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Heft 51, Juni 2002, 13. Jhrg
Fausto Bertinotti
Drei Gründe für ein Scheitern*
Die Rechtsverschiebung nach den Wahlen in Frankreich
Die
letzten Präsidentschaftswahlen in Frankreich zwingen die gesamte europäische
Linke zu einer Reflexion und Debatte. Ich möchte dem
bisher Gesagten die Einschätzung einer politischen Kraft hinzufügen, die sich
nicht den Optionen der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien
anschließt und die diese in der Tat für absolut ungeeignet zur Bewältigung der
neuen weltweiten politischen Konstellation, die wir Globalisierung nennen, hält:
der Rifondazione Comunista.
Ich stimme denjenigen zu, die unterstreichen, dass diese Wahlen vor allem die
Niederlage einer Linken an der Regierung ausdrücken. Ich finde aber die
Analysen, die zahlreiche Kommentatoren, unter ihnen auch die angesehensten aus
Italien und Frankreich, bezüglich dieses Scheiterns vorbringen, wenig
überzeugend.
In
der Sache glaube ich nicht, dass die Gründe der Niederlage psychologischen
Schranken oder Fehlern in der Kommunikationsstrategie von
Lionel Jospin zugerechnet werden
können. Ich glaube auch nicht, dass die gewiss enttäuschende Wahlkampagne als
Erklärung für das Debakel der Linken ausreicht. Noch weniger erhellend ist es,
einen Konflikt zwischen Inhalt und Geist der Politik, zwischen „Regierung" und
„Identität", zwischen Ethik und Politik zu unterstellen; genauso wenig wie das
Scheitern der Spaltung der linken Kräfte zugerechnet werden könnte. Viele der
Thesen sind zu oberflächlich, um wahr zu sein.
Scheitern reformistischer Politik
Die Niederlage der französischen Sozialisten und ihrer Regierung offenbart vor allem
das Scheitern der reformistischen Politik angesichts der Globalisierung. Die
französische Linke hat verloren, weil sie nicht in der Lage war - genauso wenig
wie die anderen sozialistischen oder linkszentristischen Regierungen und
Parteien in ganz Europa -, eine qualitative Antwort gegenüber den
Erschütterungen, die die Globalisierung hervorruft, zu liefern. Diese Niederlage
ist der Beweis (der umso deutlicher ausfällt, als wir feststellen können, dass
Jospin besser oder zumindest weniger schlecht regiert hat als die meisten
anderen Regierungen der Linken), dass heute ein Kompromiss zwischen den
Anforderungen des globalisierten Marktes und dem Reformismus herrscht - ein
Kompromiss, den die Sozialdemokraten in der letzen Zeit zu formulieren
versuchten, und den sie als den „Dritten Weg" beschreiben.
Ich bin mir bewusst, dass meine Einschätzung nicht großzügig ausfällt. Ich
verstehe die Bedeutung der Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden (wir waren auch
die einzige Partei Italiens, die sie unterstützt hat). Aber genau dieses Gesetz
und die Art, in der es angewandt wurde, machte deutlich, ab welchem Punkt es
unmöglich ist, einen Kompromiss mit dem ökonomischen System des Kapitalismus und
der Globalisierung, das in Frankreich wie auf der ganzen Welt die absolute
Flexibilität fordert, zu erreichen.
Der
Versuch der französischen Regierung, die Arbeitszeitverkürzung und die
Flexibilität miteinander zu verbinden, mit dem Ziel, Unternehmer und Arbeiter
gleichermaßen zu befriedigen, hat damit geendet, dass die Lage vieler
Lohnabhängiger unsicherer und prekärer geworden ist. In einer Arbeitswelt, die
schon sehr viele Unsicherheiten kennt, hat das neue Unsicherheiten nach sich
gezogen und auf diese Weise überzeugende Perspektiven nur für die oberen
Schichten der Lohnabhängigen eröffnet.
Dasselbe könnte man
über die Privatisierungen sagen. Auch sie wurden in Frankreich eingeführt, um
einen Kompromiss mit den Erfordernissen des globalisierten Marktes zu finden.
Auch sie haben Konflikte, soziale Prekarisierung und Unsicherheit nach sich
gezogen: bei den Arbeitern des öffentlichen Sektors, die ihrer alten Garantien
beraubt wurden, bei den Bürgern, die im Hinblick auf die angebotenen
Dienstleistungen verunsichert wurden und möglicherweise beim Großteil der
Franzosen, die aufgrund von Prozessen, die sie als äußere erleben, die Rolle des
Staates redimensioniert sahen.
Das neue rechte Gesicht des Kapitalismus
Der
zweite Punkt, an dem ich mit einer großen Zahl von Analysen nicht übereinstimme,
bezieht sich auf die politische Rechte. Sie hat sich in ganz Europa, das bis vor
wenigen Jahren von sozialdemokratischen Regierung gelenkt wurde, verstärkt.
Faktisch in ganz Europa ist neben einer demokratischen Rechten eine
rassistische, fremdenfeindliche gewaltbereite Rechte entstanden. Sie stellt
indes keine Anomalie dar. Berlusconi und sein Verbündeter Bossi stellen in
Italien keineswegs einen Betriebsunfall dar. Die Stärkung von Le Pen in Frankreich ist
keine Verirrung der Geschichte.
Dabei handelt es
sich nicht um den alten Populismus, wir sind mit keinem Wiederaufleben des
historischen Faschismus konfrontiert. Diese Rechte ist nur eines der Gesichter -
das unerbittliche und moderne Gesicht - des neuen Kapitalismus, der, um weiter
zu wachsen, neue Formen des Autoritarismus und der Fremdenfeindlichkeit gebären
muss. Aber er lässt diese sich parallel und in Koexistenz entwickeln mit einer
technokratischen Konzeption, einem blinden und absoluten Gehorsam gegenüber den
Gesetzen des Marktes und einem ökonomischen Liberalismus, der nicht den
geringsten Skrupel gegenüber den Lebensbedingungen der Arbeitenden zeigt. Würde
man diese Wechselwirkung nicht sehen, weil man die neue Rechte als Anomalie oder
als Anachronismus begreift, so verstünde man nicht, warum sie im Zentrum der
modernen ökonomischen Prozesse anwächst.
Man zielte dann darauf,
ihr ein rückständiges ein überaltertes Bild zu geben, mit einem Wort: man würde
sie unterschätzen.
Die heutige
Rechte ist aber im Gegenteil stark und sie nährt sich nicht nur, zieht Stärke
nicht nur aus dem Scheitern der Sozialdemokraten, sondern gleichzeitig auch aus
der beispiellosen politischen Krise. Auffällig ist doch, dass Jospin und Chirac
gemeinsam weniger als 40 Prozent der Stimmen der ersten Runde der
Präsidentschaftswahlen erhalten haben, und das bei einer Wahlenthaltung von 28
Prozent. Und das sind nur Symptome dieser Krise. Man könnte ihnen andere in den
europäischen Gesellschaften anfügen. Worauf es heute ankommt, ist die
Untersuchung der Motive. Diese liegen in der sozialen Erschütterung, die durch
die kapitalistische Globalisierung hervorgerufen wurde. Der Kampf unter den
Armen, die Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeit, das Anwachsen der
Arbeitslosigkeit, die Marginalisierung in den Metropolen haben die Gesellschaft
tiefgreifend verändert. Sie haben darüber hinaus die politische Repräsentation
schwierig, bisweilen sogar unmöglich gemacht. Diese wurde in der Folge
aufgesplittert und bedingte beispielsweise eine Spaltung auf der Linken und die
Zunahme der Parteien, welche zahlreiche Kommentatoren in Italien und Frankreich
als die Ursache der Niederlage identifizieren.
Das wäre aber eine übereilte und irrige Einschätzung. Die Fragmentierung auf der
Linken ist die Konsequenz der sozialen Auflösung, die ihrerseits die
dramatischste Konsequenz der Globalisierung darstellt. Sie ist somit auch nicht
die Ursache einer Niederlage, die für die Linke bereits auf dem sozialen Terrain
stattgefunden hat, sondern sie ist eine ihrer Konsequenzen. Also ist es
erforderlich, die tiefen Ursachen der politischen Krise am Ende des 20.
Jahrhunderts zu erforschen und eine Neugründung des Politischen vorzuschlagen.
Extreme Stimmen
Damit komme ich zum
dritten Aspekt des französischen Votums. Häufig wurden die Stimmen der extremen
Rechten und der extremen Linken unter einem Gesichtspunkt zusammengezählt. Es
handele sich bei beiden um Stimmen gegen das System. Arlette Laguiller und Jean-Marie
Le Pen hätten die
Opposition zum Regelsystem, dem der Staat folgt, gemeinsam. Beide wiesen dies
gleichermaßen zurück. Ich glaube, dass die Stimmen der extremen Linken in jedem
Fall Stimmen gegen das System oder genauer, Stimmen gegen die kapitalistische
Globalisierung, ihre Ursachen und ihre Konsequenzen in der Gesellschaft,
darstellen. Die Stimmen für den Chef des Front National, verbleiben jedoch
innerhalb des Systems. Le Pen interveniert in die
Spaltungen und die Unsicherheiten, die der moderne Kapitalismus im Westen
hervorruft und die besonders in den großen Städten sichtbar werden. Er
übertreibt sie, er verstärkt sie, er macht sie zu Hebeln seines Einflusses.
Könnte denn der FN überhaupt existieren ohne die Angst, die die Marginalisierten
der Vorstädte hervorrufen, ohne das Gefühl der Unsicherheit, die aus der
Prekarisierung der Arbeit entsteht, ohne die Angst, die die Immigrantinnen bei
den Franzosen
auslösen? Le Pen ist gleichzeitig Ausdruck der Krise des sozialen Zusammenhaltes
und jener Faktor, der darauf abzielt, diese zu radikalisieren.
Wir haben dieser Tage
in Frankreich eine außerordentlich wichtige Rebellion gegen die extreme Rechte
erlebt. Wir haben vor allem die Jungen und die ganz Jungen gesehen, die gegen
die faschistische und ausländerfeindliche Rechte auf der Straße protestieren.
Ich habe dabei aber nicht eine Neuauflage der alten Volksfront-Politik, einen
antifaschistischen Kampf der alten Sorte erlebt. Die Linke würde einen
neuerlichen Fehler machen, wenn sie die Bewegung so interpretieren wollte. Was
ich gesehen habe, ist ein neues Bewusstsein über die sozialen Schäden, die das
System hervorruft, ein Versuch, sich das Politische von Grund auf neu
anzueignen, es ins Zentrum der Gesellschaft zu stellen, insgesamt das Entstehen
eines neuen Willens zum Wechsel, eine weitere Frucht der Bewegung der Bewegungen
des Volks von Seattle.
Es sind Beiträge dieser Art, deren die
französische Gesellschaft und die europäischen Gesellschaften bedürfen. Ohne
diese würde Europa Gefangene von Maastricht und ohne ein Zukunftsprojekt
bleiben. Es bleibt an uns, uns zu fragen, ob die Politiker, aber gleichzeitig
die Intellektuellen und die Medien es verstehen werden, diese neuen
Anforderungen aufzugreifen oder ob diese für sie ein weiteres mal leere Worte
bleiben.
* Der von Fausto
Bertinotti, Generalsekretär der italienischen Rifondazione Comunista, in
Le Monde vom 12. Mai 2002
veröffentlichte Text erschien in der deutschen Übersetzung von Walter Baier in:
Volksstimme, Wien, 26./27. Juni 2002.
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