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Heft 56, Dezember 2003, 14. Jhrg
Harald Werner
Amnesie sozialer Deutungsmuster
Wie der Neoliberalismus das Alltagsbewusstsein dekonstruiert hat
Das Überraschendste beim gegenwärtigen Sozialabbau ist die relative Ruhe, mit
der die Betroffenen und selbst die Gewerkschaften die Demontage der sozialen
Sicherungssysteme hinnehmen. Noch zu Zeiten der Kohl-Regierung haben weitaus
geringere Einschnitte, etwa bei Blüms Rentenreform oder dem Angriff auf die
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, wesentlich größere Proteste hervorgerufen,
als sie Schröder bei der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe oder des
Krankengeldes zu fürchten hatte. Wenn die so genannte Reformpolitik nach Hartz
und Agenda 2010 trotzdem für Wirbel sorgt, dann handelt es sich viel weniger um
Widerstand, als um einen Variantenstreit, ohne dass die Richtung selbst in Frage
gestellt würde.
Die einfachste und wahrscheinlich auch zutreffende Erklärung für diese relative
Ruhe ist, dass die Demontage des Sozialstaates von einer SPD vorangetrieben
wird, der immer noch das Image einer Alternative zum Neoliberalismus anhängt.
Einer CDU geführten Bundesregierung wäre es wesentlich schwerer gefallen, den
Reformbegriff derart in sein Gegenteil zu verdrehen, wie der SPD als klassischer
Reformpartei. Ohne die Verantwortung der SPD am beschleunigten Sozialabbau klein
zu reden, sind freilich auch Zweifel angebracht, ob die breite Akzeptanz für
Hartz-Gesetze und Agenda 2010 wirklich ihrem Einfluss zu verdanken ist. Mit
Sicherheit muss sie die Verantwortung für die konkrete Ausführung wie für die
gelungene Befriedungsstrategie übernehmen, aber sowohl die Zielsetzung, als auch
die gesellschaftliche Zustimmung müssen in von ihrem Willen unabhängigen
Faktoren gesucht werden.
Von entscheidender Bedeutung für die gesellschaftliche Zustimmung zu dieser
Politik sind offenbar tiefgreifende Veränderungen im Alltagsbewusstsein, die
wahrscheinlich wesentlich weniger durch gezielte ideologische Beeinflussung, als
durch reale Umbrüche in der gesellschaftlichen Produktionsweise und der
Sozialstruktur verursacht wurden. Auch hinter der ideologischen Einheitsfront,
mit der die Massenmedien Verzicht als Reform und Sozialabbau als Rettung des
Sozialstaates verkaufen, verbergen sich neben einem erheblichen Maß an
Unkenntnis und gezieltem politischen Einfluss vor allem reale Massenstimmungen.
Wobei diese Massenstimmungen in der so genannten Mediengesellschaft eine
paradoxe Rolle spielen. Zwar richten sich Politik und Medien permanent an
Meinungsumfragen und Einschaltquoten aus, so dass die Illusion eines quasi
demokratischen Diskurses entsteht. Tatsächlich verallgemeinert dieser angebliche
Diskurs lediglich die Mystifikationen und Fetische des Alltagsbewusstseins, so
dass der Eindruck eines Zirkelschlusses entsteht, bei dem Politik und Medien
durch das Massenbewusstsein und dies wiederum durch Politik und Medien bestimmt
scheinen. Dieser scheinbare circulus vitiosus ist jedoch ebenfalls eine
Illusion, weil das Alltagsbewusstsein nichts anderes als eine Widerspiegelung
der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Dieser fehlerhafte Zirkel
kann bei der Analyse des gesellschaftlichen Bewusstseins nur durchbrochen werden
wenn, wie es Marx und Engels in der "Deutschen Ideologie" beschrieben haben, vom
wirklichen Lebensprozess der Menschen ausgegangen wird und das
Alltagsbewusstsein vor dem Hintergrund der realen gesellschaftlichen Bedingungen
interpretiert wird1. Der
richtige Weg zur Ergründung des gesellschaftlichen Bewusstseinswandels wäre
also, die Veränderungen in der gesellschaftlichen Praxis zu studieren, das heißt
in Arbeitswelt und Freizeit, vor allem aber auch im Verhältnis zwischen
Individuum und Gesellschaft.
Die herkömmliche Demoskopie blendet diesen Zusammenhang eben so aus wie ihren
eigenen Einfluss auf die erhobenen Daten. So verfügen wir heute zwar über immer
mehr Meinungsumfragen und es gibt so ziemlich keine politische Position oder
kein soziales Werturteil, das nicht durch angeblich signifikante Rechnungen
überprüft wurde, aber es ist wie es immer mit der Empirie war: Was die Empiriker
messen, das messen sie genau. Aber was sie messen, das wissen sie nicht. So gibt
es zahlreiche Meinungsumfragen, die zwar eine relativ hohe Zustimmung zum
Sozialstaat widerspiegeln, aber keinerlei Auskunft darüber geben, was darunter
verstanden wird. Das gleiche gilt für den Begriff der sozialen Gerechtigkeit,
der einerseits als solidarischer Ausgleich verstanden werden kann, aber
andererseits genau diesen Ausgleich als ungerecht empfindet. So kommt auch das
Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung bei seiner Untersuchung zur
Akzeptanz von sozialen Sicherungssystemen zu dem Schluss, "dass die bisherigen
Ergebnisse vieles offen lassen. Dies gilt insbesondere für die Wirkung der
unabhängigen Variablen wie Ideologien und Interessen."2
Also müsste die Frage nach der Akzeptanz des gegenwärtigen Sozialabbaus und der
Zustimmung zur neoliberalen Modernisierung bei der ganz konkreten Analyse
sozialer Lagen ansetzen. Das ist jedoch eine ziemlich abstrakte und methodisch
schematische Herangehensweise, weil die Individuen nicht nur auf der Grundlage
ihrer aktuellen sozialen Lage und objektiven Interessen handeln, wenn diese
überhaupt erkannt werden, sondern ihre Zielsetzungen und Entscheidungen hängen
viel mehr noch von den psychischen Verarbeitungsformen ab, die sie sich im Laufe
ihrer sozialen, kulturellen und auch politischen Lebenspraxis angeeignet haben.
Deutungsmuster - eine fast
vergessene Debatte
Als man sich auf der Linken noch
intensiver mit dem Zusammenhang von sozialer Lage und gesellschaftlichem
Bewusstsein beschäftigte, entstand für diese psychischen Verarbeitungsformen der
Begriff der sozialen Deutungsmuster.3
Die damals gerade in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit heftig geführte
Debatte drehte sich um den Angelpunkt, ob GewerkschafterInnen aus ihren
unmittelbaren Erfahrungen lernen können oder ob diese Erfahrungen durch
Deutungsmuster strukturiert werden, die in der Erfahrungsaufarbeitung erst zu
verändern sind. Die Debatte ist Geschichte, aber sie hat auf allen Seiten zu
einem weitaus differenzierteren Verständnis von Bewusstseinsinhalten geführt,
als es sich heute die meisten Meinungsforscher leisten. Auf eine Kurzform
gebracht, werden unter Deutungsmustern psychische Verarbeitungsformen
verstanden, mit denen die Individuen ihre Erfahrungen zu einem verstandenen
Ganzen verarbeiten. Befragungsergebnisse sind damit Daten, die sich erst
interpretieren lassen, wenn man die typischen gesellschaftlichen Deutungsmuster
der befragten sozialen Gruppen kennt. Da sich die aktuellen gesellschaftlichen
Prozesse im individuellen Bewusstsein nicht als vielfältige, aber eben auch
widersprüchliche Datenmenge widerspiegeln, sondern erst durch eine Art
Interpretationsprogramm zu einem verstandenen Ganzen zusammengesetzt werden, ist
das Verstehen dieser Verarbeitungsformen eine unverzichtbare Voraussetzung für
das Verständnis der realen Bedeutung von Meinungsäußerungen.
Gesellschaftliche Deutungsmuster entstehen aus dem Zusammenwirken von
angeeigneter Ideologie, rationalen Kenntnissen und persönlicher Erfahrung und
sind relativ dauerhafte psychische Instanzen, die Wahrnehmungen selektieren,
Informationen gewichten und daraus gedankliche Abbilder der Wirklichkeit, wie
auch ihrer Gestaltbarkeit zusammensetzen. Das heißt aber nicht, dass
Deutungsmuster unabhängige psychische Instanzen sind, die keiner Veränderung
unterliegen, aber sie verändern sich langsamer als die reale Lebenssituation und
ihre Grundstruktur spiegelt sich selbst dann noch wider, wenn der Wechsel der
Lebenspraxis zu einem tiefgreifenden Bewusstseinswandel zwingt. In gewisser
Weise ähneln gesellschaftliche Deutungsmuster geologischen Strukturen. Sie
werden wie diese im Laufe der Geschichte überlagert und scheinen gänzlich zu
verschwinden, aber so wie ein längst ausgetrockneter und von Erdmassen
verschütteter Fluss immer noch aus großer Höhe erkannt werden kann, spiegeln
sich auch im Alltagsbewusstsein der Individuen ihre längst verschütteten
Deutungsmuster wider.
Geht man nun der aktuellen Frage nach, wie die Bundesbürger des Jahres 2003 den
Sozialstaat verstehen, was sie für sozial gerecht und was sie für ungerecht
halten, von welchen normativen Prioritäten ihre Urteile geprägt werden, dann
müsste zunächst einmal überlegt werden, von welchen gesellschaftlichen
Deutungsmustern ihr Denken strukturiert wird. Wobei der analytische
Ausgangspunkt keine abstrakt konstruierten Deutungsmuster sind, sondern, um es
noch einmal mit der "Deutschen Ideologie" zu sagen: "(...) es wird nicht
ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen
(...); es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem
wirklichen Lebensprozess auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und
Echos dieses Lebensprozesses dargestellt."4
Moralökonomie und ökonomische
Realität
Die bereits zitierte Studiengruppe am
Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung stellt in ihrer Untersuchung
fest: "Internationale und vergleichende Untersuchungen kommen übereinstimmend zu
dem Schluss, dass das Prinzip des Wohlfahrtsstaates in der öffentlichen Meinung
mehrheitlich befürwortet wird. Wenig befriedigend sind dagegen die Erkenntnisse
über die Ursachen positiver wie negativer Akzeptanzurteile."5
Präziser sind die empirischen Daten über die Akzeptanz bestimmter Leistungen,
wie etwa des Arbeitslosengeldes oder der Sozialhilfe. Hier gibt es bei den
Befragten eine relativ klare Beurteilung, die sich einerseits auf die eigene
Risikoerwartung und andererseits auf ein Abwägen der Kosten mit dem
gesellschaftlichen Nutzen stützt. Die AutorInnen sprechen in diesem Zusammenhang
von Moralökonomie und stellen fest, dass soziale Leistungen so lange akzeptiert
werden, wie sie die Gesellschaft vor einem Schaden bewahren.6
Wobei sich selbstverständlich die Frage stellt, was die Befragten für
gesellschaftsschädigend halten, beziehungsweise von welchen
Nützlichkeitserwägungen sie sich leiten lassen.
Offensichtlich resultiert die allgemeine Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates aus dem
gesellschaftlichen Gedächtnis an die Zeiten der Not, in denen er geschaffen
wurde, während die Akzeptanz der konkreten Leistungssysteme einer aktuellen
Kosten-Nutzen-Analyse unterworfen wird. Diese hohe Wertschätzung des
Sozialstaates verbindet sich bei den Befragten jedoch mit einer zunächst sehr
widersprüchlich erscheinenden Haltung zu Leistungskürzungen. Einerseits werden
allgemeine Leistungskürzungen mehrheitlich abgelehnt, aber andererseits
erscheinen ihnen Leistungskürzungen "angesichts der Rahmenbedingungen (...)
unvermeidlich. Verantwortlich dafür sei ein zunehmendes Missverhältnis zwischen
der Anzahl der Erwerbstätigen und der hohen Zahl an Arbeitslosen."7
Dieser Widerspruch zwischen Ablehnung und Akzeptanz von Leistungskürzungen lässt
sich wahrscheinlich leicht auf die öffentliche Debatte zurückführen, in der seit
Jahren entgegen aller empirischen Realität schrumpfende Verteilungsspielräume
und wachsende Wettbewerbsprobleme unterstellt werden. Die Befragten halten zwar
an ihren alten sozialen Deutungsmustern fest, haben sie aber inzwischen durch
neue Deutungsmuster erweitert, die dem aktuellen gesellschaftlichen Diskurs
entsprechen. Es hat den Anschein, als wenn die rot-grüne Bundesregierung diese
gegensätzlichen Bewusstseinsdispositionen wesentlich besser einzuschätzen vermag
als die Vorgängerregierung, die den Sozialabbau weitaus stärker ideologisch
begründete, die Missbrauchsdebatte belebte und einen abstrakten
Modernisierungsdiskurs führte.
Das mag auch die relative Ruhe erklären, mit der der sozialdemokratische
Sozialabbau akzeptiert wird, denn insbesondere die Sozialdemokratie, weniger die
Grünen, verkleidet ihre sozialen Raubzüge als unausweichliche Maßnahme zur
Rettung des Sozialstaates und als Umschichtung der Ressourcen für soziale
Zukunftsinvestitionen. Eine herausragende Rolle spielen dabei Ausgaben für
Wissenschaft und Forschung, aber gerade auch für die Verbesserung der
Kinderbetreuung oder den Aufbau von Ganztagsschulen. Die sozialen Grausamkeiten
werden nicht geleugnet, aber mit dem Hinweis auf die Bedrohung des Sozialstaates
und mit der Notwendigkeit anderer sozialer Investitionen gerechtfertigt. Dieses
Argumentationsmuster scheint um so plausibler, je mehr die sozialstaatlichen
Prinzipien verblassen und desto weniger soziale Gerechtigkeit als
Verteilungskompromiss zwischen Arbeit und Kapital verstanden wird. Das
grundlegende Denkmuster geht von einem Teilen innerhalb der Klasse aus. Einem
Denken, das nicht mehr durch die älteren Deutungsmuster der Kriegs- und
Nachkriegsgeneration und der Vorstellung einer ausgleichenden sozialen
Marktwirtschaft bestimmt wird, sondern von der in den vergangenen Jahren zur
gesellschaftlichen Maxime erhobenen Logik der Betriebswirtschaft. Einer Logik,
die dem Alltagsverstand wesentlich näher liegt, als eine gesamtgesellschaftliche
Sicht.
Diese Veränderung in den gesellschaftlichen Deutungsmustern ist aber nicht
allein das Werk neoliberaler Ideologen, sondern das Ergebnis einer neoliberalen
Praxis, die inzwischen alle Poren der gesellschaftlichen Praxis durchdrungen hat
und den Eindruck erweckt, als wäre das gesellschaftlich Vernünftige nicht mehr
als die Summe vernünftiger Einzelentscheidungen. Der neoliberal strukturierte
Alltagsverstand denkt sich die Volkswirtschaft wie einen Krämerladen, betrachtet
die Kostenersparnis als die Quelle allen Reichtums und die Nachfrage für ein
Ergebnis niedriger Preise. Dementsprechend orientiert sich die aktuelle
Moralökonomie nur noch wenig am gesamtgesellschaftlichen Nutzen, oder an der
gesamtgesellschaftlichen Nützlichkeit von Solidarität, sondern an einer in die
betriebswirtschaftliche Logik eingesperrten Kosten-Nutzen-Analyse. Seit sich der
Sozialstaat zum Wettbewerbsstaat entwickelt hat, ist die Maxime der Erhöhung der
Wettbewerbsfähigkeit nicht nur zum stehenden Satz in Politikerreden geworden,
sondern zur Alltagswirklichkeit. Selbst der solidarisch gesonnenste Betriebsrat
ist seit dem Siegeszug der neoliberalen Modernisierung damit konfrontiert, dass
die Vernachlässigung der Wettbewerbsfähigkeit schlimme Folgen für die
bestehenden Arbeitsplätze oder sogar für den gesamten Standort mit sich bringen
kann. Kosten zu senken, ist zu einer Überlebensfrage nicht nur des Managements,
sondern auch der Belegschaftsvertretungen geworden. So scheint es dann auch
plausibel, dass dieser Betriebsrat mindestens ein gewisses Verständnis dafür
aufbringt, dass der "Betriebsrat der Nation" die sozialen Kosten seines
Betriebes senken muss, um den Standort zu erhalten.
Moralökonomie, also die Abwägung von Kosten und Nutzen, rechnet heute offenbar
mit Werten, die tatsächlich ihren Namen verdienen, nämlich mit
betriebswirtschaftlichen Kennziffern. Die soziale Moral ist nicht verschwunden,
aber sie wird nach den Maßstäben der einzelwirtschaftlichen Gewinn- und
Verlustrechnung abgerechnet. Wenn man also nach gesellschaftlichen
Deutungsmustern fragt, mit denen das heutige Alltagsbewusstsein den Abbau des
Sozialstaates bewertet, dann muss man sie sich als Abbild der alltäglichen
betriebswirtschaftlichen Denkweise vorstellen. Die aktuell reale, das heißt alle
Lebensbereiche beherrschende Ökonomie liefert auch das Verständnis für die
bestehende Moralökonomie. Neu ist das alles nicht, denn die ökonomische
Alltagspraxis hat zu jeder Zeit auch die Struktur des Alltagsbewußtseins
bestimmt. Der Unterschied liegt nur darin, dass es heute nur noch ein marginal
unterschiedliches Alltagsbewusstsein zwischen dem Unternehmer und dem so
genannten Arbeitskraftunternehmer gibt. Und das liegt in erster Linie an der
zunehmenden Verlagerung des unternehmerischen Risikos in den
Verantwortungsbereich der abhängig Beschäftigten. Während der Fordismus ein
engmaschiges Kontrollsystem für die menschliche Arbeit entwickelte und
gleichzeitig "um die Seele des Arbeiters" rang, geht die moderne
Produktionsweise darüber hinaus und zwingt immer mehr Beschäftigte zur direkten
Erfüllung vorgegebener Unternehmensziele. Das daraus entstehende
Alltagsbewusstsein entwickelt soziale Deutungsmuster, die das
betriebswirtschaftliche Denken adaptieren und damit zunehmend in einen inneren
Widerspruch zu gesamtgesellschaftlichen Logiken oder solidarischen
Orientierungen geraten.
Dieses Zusammenwirken von nachwirkender solidarischer Orientierung und
unternehmerischem Denken beseitigt nicht die Solidarität, aber es pluralisiert
sie, wie Michael Schumann feststellt.8
Es bilden sich begrenzte Solidaritäten heraus, zum Beispiel innerhalb der
Arbeitsgruppe oder an einem Standort, aber diese Solidaritäten stehen
zwangsläufig in Konkurrenz zu anderen Solidargemeinschaften, so dass die
allumfassende Arbeitersolidarität immer mehr in den Hintergrund gedrängt wird.
Wobei die Solidarität mit den Arbeitslosen oder Ausgegrenzten wahrscheinlich
erst recht zu einer Art Verantwortungsethik jenseits der alltäglichen
Intereressengemeinschaften zusammenschrumpft. Insofern entspricht das Theorem
der Moralökonomie ziemlich genau der Pluralisierung der Solidarität, da es die
Abhängigkeit solidarischen Verhaltens von den engen ökonomischen
Alltagserwägungen beschreibt und die Nachrangigkeit der Klassen- gegenüber der
Gruppensolidarität zu erklären vermag.
Ob diese Entwicklung zwangsläufig ist, muss allerdings bezweifelt werden. Denn
diese Pluralisierung der Solidarität ist eine spontane, aus der alltäglichen
Praxis geborene Entwicklung, die wie alle Bewusstseinsprozesse dynamisch und
widersprüchlich abläuft und durch andere Erfahrungen, oder erst recht durch
Erkenntnisprozesse modifiziert werden kann. Auch die alte, scheinbar spontane
Klassensolidarität ist wahrscheinlich mehr eine Erfindung der Sozialromantik,
als eine historisch gesicherte Tatsache. Immerhin hat es Generationen gedauert,
ehe aus den spontanen und lokalen Emeuten der jungen Arbeiterklasse stabile
Klassenbeziehungen wurden. Klassensolidarität ist eine Angelegenheit
gedanklichen Begreifens, das über die spontane Alltagserfahrung hinausgeht. Dass
dieses gedankliche Begreifen heute so schwer fällt, ist mit Sicherheit auf die
Fragmentierung der Produktionsweise zurückzuführen, wird aber auch von
subjektiven Faktoren des gesellschaftlichen Lebens beeinflusst, die sich
außerhalb der Arbeitserfahrung Geltung verschaffen. Und dies um so mehr, als
sich die Umbrüche der Produktion mit Umbrüchen der Biografien und Lebenswelten
verbinden. Diesen Wandel hat bereits die Individualisierungsdebatte in den
1980er Jahren thematisiert, die sich noch außerordentlich stark von der
Pluralisierung der Lebensstile beeinflussen ließ und damit auch die positiven
Momente vor die negativen Begleiterscheinungen stellte. Und so richtig es auch
war, die in der Individualisierung aufgehobenen Chancen zu erkennen und
Anknüpfungspunkte für eine andere, selbstbestimmtere Form von individueller
Vergesellschaftung zu suchen, vor dem Hintergrund einer sich verändernden
gesellschaftlichen Ökonomie mussten sie zwangsläufig in ihr Gegenteil, nämlich
in gesellschaftliche Desintegration umschlagen.
Vom libertären Sozialisten zum
neoliberalen Zyniker
Dass sich das gegenwärtige
gesellschaftliche Bewusstsein gravierend von anderen Bewusstseinszuständen in
der bundesdeutschen Geschichte unterscheidet, und das nicht nur im Hinblick auf
die Akzeptanz sozialer Demontageakte, bedarf keiner ausführlichen Nachweise.
Wenn es jedoch richtig ist, dass soziale Deutungsmuster nie gänzlich
verschwinden, sondern bestenfalls erweitert oder überlagert werden, dann stellt
sich unausweichlich die Frage, weshalb die in der sozialen Marktwirtschaft der
60er Jahre entstandenen sozialen Orientierungen, die Deutungsmuster der
Reform-Ära von Willy Brandt oder erst recht die Bewusstseinsinhalte der
Studierenden- und Protestbewegung offenbar wenig Nachwirkung zeigen. Das zu
beantworten scheint um so wichtiger, als davon ausgegangen werden kann, dass die
damals sozialisierten Politikgenerationen auch heute noch eine maßgebliche Rolle
in der Politik und vor allem in den meinungsbildenden Institutionen spielen. Das
gilt insbesondere für die so genannten Alt-68er und die nachfolgende
Politikgeneration. Für die Beantwortung scheint es wichtig, subjektive Faktoren
zu betrachten, die zwar mit den oben beschriebenen Veränderungen in der
gesellschaftlichen Betriebsweise zusammenhängen, sich aber doch relativ
selbständig entwickelten. Gemeint sind Momente, wie etwa die persönlichen Motive
der politisch handelnden Individuen oder auch Veränderungen in der
gesellschaftlichen Lebensweise und Alltagskultur. Geschichtsetappen mit
scheinbar ähnlicher sozialer Orientierung können sich ziemlich gravierend
voneinander unterscheiden, wenn ihnen unterschiedliche Motive zu Grunde liegen.
Das gilt zum Beispiel für den Unterschied zwischen der sozialen Orientierung des
christdemokratischen Arbeitnehmerflügels und der sozialpartnerschaftlichen SPD
in den 60er Jahren auf der einen und der Studierenden- und Protestbewegung nach
1968.
Nirgendwo lässt sich dieser Unterschied besser nachweisen, als an zwei
klassischen Protagonisten der beiden Etappen, nämlich an Norbert Blüm auf der
einen und Joschka Fischer auf der anderen Seite. Während Norbert Blüm gegen die
eigene Partei und sogar gegen die Bundesregierung an seiner Vorstellung von
sozialer Gerechtigkeit festhält, oder besser gesagt zu ihr zurückkehren will,
versucht Joschka Fischer und mit ihm die gesamte Führung der Grünen Partei der
FDP den Rang abzulaufen. Manchmal scheint Fischer diesen Wandel selbst zu
begreifen, wenn er etwa sarkastisch feststellt: "Ihr seht, wie grotesk die
Situation ist: Ich rede wie Graf Lambsdorff und die grüne Versammlung klatscht."9
Und in der Tat wird der neoliberale Kurs in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik
bei den Grünen nicht allein von den Spitzen, sondern von deutlichen Mehrheiten
der Partei und ihrer WählerInnen getragen. Für die SPD gilt das in ähnlicher,
wenn auch nicht in so ausgeprägter Form. Beide Parteien werden inzwischen von
einem Personal geführt und vertreten, das in den 1970er Jahren politisch
sozialisiert wurde und sich auch die politischen Deutungsmuster dieser Zeit
aneignete. Lange Zeit schien es so, als wenn sich diese Generation durch eine
überwiegend linke, häufig sozialistische und radikaldemokratische Haltung von
der vorhergehenden Politikgenerationen unterschied.
Die Umbrüche nach 1968 rechneten jedoch nicht nur mit dem Faschismus, wie dem
Imperialismus der USA ab und führten zu einer neuerlichen Belebung
sozialistischer und kommunistischer Strömungen, sie justierten auch das
Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft und vor allem zum Staat neu. Die
politischen Akteure befreiten sich von alten Bindungen und Konventionen,
erklärten die individuelle Emanzipation zum Kernpunkt ihrer Politik und
entfalteten in großen Teilen einen radikalen Antietatismus. Dieser
kulturrevolutionäre Bruch erreichte über die Medien sämtliche industriellen
Länder, darunter mehr oder weniger sogar die sozialistischen. Eric Hobsbawm war
wohl der erste marxistische Theoretiker, der in diesem Bruch eine Voraussetzung
für die später daran anknüfende Ideologie des Neoliberalismus entdeckte.
"Paradoxerweise bauten die Rebellen gegen Konvention und Restriktion auf
denselben Prämissen auf, auf denen die Massenkonsumgesellschaft beruht;
zumindest teilten sie die psychologischen Motive, die den Anbietern von
Konsumartikeln und Dienstleistungen die besten Verkaufschancen garantierten.
Stillschweigend ging man davon aus, dass die Welt aus Milliarden Menschen
bestehe, die sich über ihren Drang nach der Erfüllung individueller Wünsche
definierten (...). Ihren politischen Ausdruck fand sie schließlich in der
Äußerung der britischen Premierministerin Margaret Thatcher: 'Es gibt keine
Gesellschaft, es gibt nur Individuen' "10
Selbstverständlich gibt es keinen
deterministischen Zusammenhang zwischen der damaligen Protestbewegung und dem
Ankommen vieler Linker im neoliberalen Lager. Obwohl es durchaus auffällig ist,
wie viele von ihnen den Weg in führende Medienredaktionen und nicht zuletzt in
Regierungspositionen fanden.11
Doch der Weg vom libertären Sozialisten zum neoliberalen Zyniker wurde durch die
antiautoritären oder antietatistischen Deutungsmuster bestenfalls begünstigt,
nicht aber verursacht. Ausschlaggebender waren wohl die persönlichen Karrieren,
die damit veränderte soziale Wahrnehmung und vor allem die sozialökonomische
Entwicklung der 1990er Jahre, von denen Michael Moore rückblickend schreibt,
dass sie "ein allgemeines Klima der Raffgier geschaffen" haben.12
Die abenteuerliche Blase der neuen Ökonomie und des Shareholder-Kapitalismus
entkoppelte nicht nur die Rendite von der Wertschöpfung, sie koppelte die
neoliberal gesinnte Mittelklasse endgültig von jeder sozialen Verantwortung ab
und erhob die Parole "bereichert euch" zur bestimmenden Lebensphilosophie. Das
dominierende gesellschaftliche Deutungsmuster des ausgehenden 20. Jahrhunderts
war das siegreiche, sich bereichernde und von jeder Verantwortung losgelöste
Individuum. Dass auf dieser Spaßgesellschaftsparty die hedonistische
Aufsteigergeneration der 1970er Jahre den Ton angab, war nicht weiter
verwunderlich.
Jetzt, wo die Party vorbei ist, weil sich innerhalb weniger Monate einige
Hundert Milliarden Euro ebenso in Luft auflösten, wie die vielen Startups und
ihre sicher geglaubten Jobs, heißt es cool "Geiz ist geil". Der so werbende
Elektromarkt meint sicher andere, als die Kunden der so genannten neuen Mitte,
aber er trifft ihr aktuelles Lebensgefühl relativ präzise. Das gilt insbesondere
für die Medienmacher und Werbeleute, von denen Deppe schrieb: "Sie haben die
Orientierung ihrer Lebensplanung mehr als andere Gruppen auf den
Shareholder-Kapitalismus der 1990er Jahre, d.h. auf die Finanzmärkte und die
Börsen, ausgerichtet."13
An keiner Gruppe lässt sich besser demonstrieren, wie gesellschaftliche
Deutungsmuster einerseits fortwirken und andererseits unter dem Einfluss der
gesellschaftlichen Entwicklung wie der persönlichen Interessen sich grundlegend
verändern können. Erhalten hat sich lediglich der libertäre und hedonistische
Grundzug, wie auch die Verwechslung von Individualität mit Bindungslosigkeit -
die Solidarität ist im gemeinschaftlichen "demonstrativen Konsum" verdampft.
Zwar hat sich diese neue Mitte in ihrer Jugend vom konservativen Milieu ihrer
Mittelschichteneltern emanzipiert und deren Nationalismus mit dem Ruf nach
internationaler Solidarität beantwortet, doch für ein tragfähiges Bündnis mit
den sozialen Unterklassen des eigenen Landes hat das offenbar von Anfang an
nicht gereicht. Der zeitweilige proletarische Gestus war inszeniert, nicht
anders, als die Spaßgesellschaft der 1990er Jahre. Jetzt, wo der Spaß in Angst
umgeschlagen ist, richtet sie sich gegen alles, wovon man sich angeblich
befreien muss, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen: Vom teuren
Sozialstaat, von den Langzeitarbeitlosen, von den Steuersätzen und natürlich von
den Anmaßungen der Gewerkschaften.
Abschließend ließe sich sagen, dass Amnesie ein zeitlich begrenzter Zustand ist,
verursacht durch außergewöhnliche Ereignisse und Einwirkungen. Es bleiben
meistens so genannte Erinnerungsinseln zurück, die allerdings nur dann zur
Rekonstruktion der gesamten Erinnerungsfähigkeit führen, wenn den verursachenden
Faktoren entgegengewirkt wird. Das gilt mit Sicherheit auch für die Amnesie
gesellschaftlicher Deutungsmuster. Jedes Entgegenwirken erfordert jedoch, dass
man die Logik der Rekonstruktion verschütteter Bewusstseinsstrukturen
durchschaut hat. Etwas, was der Linken zur Zeit noch relativ schwer fällt,
obwohl es das klassische Thema unserer Vordenker war.
1
MEW 3, S.26.
2
Astrid Karl, Carsten
G. Ullrich und Ulrike Wössner, Die Moralökonomie der Arbeitslosigkeit, Mannheim
1998, S.5.
3
Der
Deutungsmusteransatz wurde im Übergang zu den 80er Jahren in der
gewerkschaftlichen Bildungsarbeit entwickelt, um an komplexen Modellen des
gesellschaftlichen Denkens ansetzen zu können. Vgl. dazu Wilke Thomsen, in: A.
Weymann (Hg.), Handbuch für die Soziologie der Weiterbildung, Neuwied 1980.
4
MEW 3, S.26.
5
Ebenda, S.3.
6
Silke Hamann, Astrid
Karl, Die Arbeitslosen und die Solidarität, in: DFG forschung 2/2003, S.9.
7
Ebenda.
8
Michael Schumann,
Metamorphosen von Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein, Hamburg 2003, S.107.
9
Auf dem
Europa-Kongress der Grünen in Mainz, zitiert nach ND vom 3.10.03.
10
Eric Hobsbawm, Das
Zeitalter der Extreme, München 1995, S.419f.
11
Vergl. dazu Frank
Deppe, Gewerkschaften unter Druck, Supplement der Zeitschrift Sozialismus,
9/2003, S.6.
12
Michael Moore, Stupid
white men, München 2002, S.15f.
13
Frank Deppe, a.a.O..
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