(Heidel-berg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19), Klett-Cotta, Stuttgart (im
Text mit der Abk. Rph. I für die Vorl. von 1817/18 und mit der Abk. Rph. II für
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Karl H. Ilting, 1973: Die "Rechtsphilosophie" von 1820 und Hegels Vorlesungen
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1
Über den
Ausnahmezustand in der liberalen Tradition vgl. Losurdo, 1993, Kap. II, 4 u.
Kap. III, 4-5; was Lockes Rechtfertigung der Sklaverei in den Kolonien betrifft
vgl. Losurdo, 2000, Kap. XII, 3.
2 Locke, 1963, Bd. 10, S. 196 (Art. CX).
3 Smith, 1982, S. 452-3 u. S. 182.
4 Vgl. The
Lincoln Catechism (1864), in: A. Schlesinger jr. (Hrsg.), 1973, S. 915-21.
5
Losurdo, 2000, Kap.
VII, 5.
6
Losurdo, 2000, Kap.
V, 4.
7
Ilting, 1973, S.
105-7.
8
Marx, 1961, S. 106,
S. 110 u. S. 122.
9
Smith, 1982, S. 455
(Vorlesung von 1766).
10
Lenin, 1954, S. 172
u. S. 174.
11
Lenin, 1955, S. 364.
12
Mill, 1972, S. 151.
13
Mill, 1972, S. 144.
14
Bismarck, 1919, S.
51-2; Bismarck, 1984, S. 37 (Rede vom 18. Oktober 1849); Bismarck, 1962, S. 354
(Rede vom 14. Februar 1851).
15
In Hill, 1961, S.
188.
16
Palmer, 1959-1964 S.
30-32 und S. 106-08.
17
Davis, 1975, S. 168.
18
Mill, 1972, S. 159-60
und 163.
19
Mill, 1972, S. 144.
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