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Heft 55, September 2003, 14. Jhrg
Giovanni Arrighi
Niedergang der USA und Neue Weltordnung
Im Frühjahr hatte Z. die Möglichkeit mit dem
amerikanischen Soziologen Giovanni Arrighi zu sprechen. Das Gespräch fand am
22.3.2003 in Baltimore statt. Die Fragen stellten Amy Holmes und David Salomon.
Die Übersetzung besorgte Ingar Solty.
Z: Sei bitte so freundlich und berichte uns von deinen
momentanen Forschungsinteressen.
A.: Meine aktuellen Forschungsinteressen hängen teilweise mit der Problematik
des Nord-Süd-Unterschieds zusammen, d.h. warum hält sich trotz einer Annäherung
des Unterschieds im Grad der Industrialisierung das ökonomische Nord-Süd-Gefälle
bezüglich der Einkommensverhältnisse am Leben. Warum ist dem so, und was
impliziert das für die Nord-Süd-Beziehungen im Politischen, Sozialen,
Kulturellen und so weiter? Das ist mein Hauptinteresse. Allerdings bringen mich
aktuelle Entwicklungen auch immer wieder zu Fragen der Globalen Politischen
Ökonomie zurück. Gerade erst habe ich einen umfangreichen Aufsatz vollendet, der
in der März/April-Ausgabe der New Left Review erscheinen wird*,
und bei dem es sich um eine umfangreiche, kritische Beurteilung Robert Brenners
Analyse der globalen Turbulenzen und deren Entstehungsgeschichte über die
letzten 40 Jahre hinweg handelt. Im Grunde genommen habe ich also mein Interesse
an der Globalen Politischen Ökonomie mit einem besonderen Interesse für den
Graben zwischen dem Norden und dem Süden beibehalten.
Z: Am Anfang deiner wissenschaftlichen Karriere warst
du Afrikanist und in diesem Zusammenhang verbrachtest du in den 60er Jahren
sowohl als Lehrender als auch als politischer Aktivist sechs Jahren auf diesem
Kontinent. Zu dieser Zeit spielte Afrika in linken Diskursen ja eine weitaus
bedeutendere Rolle. Mittlerweile könnte man aber fast sagen, dass den
afrikanischen Kontinent betreffend so eine Art von Amnesie herrscht. Heutzutage
scheint die Linke sich vor allem dann mit dem afrikanischen Kontinent zu
beschäftigen, wenn es sich um Afrika als Opfer der AIDS-Epidemie oder als
Schauplatz von Staatszerfallsprozessen dreht, wohingegen in den 60er Jahren die
afrikanischen antiimperialistischen Bewegungen für viele Linke einen
Hoffnungsschimmer darstellten. Jetzt kehrst du zurück zu einer
Auseinandersetzung mit dem "verlorenen Kontinent". Wie hat sich in der
Vorstellung der Linken die Rolle Afrikas in den letzten 30 Jahren verändert?
A.: Es ist ja nicht nur Afrika, sondern die gesamte Dritte Welt. In den 60ern
und dem Großteil der 70er schien es, als verschöben sich - als ein Resultat des
Dekolonisierungsprozesses und der "Revolte gegen den Westen" - die
Kräfteverhältnisse in den internationalen Beziehungen zugunsten der südlichen
Hemisphäre. Dieses Anschwellen von Stärke und die Herausforderung, die es
darstellte, erreichten ihren Höhepunkt in den 70er Jahren. Was wir dann aber in
den 80er Jahren beobachten konnten, war im Prinzip eine Konterrevolution, die
monetaristische Konterrevolution Reagan und Thatchers, der es gelang, jegliche
Form von Einheit, die auf der Südhalbkugel bzw. in der Dritten Welt existierte,
zu zerstören, und die äußerst divergierende Tendenzen innerhalb des Südens
hervorbrachte. Hauptopfer dieser Konterrevolution waren die Völker Afrikas, und
es ist nicht allein Afrika, sondern die ganze Dritte Welt, die aus der
Vorstellungswelt der Linken verschwunden ist. Natürlich konnten wir auch den
Untergang der Zweiten Welt beobachten, so dass am Ende dieser 20-jährigen
Konterrevolution ein totales Chaos auf der Seite der linken Kräfte zu
konstatieren ist. Ich glaube, dass erst seit etwa drei oder vier Jahren ein
erneutes Auftauchen der Linken sowie ein wiedererstarkendes Interesse an
globalen Fragen beobachtet werden kann. In der Tat verkörpern die
globalisierungskritische Bewegung und die noch kürzer zurückliegende
Antikriegsbewegung den Anfang einer neuen "Neuen Linken". Und es ist ganz klar
und deutlich, dass in dieser neuen "Neuen Linken" Fragen nach der Trennung
zwischen Nord und Süd wieder eine bedeutende Rolle spielen.
Z: In deinen Veröffentlichungen hast du geschrieben,
dass die Trennung zwischen dem Norden und dem Süden insgesamt nicht gleich
geblieben ist, sondern dass sich eine Verschiebung der weltweiten
(Industrie-)Produktion und Wertschöpfung weg von den USA und Europa hin nach
Asien ereignet hat. Der asiatische Anteil am weltweiten Bruttosozialprodukt ist
zwischen 1960 und 1999 von 13 Prozent auf 26 Prozent angestiegen.
A.: Das ist die Wertschöpfung im Produktionsbereich. Der Anteil der weltweiten
Wertschöpfung im industriellen Sektor, der im Süden und insbesondere in Ostasien
produziert wird, hat sich gesteigert. Auch der Anteil des Südens an der
Gesamtwertschöpfung ist angewachsen, allerdings aber vornehmlich aufgrund des
größer werdenden Anteils des Südens an der Weltbevölkerung. Relativ Pro-Kopf
gesehen, hat es keine Veränderung gegeben. Mit anderen Worten heißt das also,
dass in Bezug auf Einkommen und Wohlstand der Graben trotz intensiver
Industrialisierung des Südens derselbe geblieben ist. Daraus ergeben sich zwei
Arten von Problemen, denn innerhalb des Südens selber hat sich eine äußerst
ungleiche Entwicklung herausgebildet. Ostasien ist äußerst rasch aufgestiegen
(im Übrigen bin ich Mitherausgeber eines Buches, das gerade erschienen ist und
das sich mit dem Wiederaufleben Ostasiens - The Resurgence of East-Asia -
beschäftigt); andererseits haben wir Katastrophen wie die in Afrika und in
Lateinamerika. Diese Auseinanderentwicklung konfrontiert den Norden bzw. den
Westen mit zwei Herausforderungen: einerseits die Herausforderung, die
verkörpert wird durch die Zerrüttung von Regionen und ganzen Kontinenten, was
deren Ausbeutung erheblich erschwert, und andererseits die Herausforderung, die
manche ehemalige Dritt-Welt-Regionen, insbesondere Ostasien und dort wiederum
vor allem China, durch ihre gestiegene ökonomische Zentralität darstellen. Es
handelt sich hierbei also um eine doppelte Herausforderung: die Herausforderung
durch das Versagen und die Herausforderung durch den Erfolg zur gleichen Zeit.
Z: Versagen in welchem Sinne?
A: Dem Versagen der Entwicklungsversprechen. Anstelle des "Reichtums für alle
Länder" haben wir riesige Gebiete eines sozial-ökonomischen Chaos. Nun, und dann
haben wir auf der anderen Seite den Aufstieg Ostasiens. Wenn sich diese Region
so weiterentwickelt wie bisher - und natürlich ist China im Moment noch sehr arm
und die meisten seiner Regionen sind noch sehr arm -, dann werden wir in den
nächsten 20 oder 30 Jahren beobachten können, dass diese Region als größter
Markt die Zentralität der USA in der Weltwirtschaft anfechten wird. Das
amerikanische Establishment ist äußerst beunruhigt, angesichts der Möglichkeit,
dass China sich die realen ökonomischen Kapazitäten aneignen könnte, um die USA
dadurch militärisch herauszufordern. Und selbst wenn China keinen Konkurrenten
auf militärischem Gebiet darstellen sollte, ist die Untergrabung der zentralen
Position der USA in der Weltwirtschaft ein Problem, denn tatsächlich beruht die
Fähigkeit Amerikas, die Welt zu beherrschen, weitaus mehr auf seiner
ökonomischen Zentralität als auf militärischer Stärke. Jeder fürchtet sich zum
Beispiel im Moment vor einem Niedergang der US-Wirtschaft, denn wenn diese sich
im Niedergang befindet, gilt das für alle anderen gleich mit. Folglich tun viele
europäische und ostasiatische Regierungen das Äußerste, um einen Abstieg der
US-Wirtschaft zu verhindern. Sollte nun aber in Ostasien ein neues Zentrum
entstehen, das kontinuierlich an Bedeutung gewinnt, dann wird es mehr und mehr
Regierungen gleichgültig sein, ob die US-Wirtschaft sich nach unten bewegt.
Diese Tendenz stellt keine unmittelbare Bedrohung dar, aber sie bedeutet, dass
eine Bedrohung der Stabilität nicht nur im Entwicklungsversagen im Süden,
sondern eben auch im Entwicklungserfolg bestimmter Teile des Südens,
insbesondere Ostasiens, verkörpert ist. Ostasien ist dieses mögliche Zentrum,
weil es heute eben nicht nur die Hauptwerkstätte der Welt ist, sondern auch der
Hauptbereitsteller von Liquidität für das Weltfinanzsystem. Das wird die am
weitesten ausschlaggebende Fragestellung der nächsten zwanzig, dreißig Jahre
sein, denn es ist nicht klar, wie die Vereinigten Staaten das gigantische
Defizit in seinen Zahlungsbilanzen mit dem Rest der Welt, das sich mittlerweile
auf 400 Milliarden Dollar beläuft, ausgleichen wird. Während der Phase der "new
economy"-Blase war diese Blase mit spekulativem Kapital gefüllt, das in
ungeheuerem Maße in die USA floss. Jetzt aber, da die Blase geplatzt ist, kann
dieses Defizit nur auf zweierlei Art und Weise überwunden werden: entweder durch
eine aktive Schrumpfung der US-Ökonomie mit erheblichen Ausmaßen, oder durch die
Transformation von in die USA fließendem Kapital in eine Form von Tribut. Wie
das erreicht werden wird, steht noch gar nicht fest.
Z: In "The Long Twentieth Century" sprichst Du darüber,
wie Phasen der Hegemonie durch ein Ansteigen der Produktion charakterisiert
werden, und Braudel schreibt davon, dass für den Herbst einer hegemonialen Phase
eine finanzielle Expansion charakteristisch ist. Du hast dann auch geschrieben,
dass die Vereinigten Staaten von Amerika das, was sie militärisch nicht
erreichen konnten, mit finanziellen Mitteln erreichten. Könntest Du das
Verhältnis zwischen militärischer und finanzieller Macht ein bisschen genauer
erläutern?
A: "The Long Twentieth Century" und auch "Chaos and Governance" belegen, dass es
sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zwischen historischen Phasen der
finanziellen Expansion gibt. Die Ähnlichkeit besteht darin, dass der sich im
Niedergang befindende Hegemon in der Lage ist, seine Machtposition zu
verstärken, da seine fortgesetzte Zentralität in der Weltwirtschaft ihn in eine
besonders gute Position versetzt, von der finanziellen Expansion zu profitieren.
Allerdings spielten in der Vergangenheit schwerwiegende Eskalationen im
Rüstungswettlauf bei der Schaffung von Nachfragebedingungen für die
Finanzexpansion eine maßgebliche Rolle, wohingegen heute kein wirklicher
Rüstungswettlauf existiert.
Z: Weil niemand da ist, gegen den man wettlaufen
müsste?
A: Im Prinzip ja. In den 80er Jahren gab es eine Eskalation, die besonders für
die Aufrechterhaltung der japanischen Finanzblase wichtig war, weil Japan der
größte Finanzgeber der USA in ihrem Rüstungswettlauf mit der UdSSR war. Aber
nachdem die UdSSR erst einmal bankrott war, platzte die japanische Blase. Die
weitere Verschärfung des Rüstungswettlaufs sah sich mit einem
Glaubwürdigkeitsproblem konfrontiert, es wurde schwerer, immer massivere
Rüstungsausgaben zu rechtfertigen. Ich bin der Überzeugung, dass alle Kriege der
90er Jahre vor allen Dingen zu dem Zweck geführt wurden, eine neue Rolle für das
US-amerikanische Militär, das die Hauptquelle der US-amerikanischen
Wettbewerbsfähigkeit ist, zu finden. Diesem Bereich entstammt die größte Anzahl
hochtechnologischer Innovationen. Und es ist die einzig mögliche Grundlage für
die Transformation der Kapitalströme in die USA in eine Form von Tribut.
Z: Was meinst du genau mit Tribut?
A: Ein Beispiel ist, wie andere Länder für Kriege bezahlen, von denen vor allen
die Vereinigten Staaten profitieren - so wie das Deutschland und Japan während
des Golfkrieges taten. Aber auf einer allgemeineren Ebene bestehen Tribute aus
Zahlungen an die USA im Austausch für realen oder imaginären "Schutz".
Dementsprechend halte ich es für einen äußerst heiklen, meiner Meinung nach
utopischen und letztendlich verheerenden Versuch, andere Staaten dermaßen
einzuschüchtern, so dass diese die USA weiterhin finanziell unterstützen, damit
die USA weiterhin hohe Defizite in der ganzen Welt machen und einen Konsum über
dem eigentlich Möglichen aufrecht erhalten können. Bis dato wird dieser Prozess
von einer sich verstärkenden Verschuldung der USA getragen. Wie lange aber
werden die Verbündeten der USA und der wirtschaftlich mit den USA
zusammenarbeitenden Regierungen Ressourcen in die USA pumpen, und das zu einer
Zeit, in der sie von den USA als irrelevant bezeichnet und auch so behandelt
werden? Diese Dinge entwickeln sich sehr langsam fort. Wenn man aber die heutige
Situation mit der von vor zehn, zwanzig Jahren vergleicht, dann sieht man, dass
die US-Verschuldung unvorstellbare Dimensionen erreicht hat und keine Lösung in
Sicht ist. Das ist das ganze Problem mit "Empire". Hardt und Negri sind sich
nicht nur absolut nicht im Klaren darüber, dass der Graben zwischen dem Norden
und dem Süden fortbesteht, sondern sie vergessen auch völlig die Realität der
Machtstrukturen, die den Beziehungen der USA mit dem Rest der Welt zugrunde
liegen. Wir haben es tatsächlich mit einem Prozess der Schaffung von "Empire" zu
tun, aber zunächst einmal dürfen wir nicht vergessen, dass es sich erstens nur
um einen Prozess handelt, und dass zweitens das US-Projekt äußerst unrealistisch
ist. Das viel wahrscheinlichere Resultat wird Chaos sein, nicht Ordnung. Und
selbst wenn schließlich ein "Empire" auftauchen sollte, dann können wir trotzdem
keineswegs sagen, um was für eine Art "Empire" es sich dann handeln wird.
Z: Hardt und Negri vernachlässigen auch den
Nationalstaat, indem sie behaupten, dass Wettbewerb zwischen den Ländern des
Zentrums politisch eigentlich keine Rolle mehr spielt, als wären wir in einer
Situation des "Ultra-Imperialismus". Das "Empire", das sie beschreiben, ist ein
doch recht harmonisches, obwohl wir Zeugen gehöriger Spannungen zwischen
Deutschland, Frankreich und den USA wurden.
A: An diesem Punkt müssen wir allerdings vorsichtig sein, nicht zwei
unterschiedliche Arten von Wettbewerb miteinander zu vermischen. Es gibt
ökonomische Konkurrenz, die zwischen den Ländern des Zentrums durchaus intensiv
werden kann, und natürlich intervenieren Regierungen auf alle mögliche Art und
Weise. Das Rauf und Runter der Wechselkurse ist ein kritisches Element dieser
Konkurrenz, so wie ich das in meinem Aufsatz in der "New Left Review" diskutiert
habe. Diese Konkurrenz ging und geht aber immer mit Kooperation einher, so dass
Konkurrenz zwischen kapitalistischen Unternehmen auf dem (Welt-)Markt
gleichzeitig von der Zusammenarbeit von Regierungen, insbesondere der
amerikanisch-japanisch-europäischen Zusammenarbeit, flankiert wurde und wird. Im
Zentrum gab es politisch und militärisch bis heute eigentlich keine Konkurrenz.
Militärisch kooperierten die Länder des Zentrums im Rahmen der NATO und anderen
Organisationen. Und es existieren wirklich überhaupt keine Anzeichen von
momentanen Rüstungswettläufen zwischen den Ländern des Zentrums. Die
existierenden Unterschiede beziehen sich in Wirklichkeit natürlich auf die
Frage, wie mit dem Süden, mit der Herausforderung des Südens, umgegangen werden
soll. Und diese Differenzen sind erheblich. Ich denke, dass im Grunde genommen
alles, was im Augenblick passiert, sich in allen belle epoques zugetragen hat,
nämlich, dass der im Niedergang befindliche Hegemon seine Macht überschätzt. In
den 80er Jahren gab es die Überzeugung, dass die USA der Institutionen der
Vereinten Nationen bedurften, um Macht und Einfluss in der Welt auszuüben -
schließlich waren die Vereinten Nationen halb durch die USA geschaffen worden.
In den 90er Jahren wurde die UNO dann als Rivale angesehen, woraufhin sich die
USA der NATO zuwandten. Mittlerweile ist die NATO ein Rivale, und folglich
agieren die USA jetzt alleine; und selbstverständlich sind die USA in der Lage,
alle Schlachten zu gewinnen, aber das schafft noch keine stabile Hegemonie. Die
USA erklären, dass alle existenten Regelungen der internationalen Beziehungen
keine Gültigkeit mehr haben, und sie versuchen, neue Regelungen auf der
Grundlage ihrer militärische Macht zu schaffen. Das ist ein Zeichen, dass Chaos
und nicht Hegemonie einsetzt. Chaos ist nichts anderes als der Zusammenbruch von
Regelwerken, die einer existierenden internationalen Ordnung zugrunde liegen.
Z: Nichteinhaltung der Regeln durch den Hegemon?
A: Das ist, wovon Beverly Silver und ich in "Chaos and Governance" sprachen.
Frühere Zusammenbrüche von Hegemonie traten auf, weil es aggressive neue Mächte
gab, die den untergehenden Hegemon herausforderten, und - zu einem geringeren
Grad - weil der sich im Niedergang befindliche Hegemon seine Macht überschätzte
und versuchte, die eigene Hegemonie in eine räuberische Dominanz umzuwandeln.
Heutzutage ist die Situation genau umgekehrt. Es gibt keine glaubwürdigen
aggressiven neuen Mächte, die den Zusammenbruch des Systems herbeiführen
könnten, sondern die unangefochtene militärische Stärke der USA erscheint den
herrschenden Gruppen - meines Erachtens fälschlicherweise - als ausreichend
genug, die ganze Welt in ein Empire von Tributpflichtigen der USA verwandeln zu
können. Ich halte das für eine Illusion, die - sollte sie mit Entschlossenheit
verfolgt werden - eher Chaos als ein "Empire" hervorbringen wird. Was nach dem
Chaos auftauchen wird, ist schwer zu sagen. Es könnte ein Weltreich mit einer
breiteren Basis sein als nur der USA. Oder es könnte eine Weltmarktsgesellschaft
sein, die ihr Zentrum in Ostasien hat. Das könnte für die USA aber inakzeptabel
sein. Also ist alles, was wir im Augenblick vorausahnen können, eine lange
Epoche von Kämpfen zwischen der Tendenz der globalen Ökonomie, sich mit Ostasien
ein neues Zentrum zu schaffen, und den US-amerikanischen Ansprüchen auf den
Aufbau eines Weltreiches, die darauf abzielen, eben diese Tendenz zu stoppen.
Z: Würdest du behaupten, dass wir es mit einer Art
Refeudalisierung zu tun haben?
A: Ich denke, feudal ist nicht der richtige Ausdruck, der richtige Ausdruck ist
imperial. Es ist aber schwer, ein wahrhaft universales Weltreich aufzubauen,
ganz gleich wie destruktiv die Stärke des Möchtegern-Zentrums des Imperiums ist.
Beispielsweise wurde der Irakkrieg geführt, um neue Ressourcen für das
US-amerikanische Weltreichprojekt zu mobilisieren. Die USA sehen aber schon
allein bei der Befriedung und dem Wiederaufbau des Iraks enormen Kosten
entgegen. Folglich könnte sich der Irak, anstatt Tributquelle zu sein, zu einer
zusätzlichen Belastung des US-Zahlungsbilanzausgleichs entwickeln, so dass
letztendlich die Vereinigten Staaten Deutschland, Japan und andere Länder werden
bitten müssen, einzuspringen und zur Behebung des Chaos, das die Vereinigten
Staaten im Irak und der angrenzenden Region verursacht haben, finanzielle und
andere Hilfen zu leisten. Man wird dann um "humanitäre Hilfe" bitten und es wird
auch "humanitäre Hilfe" geleistet werden, tatsächlich aber wird es sich um die
Extraktion von Tributen handeln. Ich gehe nicht davon aus, dass die
Verantwortlichen dieses Krieges sich über die Implikationen der Handlungen, in
die sie sich und das eigene Land verwickelten, im klaren waren. Ich glaube nicht
an Verschwörungstheorien; ich denke, sie wursteln sich einfach so durch. Für die
Problematik des derzeitigen Übergangs gibt es aber aufgrund der Ausmaße und
Reichweite der Probleme, die im Zusammenhang mit dem Aufbau eines wirklich
universalen Weltreiches oder einer wirklich universalen Weltmarktgesellschaft -
die die einzige realistische Alternative zum Chaos oder der Form von Empire, das
die USA aufzubauen versuchen, wäre - auftreten, tatsächlich keine historisch
vergleichbaren Vorläufer.
Z: Wie denkst du könnte ein Weltmarkt dem Welt-Empire
widersprechen?
A: Es bedarf Formen globaler Regulation. Ich weiß, dass die
globalisierungskritische Bewegung sich auf die WTO konzentriert. Ich bin aber
der Auffassung, dass dies unangebracht ist, weil multilateral zustande gekommene
Vereinbarungen besser als bilaterale Abkommen sind, die im direkten
Aufeinandertreffen notwendigerweise starke Länder gegenüber armen und schwachen
Ländern begünstigen. Die WTO muss als der Ort, an dem die Schlacht um Regelungen
und Regulationen geschlagen wird, verstanden werden. Bis dato hat sie den armen
Ländern nicht gut gedient, aber die Alternative hierzu ist sogar noch schlimmer.
Z: Wir danken dir für dieses Interview.
* Der Aufsatz ist in der März/April-Ausgabe der New Left Review
unter dem Titel The political economy of global turbulance erschienen (Anm. d.
Red.)
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