Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung |
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Heft 57, März 2004, 15. Jhrg
II. Herrschende Klassen und Kapitalistenklasse: Die Produktionsverhältnisse Die Einsicht in den sozialen, facettenreichen, "spezifischen, historischen und vorübergehenden Charakter" der Produktionsverhältnisse ist bei Marx voll ausformuliert. Zwar sei es "jedesmal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten [...], worin wir das innerste Geheimnis, die verborgne Grundlage der ganzen gesell-schaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form des Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses, kurz, der jedesmaligen spezifischen Staatsform finden." Doch hindere dies nicht, "daß dieselbe ökonomische Basis - dieselbe den Hauptbedingungen nach - durch zahllos verschiedne empirische Umstände, Naturbedingungen, Racenverhältnisse, von außen wirkende geschichtliche Einflüsse usw., unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen kann, die nur durch die Analyse dieser empirisch gegebnen Umstände zu begreifen sind." (MEW 25, 799f) Die Produktionsverhältnisse dienen der Organisation des Funktionszusammenhangs von Produktionsmitteln und Arbeitskräften. Innerhalb des "Systems der Produktionsverhältnisse" lassen sich als Subsysteme Eigentumsverhältnisse, Verwertungsverhältnisse, Verteilungsverhältnisse und Arbeitsverhältnisse unterscheiden (Krysmanski 1990). Eigentumsverhältnisse stellen die Produktionsmittel bereit. Diese Aufgabe kann im Kapitalismus von individuellen und kollektiven Kapitaleigentümern, aber auch von Grund-, Staats-, Genossenschaftseigentümern, nicht-kapitalistischen Kleineigentümern usw. wahrgenommen werden. Doch die Eigentumsverhältnisse als solche sind nicht auf die unmittelbare Produktion fixiert. Als Auffangbecken für akkumulierte Werte sind sie der Ort des Reichtums, insbesondere des Geldreichtums, wobei gerade letzterer "für reale Kapitalisten nicht mehr als ein bestimmter sozialer Risikominderungs-Pfad ist, damit er - der Eigentümer - erstrebte Sanktionen innerhalb eines - seines - Lebens einhandele und befürchteten entrönne." (Clausen 1978, 112) Im übrigen kann Reichtum aus vielen Quellen stammen und zu beliebigen Zwecken eingesetzt werden. Das beginnt bei auffälligem Konsum und Verschwendung (Veblen 1899) und endet beim Erwerb von Einfluss in allen gesellschaftlichen Bereichen. Insofern sind die Eigentumsverhältnisse der Ursprung bzw. der Ort von Geldmacht, und in diesem Sinne eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Das wird anders, wenn Kapitaleigentum sich an der "verborgenen Stätte" der Mehrwertproduktion, im Betrieb, verwertet. "Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus der Produktion selbst hervorwächst und seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt." (Marx, MEW 25, 799) Erst wenn also Geldmacht sich in Verwertungsmacht verwandelt, in diesem Sinne spezifisch wird und Verwertungsverhältnisse begründet, treten "Geldeliten" als personifiziertes Kapital auf (MEW 25, 827), werden zur Kapitalistenklasse, die "Verwertungsmacht" entwickelt und sich im Zuge der Erweiterung der Produktion in verschiedene "Verwertungseliten" ausdifferenziert. So steht schließlich der mehr oder weniger homogenen Arbeiterklasse (Fabrikarbeiter, Büroangestellte, Dienstleistungsberufe) ein komplexes kapitalistisches Management gegenüber. Diese beiden - oft fernab von den Eigentümern bzw. "Geldeliten" - sind es, die um die Kontrolle des Arbeitsprozesses und um die Aneignung des erzeugten Mehrwerts ringen (Braverman 1985). Im dritten Subsystem, den Verteilungsverhältnissen, generiert der Konflikt um die betriebliche und außerbetriebliche Verteilung der erwirtschafteten Güter und Werte, sobald die gesamtgesellschaftliche Ebene erreicht ist, "Verteilungseliten" und "Verteilungsmacht". Im parlamentarisch-demokratischen Raum kämpfen Spezialisten der Verteilungsmacht um einen gesellschaftlichen Konsens in Sachen "Verteilungsgerechtigkeit", dies ist die Geburtsstunde politischer Eliten bzw. der politischen Klasse. Im Subsystem der Arbeitsverhältnisse schließlich wächst die Bedeutung des produktionsrelevanten Wissens. Fragen der Arbeitsorganisation, der Gestaltung von Arbeitsprozessen usw. müssen rational ver- und behandelt werden. Der Weg von der Entwertung ursprünglicher handwerklicher Fähigkeiten über hochgradig spezialisierte Detailarbeit (Fordismus) zur informatisierten Produktion (Toyotismus) erzeugt "Wissensmacht" und schließlich spezialisierte "Wissenseliten", die sich immer deutlicher von den "Geldeliten", "Verwertungseliten" und "Verteilungseliten" unterscheiden lassen - und die innerhalb der Produktionsverhältnisse die Dynamik der Produktivkraftentwicklung verkörpern. III. Global Ruling Class? Der Begriff der herrschenden Klasse, der das Phänomen der Herrschaft an das Schicksal des Klassenbegriffs bindet, ist ein instabiler Begriff. Der Klassenbegriff war so eng an die gesellschaftlichen Strukturen der Moderne, an den nationalstaatlichen Rahmen gebunden, dass seine schon im Kommunistischen Manifest beschworene globale Dimension selten tatsächliche Handlungsebenen berührte. Das Konzept eines Weltklassensystems (Wallerstein) ist kaum durchgesetzt. Der Begriff der Kapitalistenklasse, gebunden an die in den Produktionsverhältnissen generierte "Verwertungsmacht" (vgl. Abschn. IV) und eingebunden in Eigentums-, Verteilungs- und Wissensverhältnisse, ist zudem schwer als Begriff für eine soziale Klasse zu etablieren. Diese Schwierigkeit begleitet auch die Diskussion um eine global ruling class bzw. um eine Transnational Capitalist Class (TCC) (Robinson u. Harris 2000; van der Pijl 2001; Sklair 2000; Cox 1987). Gerade für das Entstehen einer sozial definierbaren globalen herrschenden Klasse sind empirische Belege intrinsisch schwer zu beschaffen; kapitalistische Eliten sind eben "secretive" (vgl. Moyser u. Wagstaffe 1987). Außerdem ermöglichen Marktstrukturen die Diffusion der Macht. Autoritative oder gar autoritäre Macht konstituiert sich gegenwärtig in Organisationen wie Weltbank, WTO, IMF und bei anderen "akronymen Akteuren" (Robinson u. Harris) der Weltwirtschaft sowie in großen privaten - multinationalen oder transnationalen - Konzernen. Besonders schwierig ist es, auf dieser Analyseebene die (globale) Rolle staatlicher Organisationen zu fixieren. Mit dem Konzept einer "soft geopolitics" wird versucht, das ganze Geflecht von Verhandlungen und Absprachen zwischen Staaten einzufangen. Dabei stößt man selbstverständlich auf eine US-amerikanische "Quasi-Hegemonie". Innerhalb der Gruppen, die für eine TCC in Frage kommen, finden heftige ideologische Konflikte zwischen freemarket conservatives, neoliberal structuralists, neoliberal regulationists und "Third Way"-Protagonisten statt, weiter verkompliziert durch nationale Achsen und andere Allianzen. Dennoch ist die Versuchung groß, die transnationale Kapitalistenklasse, die von keiner anderen Klasse herausgefordert wird, "als den einzigen Herrscher über die Weltökonomie zu betrachten." (Robinson u. Harris 2000) Die Frage aber bleibt, ob auf diesem Boden auch eine soziale globale herrschende Klasse konzipiert werden kann. Giovanni Arrighi (1994) sieht Chancen für ein wachsendes Klassenbewusstsein innerhalb der TCC überall dort, wo transnationale staatliche Strukturen entstehen. Doch wird bezweifelt, ob es sich dabei jemals um einen neuen globalen "historischen Block" handeln kann (Jason W. Moore, 2001/02). Die Entwicklung zielt eher auf eine flüchtigere Form von Klassenbildungen, wenn man etwa an die Bedeutung von "cadres" denkt, die seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts im transnationalen Raum agieren und eine teils demokratische, teils technokratische und teils "planetarische" Perspektive entwickeln. "Die cadres sind eine Klasse von Mediatoren, die Leitungsaufgaben für die herrschende Klasse ausführen, aber gleichzeitig, wie Arbeiter, als ein lohnabhängiges Stratum ihre Arbeitskraft verkaufen." (van der Pijl 2001/02, 498) Leslie Sklair (1997) unterscheidet in diesem Zusammenhang z.B. CEOs transnationaler Konzerne, am Globalisierungsprozess beteiligte Bürokraten, "globalisierende" Politiker und Experten sowie Eliten im Konsumbereich (Handel und Medien). Einen wichtigen Schritt in Richtung des Begriffs einer sozialen globalen herrschenden Klasse geht eine Forschergruppe um J.V. Beaverstock (2001). Sie setzt nicht bei der Kapitalistenklasse im engeren Sinne, sondern bei den "Geldmächtigen" an und nähert sich damit einem Machtzentrum, das weitaus fluider und 'sozialer', aber auch dynamischer ist als rein ökonomische Verwertungsmacht. Es geht um die globale Rolle jener kleinen Gruppe von wenigen tausend "ultra-high-net-worth individuals", die zusammen über mehr Geldmittel verfügen als die unteren vier Fünftel der Weltbevölkerung. Beaverstock u.a. argumentieren gegen Sklair und andere, dass die "globale Klassenscheide" nicht zwischen "verwertungs- und wissensmächtigen" Dienstklassen auf der einen Seite und den diese wiederum bedienenden, unwissenden Arbeitsklassen auf der anderen Seite (so etwa auch Manuel Castells 1989) bestehe, sondern im Gegensatz zwischen einer superreichen Geldelite und dem Rest der Welt: "Es ist deshalb entscheidend, zwischen zwei Gruppen innerhalb der globalen Elite zu unterscheiden: einerseits wohlhabenden "global managers" und andererseits Individuen mit einem "ultrahohen Nettowert, den globalen Superreichen" (Beaverstock u.a.). Die Superreichen verkörpern in partikularer, 'privatisierter' Form den Globalzusammenhang, indem sie mit Hilfe von "Mikro-Netzwerken" oder "Beziehungsmodulen" (Vidich 1997) den "global space of flows" (Castells) beherrschen. Überhaupt sind "globale Klassen" und erst recht eine globale herrschende Klasse nur zu begreifen, wenn die "Verfügungsgewalt über den globalen Raum" als neue Dimension der Klassenstrukturierung mitberücksichtigt wird (Jain 2000). So spielen neben der "Zonierung" des Raums unter 'privaten' Gesichtspunkten vor allem "global cities" (Sassen 1991) eine wichtige Rolle bei der Formierung fungibler globaler Herrschaft (und fungiblen Superreichtums). Die globalen Eliten leben vom Aufspüren lokaler Differenzen im globalen Zusammenhang: die globale Klasse "betreibt einen eklektizistischen Imperialismus und instrumentalisiert die örtlichen Unterschiede für ihre Zwecke." (Jain 2000, 55) In bestimmter Weise konsumiert in diesem Kontext die Gruppe der Superreichen den Planeten als Ganzen - in der Tradition der "conspicuous consumption" (Veblen 1899) -, auch wenn diese Phänomene bislang nur trivialisierend oder mystifizierend unter Begriffen wie "Jet Set" oder "Bourgeois Bohemians" (Brooks 2001) beschrieben wurden. Hier tritt - mit der Entfaltung des Cyberspace und seiner Finanznetze - eine bislang nicht denkbare Privatisierung des Universellen ein, die alles, was der Feudalismus an 'Klüngelei' zuwege brachte, in den Schatten stellt. IV. Sprengsätze in den Produktionsverhältnissen
"Die Erkennung der Produkte als seiner
eigenen und die Beurteilung der Trennung von den Bedingungen seiner
Verwirklichung als einer ungehörigen, zwangsweisen - ist ein enormes
Bewusstsein, selbst das Produkt der auf dem Kapital ruhenden Produktionsweise"
(Marx, Grundrisse 1953, 366f). Doch im Gegensatz zur globalen herrschenden
Klasse - und deren Verfügungsgewalt über den globalen Raum - ist das "enorme
Bewusstsein" des globalen Proletariats (Wallerstein) 'lokalisiert' und füllt
weder den Cyberspace noch den "global space of flows". "Nur auf (illegalen)
Schleichwegen können [die Proletarier] die ihnen gezogenen Grenzen durchbrechen.
Doch auch wenn es ihnen gelingt, bis in die globalen Metropolen vorzudringen,
bleiben sie meist ausgeschlossen. Als 'Gastarbeiter', 'Illegale', 'Asylanten'
fristen sie ein Schattendasein." (Jain 2000, 61) Dennoch arbeitet das
Proletariat lokal am Globalen, indem es täglich 'adäquate' Gebrauchswerte - und
damit das wirkliche Allgemeine - produziert. Für das Proletariat vollzieht sich
diese globallokale Dialektik in lokalen, unmittelbaren, distanzlosen,
alltäglichen Kämpfen. "Die Kämpfe des Proletariats bilden - und zwar in ganz
realer, ontologischer Hinsicht - den Motor der kapitalistischen Entwicklung. Sie
zwingen das Kapital dazu, das technologische Niveau ständig zu erhöhen und damit
die Arbeitsprozesse zu verändern. Die Kämpfe nötigen das Kapital ununterbrochen,
die Produktionsverhältnisse zu reformieren und die Herrschaftsverhältnisse zu
transformieren." (Hardt u. Negri 2002, 220) Und so verändern sich die
Produktionsverhältnisse. In den Eigentumsverhältnissen ist
Produktionsmitteleigentum längst derart finanzkapitalistisch vermittelt, dass
Geldmacht sich beispielsweise die allgemeinen Bedingungen kultureller Erfahrung
(Rifkin 2000) ebenso wie das Gesamt der Natur (einschließlich ihrer Gesetze)
aneignen kann. Davon profitiert, unter dem absolut dominanten Prinzip der
Privatisierung, eine immer kleinere, global agierende Schicht, die viele
historische Formen von Geldmacht in sich vereint: von arabischen Feudalherren
über Großbetrüger und korrupte Usurpatoren bis zu klassischen Unternehmern usw.
Die Finanzmärkte erfüllen in diesem Kontext ihre angebliche Aufgabe, die
Ersparnisse der Gesellschaft in Richtung der besten Investitionen zu lenken, nur
kümmerlich. Das globale Finanzsystem ist extrem teuer, gibt falsche Signale zur
Lenkung der Kapitalströme und hat weniger mit wirklicher Investitionstätigkeit
als mit der Konzentrierung von Reichtum zu tun. Der Mechanismus ist einfach.
"Mithilfe staatlicher Verschuldung werden Einkommen von unten, von den einfachen
Steuerzahlern, nach oben, zu den reichen bond-holders, verschoben. Statt die
Reichen zu besteuern, leiht die Regierung von ihnen, und bezahlt für dieses
Privileg auch noch Zinsen. Auch die Konsumentenkredite bereichern die Reichen.
Wer bei stagnierenden Löhnen und Gehältern seine VISA-Karte benutzt, um über die
Runden zu kommen, füllt mit jeder Monatsrate die Brieftaschen der Gläubiger im
Hintergrund. Unternehmen des produktiven Sektors zahlen ihren Aktionären
Milliarden an jährlichen Dividenden, statt ins Geschäft zu investieren. Kein
Wunder also, dass der Reichtum sich auf spektakuläre Weise immer mehr ganz oben
zusammenballt." (Henwood 1997, 4) In den Verwertungsverhältnissen hat eine
beispiellose Verschärfung (und "Verwissenschaftlichung") der Ausbeutungspraxis
begonnen. Entwickelte betriebliche Managementmethoden werden durch Kontroll- und
Überwachungs-operationen ergänzt. Die durch die Liberalisierung der Arbeitsmärkte
endemische 'Jobangst' verhindert kollektiven Widerstand. Unter dem "Unified
Global Command" (Hardt u. Negri) der führenden kapitalisti-schen Länder und
Institutionen verdichten sich Ausbeutungsstrategien zur "Biopolitik" bzw.
"biopolitischen Produktion", die nichts anderes ist als profitorientierte
Reproduktion von Menschen unter Arbeitskraftgesichtspunkten (Foucault 1976;
Hardt u. Negri 2002, 394), bis hin zu einer (Welt)Bevölkerungspolitik, die vor
Genozid nicht zurückschreckt (George 2001). In den Verteilungsverhältnissen
bricht auf betrieblicher und gesellschaftlicher Ebene der auf
wohlfahrtsstaatlichen Strukturen und kollektiven (gewerkschaftlichen) Rechten
basierende Konsens zusammen. Die Ideologie individueller Freiheitsrechte macht
nicht einmal mehr den Versuch, eine gerechte Verteilung der produzierten Werte
zu begründen. "Ohne das Eintretenkönnen für die Vollendung der Verheißungen des
Liberalismus aber wird es für die herrschenden Schichten des Weltsystems überall
[...] unmöglich, die arbeitenden Klassen durch irgendetwas anderes als Gewalt zu
kontrollieren." (Wallerstein 1995, 242) In den Arbeitsverhältnissen schließlich
wird in den fortgeschrittensten Produktionsbereichen die "alte, unmittelbare
Befehlsgewalt über die Arbeitenden, die dem Kapitalisten qua Verfügung über die
Produktionsmittel zukam, [...] ersetzt durch den unmittelbaren Marktdruck, der
direkt auf die Produktionsgruppen und Individuen weitergeleitet wird." Die
Individuen selbst sollen die Verwertung von Werten exekutieren und dafür ihre
Kreativität mobilisieren - "bei Gefahr des Untergangs und mit der Chance der
Entfaltung." (Meretz 1999) Dieses Identischwerden von Person und Arbeitskraft in
der informatisierten Produktion verlangt eine andere Allgemeinbildung als die
des Staates, die einst alle Bürger zur Leitung des Gemeinwesens befähigen sollte
(Lohmann 1987). Inhalt der Allgemeinbildung wird, der privaten Profitwirtschaft
nutzt: die "Ökonomisierung des Sozialen", aber auch eine soziale Befähigung zur
Leitung von Wirtschaftsprozessen - eine Mentalität des "Regierens ohne Staat",
einer "Global Corporate Statesmanship" (de Pury u. Lehmann 2000) oder eben
"Gouvernementalität" (Bröckling u.a. 2000). Dies ist heute u.a. die Triebkraft
der Forderung nach einer umfassenden Privatisierung und Kommerzialisierung des
Bildungswesens. Die so in die Arbeitenden selbst injizierte Wissensmacht
allerdings ist ambivalent, paradox, dialektisch und produziert subversives
Potential (vgl. z.B. The Cluetrain Manifesto, Locke u.a. 2001).
Durch Globalisierung und
Informatisierung, schreibt Fredric Jameson, werden die Linke wie die Rechte und
die Wirtschaft selbst mit der Unmöglichkeit konfrontiert, dass irgendein
regionales oder nationales Gebiet den Zustand der Autonomie oder gar der
Subsistenz erreicht, sich vom Weltmarkt abkoppelt. So hat die "Rettung der
Utopie" nur eine Chance, wenn die Marxisten "den Gedanken einer globalen
Totalität festhalten oder - wie Hegel gesagt hätte - ‚dem Negativen folgen' und
so letztlich jenen Ort lebendig erhalten, von dem das - unverhoffte - Entstehen
des Neuen erwartet werden kann." (1996, 174ff) So wie Erkenntnis ist auch
Herrschaft Aus- oder Vorgriff auf weltge-sellschaftliche Totalität. Die
Strukturen der Moderne, insbesondere der Staat, entlang derer Totalität einst
begriffen werden konnte, lösen sich auf. Die Moderne verabschiedet sich mit
Karikaturen ihrer selbst, mit Zeugnissen eines "immensen monadischen Stils"
(Jameson 1994, 131f) wie den Weltbeherrschungsphantasien des Faschismus oder
eines "American Empire" (Rilling 2002). In den Sozialwissenschaften haben
Systementwerfer wie Talcott Parsons (1964) und Niklas Luhmann (1997) einen
Begriff von Weltgesellschaft vorbereitet, wie er subjektloser und indifferenter
nicht sein kann. Dieser Begriff erlaubt Handlungsorientierungen allenfalls
denjenigen, die das System praktisch beherrschen. Doch wo Theorie ins Leere
führt, finden sich nicht zuletzt in der Massenkultur Ansätze eines "cognitive
mapping" (Jameson) globaler Totalität. Mithilfe der "geopolitischen Ästhetik"
(Jameson) von "Weltfilmen" (global vermarkteten Hollywoodproduktionen) erfahren
wir, wie der Versuch der Insertierung der amerikanischen Perspektive in die
übrigen Regionen verläuft. Wir bekommen eine Ahnung davon, wie die nationale
Allegorie der USA sich in ein konzeptuelles Instrument umzuformen beginnt, "das
tatsächlich dazu taugt, unser aller neues In-der-Welt-Sein zu begreifen."
(Jameson 1992, 3) Wir sehen, wie die amerikanische Machtelite die
Welterklärungs-Schemata des Kalten Krieges, des Trikontismus usw. ablegt, wie
sie zu Globalmodellen vordringt, die einerseits etwas vom kolonialistischen
Blick der Zeit vor dem ersten Weltkrieg haben, andererseits mit dem Cyberspace
operieren. Hardt und Negri (2002) haben die eine Seite dieser Entwicklung - den
Netzcharakter und die "nicht-euklidische Räumlichkeit" (Jameson 1993; Sassen
1991) dieses Herrschaftshandelns - auf den Punkt gebracht. Die Voraussetzungen
jedoch aussetzungen jedoch für die konkrete Beobachtung und Beschreibung der
Akteure in diesem von den Strukturen der Moderne nicht mehr strukturierten
globalen Raum hat - neben 'Hollywood' - das US-amerikanische Power Structure
Research geschaffen.
Verallgemeinernd kann aus dem Power
Structure Research ein bestimmtes Deskriptionsmodell herrschender Klassen
oder Machteliten abgeleitet werden. Danach gibt es vier Gruppen, die in einem
Funktionszusammenhang stehen, den man sich als ein System konzentrischer Ringe
vorstellen kann. Der innere Ring ist der Ring der Geldmacht, bestehend aus der
Gruppe der Superreichen. Über Mikro-Netzwerke, über 'Philanthropie' und
über die Machtmaschine des Stiftungswesens übt diese Gruppe auf alle (auch die
abseitigen) Bereiche des gesellschaftlichen und weltgesellschaftlichen Lebens
einen enormen Einfluss aus. Diese neue Form des Gottesgnadentums steht, was
seine gesellschaftliche Funktionsweise angeht, oberhalb der üblichen
Kapitalverwertungsprozesse, kann nicht bestimmten "Kapitalfraktionen" zugeordnet
werden und ist vornehmlich mit transkapitalistischen Formen der
"Kapitalvernichtung" zwecks Verhinderung von Machtkonkurrenz beschäftigt. Mit
dem Verschwinden der Souveränitätsformen der Moderne verfügt nur diese Gruppe,
als einzige, noch über Souveränität; denn "das Regime privater Enteignung
[tendiert dazu], universell zu werden." (Hardt u. Negri 2002, 313) Der nächste
Ring ist der Ring der Verwertungsmacht. Ihn bilden die Chief Executive
Officers aus Industrie, Finanz und Militär, die gewissermaßen einen
Schutzring um den Kern der Superreichen formen und mit ihnen gemeinsam den
Komplex der "Corporate Community/Upper Class" (Domhoff) ausmachen. Die
"Verwertungselite" ist vorrangig mit der Mehrung und Verwaltung des Vermögens
der Superreichen beschäftigt und weiß ihrerseits viele Multimillionäre unter
sich; sie kann als Kapitalistenklasse im traditionellen Sinne begriffen werden.
Innerhalb der Verwertungselite gibt es selbstverständlich Kapitalfraktionen und
folglich ökonomisch begründete Interessengegensätze, insbesondere zwischen den
"großen transnationalen Konzernen, die nationale Grenzen übergreifen und als
Bindeglieder im globalen System fungieren" und den "begrenzten modernen
Unternehmen früherer Jahre". (Hardt u. Negri 2002, 165) Der dritte Ring ist der
Ring der Verteilungsmacht, den die politische Klasse bevölkert, eine echte
Dienstklasse, zuständig für gesellschaftlichen Konsens und für die
Aufrechterhaltung eines Anscheins von Verteilungsgerechtigkeit. Im Kern der
politischen Klasse agieren Oligarchien oder "politische Direktorate" (Mills).
Wahlkämpfe drehen sich im allgemeinen nur um die Besetzung dieser Positionen. Im
übrigen hat Verteilungspolitik unter Globalisierungsbedingungen eine Stufe
erreicht, in welcher universelle Werte wie Gerechtigkeit überhaupt keine Rolle
mehr spielen (können) und 'Regierungskunst' darin besteht, "Konflikte nicht zu
integrieren, indem sie sie einem kohärenten sozialen Dispositiv unterwirft,
sondern indem sie die Differenzen kontrolliert." (Hardt u. Negri 2002, 348) Der
Außenring schließlich ist der Ring der Wissens- und Kommunikationsmacht, das
Handlungsfeld der Schicht der Technokraten und Dienstleister. In diesem Heer von
Beratern, Experten, Helfern aus allen Bereichen der Gesellschaft (Wissenschaft,
Medien, Kultur, Technik usw.) sind genaue Kenntnisse über die Funktionsweisen
des kapitalistischen Weltsystems und seiner Subsysteme mit kritischen und zum
Teil subversiven Tendenzen vermischt, so dass hier Widersprüche zur
Handlungsreife gelangen können. Insgesamt veranschaulicht und beschreibt dieses
Vier-Ringe-System heute weltweit stattfindende Versuche einer Reorganisation von
herrschenden Klassen, die sich ohne einen starken Staat und unter den
Bedingungen einer Um-stellung der Regulierung von ökonomisch-kollektiven Formen
zu individuellen Formen das Überleben sichern müssen. Das durchaus benennbare
Personal dieser 'Ringburg' - im Kern wenige Tausende, im Außenring einige
Millionen - operiert zunehmend in einem Milieu absoluter Korruption: "Während
Korruption in der Antike und in der Moderne im Verhältnis zu den [...]
Wertrelationen bestimmt wurde und als deren Falsifikation galt, [...] kann
Korruption heute [als Begründung] der Transformation von Regierungsformen gar
keine Rolle spielen, weil sie selbst ja Substanz und Totalität des Empire ist.
Korruption ist die reine Ausübung des Kommandos, ohne jeden verhältnismäßigen
oder angemessenen Bezug zur Lebenswelt." (Hardt u. Negri 2002, 398) |
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