Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
<<Zurück
 
  Heft 56, Dezember 2003, 14. Jhrg

Editorial

Alle wesentlichen sozialen Auseinandersetzungen beziehen sich gegenwärtig auf Abbau oder Verteidigung des Sozialstaats. Zwischen dessen Heruntertransformierung und „Umbau“ zum „aktivierenden Staat“ nach dem Konzept der Neuen Sozialdemokratie – neuerdings im Vorfeld der SPD-Programmdiskussion von Generalsekretär Olaf Scholz mit „theoretischen“ Weihen versehen – und den immer neuen wie in der Argumentation abgegriffenen neoliberalen Anläufen zu seiner vollständigen Demontage bestehen fließende Übergänge. Wir erlebten in den letzten Wochen und Monaten den vorerst jedoch erfolglosen Versuch, der IG Metall als der mit über 2,5 Mio. Mitgliedern größten sozial-politischen Organisation der Bundesrepublik die Orientierung auf eine klassenautonome Interessenvertretung endgültig auszutreiben. Dabei zogen Bundesregierung, Unternehmerverbände, neoliberal inspirierte Medien und die als „Modernisierer“ titulierte innergewerkschaftliche Strömung, die in den prosperierenden und exportorientierten Sektoren und Großbetrieben der Metallindustrie verankert ist und dort dem Flexibilisierungsdruck der Konzerne unterliegt, an einem Strang. Damit ist die Stoßrichtung der Auseinandersetzung von der staatlich-politischen Ebene auf die Ebene der politisch-sozialen Akteure in einem Moment ausgeweitet worden, wo sich die Gewerkschaft mit dem gescheiterten Streik in der Metallindustrie Ostdeutschlands als „weich“ und angreifbar erwiesen hat und ihre inneren Auseinandersetzungen sich gnadenlos instrumentalisieren ließen. Hier sollte eine zentrale Bastion des Widerstands gegen den sozialen Umbau der Republik geschleift werden. Diese Auseinandersetzung erinnert daran, dass der Sozialstaat weder eine logische Konsequenz kapitalistischer Entwicklung noch ein Geschenk der herrschenden Klasse ist, sondern zum einen ein Ergebnis des sozialstaatlichen Kompromisses der Nachkriegszeit, zum anderen wesentlich auch ein Produkt des Klassenkampfs und insofern in der Tat eine soziale Errungenschaft der Arbeiterbewegung (aus der – inzwischen verflossenen – Periode der Systemkonkurrenz) und gewerkschaftlicher Gegenmacht. Beides wird heute zur Disposition gestellt.

Der nach dem Faschismus in der Bundesrepublik etablierte und im Grundgesetz durch das Sozialstaatsprinzip verankerte kapitalistische „Wohlfahrts- oder Sozialstaat“ wird seit der Krise Mitte der siebziger Jahre sukzessive in Frage gestellt. Heinz-J. Bontrup stellt dies in den Kontext der Doktrinen neoliberaler Wirtschaftspolitik, deren Durchsetzung mit wachsender Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Einkommens- und Reichtumspolarisierung verbunden ist. Alternative Wirtschaftspolitik muss, so der Autor, auf aktive Beschäftigungs-politik und eine hieran orientierte abgestimmte europäische Fiskal-, Geld- und Lohnpolitik setzen. Dies muss Subventionsabbau, eine gegen den Marktmissbrauch der Großunternehmen gerichtete Kartellpolitik sowie Arbeitszeitverkürzung einschließen, wenn, so Bontrup, verhindert werden soll, dass ein Drittel der Gesellschaft „von jeglicher Wohlfahrtsfunktion abgekoppelt“ wird.

Die europäische Integration, die mit dem Ziel vorangetrieben wird, aus der den „wettbewerbstärksten Wirtschaftsraum“ der Welt zu machen, ist ihrerseits Feld der sozialpolitischen Auseinandersetzung mit Rückwirkungen auf den nationalstaatlichen Rahmen. Der sozialpolitische Experte der IG Metall, Hans-Jürgen Urban, sieht hier die „Konturen eines neuen Europäischen Sozialmodells“, in dem es zwar auch weiterhin Sozialpolitik gibt, „aber eine, die zur Sicherung der sozialen Bürgerrechte und zum Schutz gegenüber den Zumutungen der kapitalistischen Marktwirtschaft nicht mehr viel beitragen dürfte.“ Er verweist auf die in der EU praktizierte „offene Koordinierungsmethode“ im Bereich der Sozialpolitik, die auf „Kostensenkung, Verschärfung von Anspruchsvoraussetzungen, Flexibilisierung und – nicht zuletzt – die Öffnung der Felder des sozialen Schutzes für die Einkommens- und Verwertungsinteressen der Finanzmarktakteure“ zielt. Urban plädiert für eine Emanzipation der Gewerkschaften gegenüber diesem Sozialmodell und einer sozialdemokratischen Strategie des „Dritten Weges“, die diesem Modell verpflichtet ist, und sieht Unterstützung für die Linke in Gewerkschaften und Parteien, in den wieder sichtbar werdenden sozialen Protestbewegungen und der transnationalen Vernetzung der Globalisierungskritiker. Unter Rückgriff auf Bourdieu führt Johanna Klages die Symbolik des neoliberalistischen Diskurses vor: die Metaphern, in und mit denen die ökonomische und politische Ordnung „neu“ gedeutet wird. Sie zeigt, wie die Kategorien der neoliberalen Ökonomie auf das Feld der Politik übergreifen und damit der Politik des Sozialabbaus Akzeptanz verschafft wird.

Wie Michael Klundt zeigt, befördern die sogenannten Sozialreformen der Bundesregierung (Renten- und Steuerpolitik, Gesundheitsreform, Umbau der Bundesanstalt für Arbeit) die Polarisierung und die Zunahme von Armut und Reichtum, die sich in der offiziellen Armuts- und Reichtumsberichterstattung zwar deutlich erkennen lassen, über deren Ursachen sie sich aber weitgehend ausschweigt. Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche. Die Umsetzung der Rürup- und Agenda-2010-Vorschläge weist, so Klundt, in die gleiche Richtung. Er plädiert für eine „bedarfsorientierte Armutsbekämpfung“. Eine der sozialpolitischen Reformkommissionen, die Rürup-Kommission, unterzieht Wolfram Burkhardt einer kritischen Analyse. Er führt aus, dass die Arbeit der Kommission von Anfang an vom neoliberalen Dogma der „Senkung der Lohnnebenkosten“ bestimmt war. Ihre Vorschläge führen nicht zu einer nachhaltigen Finanzierung des Gesundheitswesens, sondern zur Aushöhlung von dessen solidarischer Finanzierungsbasis.

Die Beiträge zur Marx- und Marxismus-Forschung stehen im vorliegenden Heft unter dem Stichwort „Perspektiven auf Marx“. Manfred Baum geht – in kritischer Auseinandersetzung mit Hannah Arend und Alfred Schmidt – dem Freiheitsbegriff bei Marx nach. Friedrich Tomberg misst in seinem Aufsatz „Habermas – Rekonstruktion des historischen Materialismus?“ dem zukünftigen Marxismus dann Tragfähigkeit zu, wenn es ihm gelingt, die Habermassche Negation des Marxismus seinerseits produktiv zu wenden und zu verarbeiten. Zwischen Kapitalismus und Sozialismus tritt, so seine These, eine eigenständige Gesellschaftsformation globaler Vergesellschaftung.

Deren gegenwärtiger Status ist Gegenstand verschiedener Beiträge, mit denen die Diskussion um neuen Imperialismus und die Zentrum-Peripherie-Beziehungen fortgesetzt wird. Giovanni Arrighi legt im Interview seine Ansicht zur Stellung der USA im heutigen Weltsystem dar. Die USA versuchen laut Arrighi, ein Weltreich unter ihrer Vorherrschaft zu errichten. Die Konsequenz daraus sei wahrscheinlich weniger eine Neue Weltordnung als vielmehr globales Chaos. Matin Baraki beschreibt nach seinem diesjährigen Aufenthalt in Afghanistan chaotische Nachkriegszustände des Landes unter einem den geostrategischen Optionen der USA gefügigen Regime, das weder legitimiert ist, noch von der Bevölkerung akzeptiert wird. Rainer Rilling arbeitet Momente des neuen Internationalismus heraus, die sich im Weltsozialforum von Porto Alegre zeigten. An das chilenische Experiment der Unidad Popular-Regierung unter Salvador Allende erinnert Winfried Roth anhand der Bücher von Akteuren der Ereignisse, die vor 30 Jahren zum Militärputsch führten. Die gegenwärtige Situation in Kolumbien und die Rolle der Linken analysiert Stefan Schmalz. Die hohen symbolischen Funktionen, mit denen Stichworte wie „Zapatistas“ und „Chiapas“ in linken Debatten versehen sind, nehmen Margarete und Karl Hermann Tjaden zum Anlass, die weniger bekannten historischen Voraussetzungen des seit Anfang 1994 andauernden zapatistischen Aufstands zu untersuchen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen für die Erfolgschancen seiner Forderungen nach indigener Selbstbestimmung.

Hardt/Negris „Empire“-Konzept ist in Fortsetzung der Beiträge in Z 53 und 54 Gegenstand einer kritischen Betrachtung. Anneliese Braun setzt sich aus marxistisch-feministischer Sicht mit deren Begriff von „immaterieller Arbeit“ auseinander. Neben dem Aufsatz von Urban (s.o.) werden Probleme der EU-Integration auch in dem Beitrag von Andreas Wehr zum EU-Verfassungsentwurf sowie in den Diskussionsbemerkungen von Wilhelm Ersil zu Z 54 (EU-Osterweiterung) behandelt.
Neu in die Redaktion eingetreten ist David Salomon (Marburg), den Leserinnen und Lesern der Zeitschrift schon bestens bekannt.

Z 56 (Dezember-Heft) wird, wenn sich die Redaktionsplanung einhalten lässt, den Themenkomplex „Macht und Gegenmacht“ (Gewerkschaften, Sozialdemokratie und soziale Gerechtigkeit) behandeln. Z 57 soll Aspekte der ökonomischen Macht zum Gegenstand haben.
 
Zum Seitenanfang