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Heft 51, Juni 2002, 13. Jhrg
Fast überall in Westeuropa erstarken (ultra)rechte Strömungen und verzeichnen rechtspopulistische Kräfte zum Teil erhebliche Einflussgewinne. Die sozialdemokratische „Neue Mitte" wurde dagegen in den meisten EU-Staaten abgewählt. Beides hängt m.E. damit zusammen, dass sie die Hoffnungen auf einen Politikwechsel im Bereich der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht erfüllte. Hier soll gefragt werden, wie es der populistischen Rechten gelingt, die Enttäuschung vieler Menschen über die Regierungspraxis von Sozialdemokrat(inn)en bzw. Mitte-Links-Kabinetten in Zustimmung für ihre unsozialen Alternativprojekte umzumünzen. Dabei bildet die Bundesrepublik insofern einen Sonderfall, als der rechte Populismus in Deutschland (noch) keine parteipolitische Form gefunden hat, die sich auf der Ebene des Zentralstaates gegenüber den etablierten Parteien behaupten kann. Gleichwohl gibt es mit der Partei Rechtsstaatlicher Offensive (PRO) des Hamburger Innensenators Ronald B. Schill auf regionaler Ebene bereits entsprechende Ansätze. Ein anderes Dilemma löst der Rechtspopulismus allerdings leichter: Er profiliert sich als schärfster Kritiker und einzig möglicher Retter des Wohlfahrtsstaates gleichzeitig. Rechtspopulismus als moderne Politikform und Problem der bürgerlichen MitteDer Terminus „Rechtspopulismus" wird oft anstelle und in Abgrenzung von „Rechtsextremismus" benutzt, um damit deutlich zu machen, dass es sich um eine modernisierte und salonfähigere Form derselben Richtung handelt. Der Populismusbegriff ist deshalb schillernd, weil darunter sowohl basis- und radikaldemokratische wie auch antidemokratische Strömungen/Bestrebungen subsumiert werden. Er charakterisiert nicht die Politik einer Partei, sondern die Art, wie sie gemacht und „an den Mann (auf der Straße) gebracht" wird: „,Populistisch' genannte Bewegungen und Strömungen appellieren an das Volk' im Gegensatz zu den Eliten, insbesondere an die einfachen Leute', und nicht an bestimmte Schichten, Klassen, Berufsgruppen oder Interessen." (Puhle 1986, S. 13) Zwar haben Rechtspopulisten nur wenig Hemmungen, ihrerseits - etwa als Parlamentsabgeordnete oder Minister - die Privilegien der Mächtigen und Regierenden in Anspruch zu nehmen, sie verlangen jedoch von diesen, sich persönlich nicht zu bereichern, sondern selbstlos „der Sache des Volkes" zu dienen. Armin Pfahl-Traughber (1994, S. 18 f.), der unter „Populismus" keine politische Ideologie, sondern eine Politikform versteht, nennt als wichtige Kennzeichen den Bezug auf das „Volk" als homogenes Ganzes, den Rekurs auf das Unmittelbare bzw. die direkte Beziehung zwischen Basis/"Volk" und populistischem Akteur sowie die Anlehnung an den „Stammtisch"-Diskurs, real existierende diffuse Einstellungen, Ressentiments und Vorurteile. Problematisch ist der Terminus „Rechtspopulismus", wenn er als eine Art politischer Kosename für den Rechtsextremismus benutzt wird und einer Verharmlosung von dessen Gefahrenpotenzial dient. Durch sein populistisches Auftreten verändert der Rechtsextremismus sein Gesicht, aber nicht sein Wesen (vgl. hierzu: Butterwegge 2002a, S. 23). Bei dem, was „Rechtspopulismus" genannt wird, handelt es sich weder um ein neues Phänomen noch um eine mit dem Extremismus kontrastierende und konkurrierende Strömung. Wohl kann man die im modernen Rechtsextremismus dominante Agitationstechnik populistisch nennen. Dabei werden Sorgen, Nöte und Bedürfnisse des „einfachen Volkes" zu demagogischen Zwecken aufgegriffen und so in ein Projekt gegen die politische Klasse eingebaut, dass Eigentums-, Machtund Herrschaftsverhältnisse unangetastet bleiben. Stattdessen wendet sich der rechte Populismus gegen (Rand-)Gruppen, denen man die Schuld an Missständen zuschiebt. Wenn die Kritik an einem angeblich überbordenden, die Wirtschaft lähmenden und den Standort gefährdenden Wohlfahrtsstaat im Mittelpunkt der Wahlkampfpropaganda einer Rechtspartei steht, spricht Frank Decker (2000, S. 213 £) von „ökonomischem Populismus", den er gegenüber einer „politischen" (bzw. „institutionellen") sowie einer „kulturellen" Variante desselben Phänomens in westlichen Demokratien abhebt. Charakteristisch ist, dass die zunehmende Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten nicht als Konsequenz einer ungerechten Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen, vielmehr als Resultat der zu großen Durchlässigkeit bzw. Aufhebung der Grenzen für Migrant(inn)en thematisiert wird. Rechtspopulismus zieht seine (wahl)politische Legitimation nicht zuletzt aus der Ohnmacht, in die Staat und Politik durch den Globalisierungsprozess angeblich geraten. In der Krise des Sozialen und der politischen Partizipation schlägt die Stunde von Demagogen, und je mehr sich die europäische Sozialdemokratie dem neoliberalen Mainstream anpasst, umso leichter fällt es Rechtspopulisten und Neofaschisten, sich als Hoffnungsträger einer entmündigten und ohnmächtig der Weltmarktdynamik ausgelieferten Bevölkerung zu präsentieren. Vor allem junge Menschen verfallen dem Irrglauben, die Gesellschaft durch demokratisches Engagement nicht mehr verändern zu können, sondern einem charismatischen Führer folgen zu müssen, wenn es ihnen darum geht, transnationalen Konzernen und anderen Global Playern in den Arm zu fallen. Hierzulande greift der Rechtspopulismus bisher weniger (als in den meisten übrigen EU-Staaten) das Gefühl der Entfremdung zwischen Bürger(inne)n und dem politischem bzw. Parteiensystem, sondern stärker folgende drei Schlüsselthemen auf, die er in demagogischer Manier so miteinander verschränkt, dass Migrant(inn)en als Sündenböcke fungieren und der Ruf nach einem „starken Mann" als notwendiger, wenn nicht wichtigster Schritt zur Lösung sämtlicher Probleme erscheint: - die Krise des Arbeitsmarktes, des Staatshaushalts und des Systems der sozialen Sicherung; - das Problem der demografischen (Fehl-)Entwicklung, des Geburtenrückgangs und der künftigen „Vergreisung"; - das Spannungsverhältnis zwischen Migration in multikulturellen Einwanderungsgesellschaften, Defiziten der Integration und dem traditionellen Konzept des Nationalstaates (Bedürfnis nach „deutscher Identität") im Zeichen der Globalisierung. Betrachtet man die Parteienlandschaft der Bundesrepublik, so wird man wohl noch am ehesten die so genannte Schill-Partei als rechtspopulistisch bezeichnen können, wenngleich sie von ihrer Gründung an versucht, sich ideologisch und organisatorisch vom Rechtsextremismus abzugrenzen. Da sich die PRO im letzten Wahlkampf zur Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg fast nur mit dem Thema „Innere Sicherheit' bzw. „(Ausländer-)Kriminalität" beschäftigt, „Law and order"-Parolen verbreitet und einen Ausbau der Polizei gefordert hat, weist ihr Profil gewisse Überschneidungen mit rechtsextremer Programmatik auf. Die starke Personalisierung auf den Parteigründer hat mit zu ihrem Image als Rechts- bzw. Führerpartei beigetragen, die sich auf populistische Weise der Sorgen „kleiner Leute" annimmt. Nach dem von Jürgen W. Möllemann inszenierten Antisemitismus-Streit mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland deutet allerdings manches darauf hin, dass die FDP einen rechtspopulistischen Kurswechsel vollziehen und sich ihre prominentesten Politiker zu „Wort-Führern" dieser Richtung aufschwingen könnten (vgl. dazu: Funke/Rensmann 2002). Es wird erst noch abzuwarten sein, ob sich der Rechtspopulismus in der Bundesrepublik in Gestalt einer seit Jahrzehnten etablierten Partei formiert oder auf den Neuaufbau einer Organisation setzt. Was sich allerdings heute schon zeigt, ist die Überschneidung ultrarechter und bürgerlich-seriöser Diskurse der gesellschaftlichen Mitte (vgl. ausführlicher: Butterwegge u.a. 2002). Themen der Rechten werden zu Themen der Mitte (gemacht)Argumentationsmuster rechter bzw. rechtsextremer Strömungen beziehen sich häufig auf Diskurse der „Mitte". Diese wiederum greift zunehmend Problemstellungen auf, die zunächst in ultrarechten Kreisen erörtert worden sind, weshalb ich die These vertrete, dass es immer mehr Überlappungen zwischen der Rechten und der Mitte gibt. Angesichts des Bundestagswahlkampfes stellt sich daher die Frage, ob der Rechtsextremismus, von dem sich alle etablierten Parteien geradezu demonstrativ distanzieren, ein Rand(gruppen)problem oder ein Phänomen der Mitte ist. Ethnisierende Zuschreibungen und nationalistische Positionen sind stärker in die politische Mitte der Gesellschaft gerückt. Daher hat der viel beschworene "Konsens der Demokraten" gegen den grassierenden Rechtsextremismus auch eine problematische Note. Denn die dringend notwendige Abwehr von Rechtsextremismus, Rassismus und Nationalismus kann nur Wirkung zeigen, sofern die Bekämpfung seiner strukturellen Ursachen nicht vernachlässigt wird. Wenn es allerdings um die eigene Mitverantwortung an exzessivem Rassismus sowie Auswüchsen rechtsextremer Militanz geht, wandelt sich der öffentlich proklamierte Antifaschismus der etablierten Politik zu völliger Ignoranz bzw. Verweigerung: „Ich halte nichts von der These, dass der Extremismus aus der Mitte kommt", bekundete etwa Bundesinnenminister Otto Schily, gefragt danach, ob das Gerede über die „deutsche Leitkultur" die Übergriffe auf Ausländer mit hervorbringe und dem Rechtsextremismus Vorschub leiste. In demselben Interview, das am 2. November 2000 in der „Zeit" erschien, warb Schily, auf Probleme der Integration von Türk(inn)en und Tendenzen ihrer Gettoisierung (Stichwort: Berlin-Kreuzberg) angesprochen, zwar für all jene Migrant(inn)en um Verständnis, die im Aufnahmeland zu Menschen mit der ihnen vertrauten Sprache und vergleichbaren Gewohnheiten ziehen. „Das ist übrigens eine Eigenschaft, die auch dem deutschen Volkscharakter nicht fremd ist. Deutsche haben in Obersee auch immer die Nähe zu Deutschen gesucht." Mit einem Begriff wie „deutscher Volkscharakter" leistet man der Ethnisierung sozialer Verhaltensweisen allerdings selbst dann Vorschub, wenn er im Rahmen der Argumentation für Migration, Integration und multikulturelles Zusammenleben benutzt wird. Seit der Unterzeichnung des Zuwanderungsgesetzes durch Bundespräsident Rau am 20. Juni 2002 sind Migration und Integration ein Wahlkampfthema, das von sozialdemokratischer Seite nicht viel anders besetzt wird als von konservativer. So verteidigte Otto Schily in einem Interview, das er der „Süddeutschen Zeitung" gab, mit folgender Begründung eine Anzeigenserie der Bundesregierung, die Zuwanderung eng mit dem Zwang zur Begrenzung und Verringerung in Verbindung brachte: „Eine unbegrenzte Zuwanderung kann das Land nicht verkraften. Deshalb ist es auch falsch zu behaupten, wir könnten die demographische Lücke einfach durch Zuwanderung auffüllen." Gleichzeitig wandte sich Schily dagegen, durch die staatliche Förderung des Erwerbs der Herkunftssprache „irgendeine neue Minderheit in Deutschland" zu schaffen, und warnte vor sonst möglicherweise entstehenden „Parallelgesellschaften". Als „beste Form der Integration" bezeichnete der Bundesinnenminister die Assimilation, worunter er zunächst „eine gewisse Anpassung und Angleichung an die hiesigen Lebensverhältnisse" versteht. „Die Türken müssen hineinwachsen in unseren Kulturraum." (SZ v. 27.6.2002) Davon, dass Integration „keine Einbahnstraße" ist, sondern eine Herausforderung für die Aufnahmegesellschaft, war nicht (mehr) die Rede. Meist werden im Kontext der Zuwanderung sogar Bedrohungsszenarien entworfen, die Klischees, Ressentiments und Abwehrhaltungen gegenüber Migrant(inn)en und Flüchtlingen erzeugen. Dabei gibt gerade die Umdeutung sozioökonomischer Krisenprozesse in ethnische Konfliktkonstellationen dem Rassismus argumentativ Nahrung. Hier spielt die Boulevardpresse eine besonders unrühmliche Rolle, aber auch Journalist(inn)en der seriösen Medien werden ihrer Verantwortung nicht gerecht (vgl. hierzu: Butterwegge/Hentges 2001). Wellen rassistisch motivierter Gewalt und rechtsextremer Anschläge stehen im Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion um (Möglichkeiten/Grenzen der) Zuwanderung und (Probleme der) Asylpolitik. Rechte Straftäter können sich - teils nicht ohne Grund - als Vollstrecker eines breit bekundeten „Volkswillens" fühlen, was durch entsprechende Erklärungen und Stellungnahmen etablierter Politiker unterstrichen wird. Die von offizieller Seite gern behauptete Weltoffenheit scheint auf für den „eigenen" Wirtschaftsstandort bzw. die nationale Kapitalakkumulation „Nützliche" beschränkt zu sein; den als „Sozialschmarotzer" oder „Parasiten" diffamierten Asylbewerber(inne)n schlägt jedoch eine wachsende Ablehnung entgegen. Rassistisch motivierte Gewalttaten vollziehen sich in einem gesellschaftlichen Klima, das durch Horrormeldungen über den demografischen Wandel („Vergreisung" und „Schrumpfung" der Bevölkerung), daraus erwachsende Probleme für den Sozialstaat sowie Auseinandersetzungen über die Formen der Zuwanderung und des interkulturellen Zusammenlebens geprägt ist. Als zentrales Ergebnis seiner Analysen zur politischen Kultur in Deutschland hält Thomas Herz (1996, S. 496) fest: „Die Gewalt von rechtsradikalen und neonazistischen Jugendlichen gegen Asylbewerber, Ausländer und andere Minderheiten ist das Ergebnis eines Diskurses über Ausländer und Fremde, der vor allem durch Eliten produziert worden ist." Anne Claire Groffmann (2001, S. 67) hat im Rahmen ihrer Untersuchung der 1991/92 geradezu kampagnenartig zugespitzten Asyldiskussion nachgewiesen, dass die jugendlichen Gewalttäter von der Union und ihren publizistischen Helfern in doppelter Hinsicht funktionalisiert wurden: „Zum einen dienten sie als Beweis dafür, wie die Zuwanderung die Bevölkerung in eine Notlage gebracht habe. Zum anderen lenkte die starke Stigmatisierung von der inhaltlichen Nähe ab und stellte eine scheinbar klare Distanz zwischen den Argumenten der Unionsparteien und den Taten der Jugendlichen her." In öffentlichen Debatten darüber droht eine zunehmende Ethnisierung der sozialen Beziehungen, Sicherheitsprobleme und ökonomischen Konflikte (vgl. dazu: Bukow 1996). Typisch hierfür waren bzw. sind Kontroversen um die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts („Doppelpass"), politische Initiativen zur Anwerbung ausländischer Fachkräfte („Green Card") sowie von Zuwanderem erwartete Integrationsleistungen (Anpassung an die „deutsche Leitkultur"). Rechtsextremisten beziehen sich dabei auf Politiker und Publizisten der „Mitte", die dadurch zu Stichwortgebern für antidemokratische Kräfte werden und ihnen manchmal regelrechte politische Steilvorlagen liefern (vgl. hierzu: Butterwegge 2002b). Umgekehrt greifen sie nicht selten Problemstellungen auf, die zuerst nur in ultrarechten Kreisen erörtert worden sind, sodass es mehr ideologische Schnittmengen zwischen der Rechten und der Mitte gibt. Überlappungen zwischen neoliberaler,
(national)konservativer und rechtsextremer Sozialstaatskritik
Globalisierung: Infolge der sich verschärfenden Weltmarktkonkurrenz müsse der
„Standort D" entschlackt und der Sozialstaat „verschlankt" werden, wolle man die
Konkurrenzfähigkeit und das erreichte Wohlstandsniveau halten. Der
(nordwest)europäische Wohlfahrtsstaat gilt seinen Kritikern als von der
ökonomisch-technologischen Entwicklung überholt, als Hemmschuh der
internationalen Wettbewerbsfähigkeit und als Investitionshindernis, kurz: als
Dinosaurier, der ins Museum gehört, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.
Auch der Missbrauch des Sozialstaates durch nicht Anspruchsberechtigte hält sich trotz vieler spektakulärer Berichte (vor allem der Boulevardpresse) über Einzelfälle, Vorurteile bezüglich sozialer Randgruppen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, und des Stammtischgeredes in engen Grenzen. Alle seriösen Studien gelangen zu dem Schluss, dass es sich bei dem beklagten Leistungsmissbrauch weder um ein Massenphänomen handelt noch der Sozialstaat dadurch bedroht wird. Die demografischen Entwicklungsperspektiven werden in Öffentlichkeit und Medien zu einem wahren Schreckensszenario verdüstert. Dabei fehlen keine Babys, sondern Beitragszahler/innen, die man etwa durch eine konsequente(re) Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Erhöhung der Frauenerwerbsquote, die Erleichterung der Zuwanderung und/oder die Erweiterung des Kreises der Versicherten gewinnen kann. Statt zu klären, wie man aus einer längerfristigen Veränderung der Altersstruktur resultierende Schwierigkeiten solidarisch (z.B. durch die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze und/oder die Verbreiterung der Basis des Rentensystems, also die Einbeziehung von Selbstständigen, Freiberuflern und Beamten) bewältigen kann, benutzt man sie als Hebel zur Durchsetzung unsozialer „Sparmaßnahmen". Noch nie war der Wohlfahrtsstaat für die Gesellschaft insgesamt und noch mehr für sozial Benachteiligte so unverzichtbar wie heute, im viel beschworenen „Zeitalter der Globalisierung". Gerade die Bundesrepublik, deren exportorientierte Wirtschaft eine Hauptgewinnerin des Globalisierungsprozesses ist, kann sich einen entwickelten Sozialstaat aufgrund ihres kontinuierlich wachsenden Wohlstandes, der allerdings immer ungleicher verteilt ist, nicht nur weiterhin leisten, sondern darf ihn auch nicht abbauen, wenn sie einerseits die Demokratie und den inneren Frieden bewahren sowie andererseits konkurrenzfähig bleiben will. Selbst innerhalb der neoliberalen Standortlogik gibt es nämlich gute Gründe für eine - im Vergleich mit anderen, weniger erfolgreichen Wirtschaftsstandorten - expansive Sozialpolitik (vgl. hierzu: Butterwegge 2001). Diskurse über Demografie und (Grenzen der) Zuwanderung am „Wirtschaftsstandort D" - eine Gefahr für die Demokratie Das in der Bundesrepublik weit verbreitete Bewusstsein, auf den internationalen Märkten einer Welt von Feinden gegenüberzustehen, und den Wunsch, sie durch „deutschen Erfindungsgeist", größeren Fleiß, eine ausgeprägte Arbeitsdisziplin und mehr Opferbereitschaft in die Knie zu zwingen, nenne ich „Standortnationalismus" (vgl. hierzu: Butterwegge 1998). So avanciert die Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandortes zum Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen, beispielsweise in der Schul- und Bildungspolitik (PISA), was nicht ohne Rückwirkungen auf das gesellschaftliche Klima bzw. die politische Kultur des Landes bleibt: „Die Betonung des ökonomischen Nutzenkalküls sieht nicht nur von schlichten mitmenschlichen Verpflichtungen ab, sie grenzt auch all jene aus, die uns tatsächlich oder vermeintlich nur zur Last fallen." (Schäfer 1993, S. 88) Die im Februar 2000 durch Gerhard Schröders Green-Card-Initiative auf der Computermesse CeBIT angestoßene Zuwanderungsdebatte stand ganz im Zeichen zweier Argumentationslinien: - Deutschland benötige hoch qualifizierte Arbeitsmigrant(inn)en, um seine internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten bzw. wiederzuerlangen; - junge, möglichst kinderreiche Migrant(inn)en könnten die negativen Folgen des demografischen Wandels abmildern und eine völlige „Vergreisung" der Bundesrepublik verhindern. Die seither in den Medien verstärkt erörterte Frage „Nutzen uns die Zuwanderer oder nutzen sie uns aus?" beruhte auf nationalistischen und rassistischen Prämissen, welche der ständig proklamierten Weltoffenheit des „Standorts D" eigentlich Hohn sprachen. Sie grenzte ein nationales Kollektiv, die deutsche „Wir"-Gruppe, „den Anderen" bzw. „den Fremden" gegenüber ab. In der Diskussion über die Green Card wurde erstmals wieder nach 1945 explizit das „deutsche Interesse" artikuliert, wobei jedoch weniger völkische als standortnationalistische Positionen hervortraten. Selbst im Bericht der so genannten Süssmuth-Kommission, die Hoffnungen auf einen Paradigmenwechsel der Migrations- und Integrationspolitik nährte, wurden ökonomische und demografische Interessen der Bundesrepublik in den Vordergrund gerückt, während humanitäre Verpflichtungen demgegenüber zurücktraten (vgl. Reißlandt 2002, S. 21 ff.). Mit
der grassierenden Furcht vor „Überfremdung" durch Menschen anderer „Rasse",
Herkunft oder Kultur korrespondiert die Sorge um Deutschland, seine Zukunft als
stärkste Wirtschaftsmacht Europas und das deutsche Volk als größter
Ethnie der Alten Welt. Für die extreme Rechte steht
Deutschland bzw. das Abendland aufgrund vermehrter Migration im Zeichen der
Globalisierung einerseits und seiner „Vergreisung", d.h. des als krisenhaft bzw.
katastrophisch interpretierten demografischen Wandels, vor dem Untergang. Unter
dem Titel „Die Deutschen - ein sterbendes Volk" klagte etwa „Nation und Europa",
das älteste Periodikum des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, am Ende des
Jahres 2000: „Das deutsche Volk ist in seiner biologischen und kulturellen
Existenz auf das schwerste bedroht. Der extreme Geburtenrückgang zwischen 1965
und 1975, der seitdem weiter andauert, führte zu Jahrgangsstärken, die
zu einem Drittel unter
denen der Elterngenerationen liegen. (...) Die Todesspirale unseres Volkes
dreht sich in immer schnellerer Folge." Da sich Titel wie „Die Alten-Republik: Land ohne Kinder" (Die Woche v. 27.4.2001) oder „Land ohne Leute" (ZEIT-Dossier v. 10.5.2001) häufen, wandert der Demografie-Diskurs immer mehr in die politisch-publizistische Mitte. Umgekehrt berufen sich rechtsextreme Gazetten ihrerseits auf die Berechnungen bürgerlicher Medien, um ihre absurden Behauptungen seriös erscheinen zu lassen (vgl. hierzu: Butterwegge 2002c). Exemplarisch sei das Parteiorgan „Der Republikaner" (2-3/2001) genannt, wo unter der Überschrift „Rot-grüne ,Rentenreform': Deutsche Kinder unerwünscht?" und nach mehreren ausführlichen ZEIT-Zitaten behauptet wurde: „In einer Zeit, in der von morgens bis abends die demographische Misere der Deutschen beklagt wird, beschließt die rot-grüne Mehrheit im Bundestag eine Rentenreform, die auf eine Bestrafung von Kindern hinausläuft. Die Folge wird sein, daß noch weniger deutsche Paare Kinder bekommen werden. Da drängt sich die Frage auf, ob nicht genau dies gewünscht ist. Die Rechnung der rot-grünen Gesellschaftsingenieure: Je weniger deutsche Kinder auf die Welt kommen, desto mehr Zuwanderer können ins Land strömen." Die von Jürgen Rüttgers
(CDU) im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf des Jahres 2000 bezüglich
der Green-Card-Regelung ausgegebene, von den REPublikanern auf ihre Wahlplakate
übernommene Parole „Kinder statt Inder" zieht sich wie ein roter Faden durch
Diskussionen über eine Kehrtwende in der Familien- und eine Rückkehr zur
„aktiven Bevölkerungspolitik" (Edmund Stoiber). Unter der Überschrift „Kinder
als Schicksal" schrieb die neurechte Wochenzeitung „Junge Freiheit" am 14.
Januar 2000, dass auch vermehrte Immigration den rapiden Geburtenrückgang nicht
einmal stoppen könne: „Massive Zuwanderung zwecks Rentenabsicherung ist zwar
originell, aber mit seriösen ökonomischen Argumenten nicht zu begründen.
Stattdessen schweigt die politische Klasse zum eigentlichen Thema: wie die
Deutschen' schlicht ermutigt werden können, wieder mehr Kinder in die Welt zu
setzen." Während man die Senior(inn)en, weil für den „Wirtschaftsstandort D" nicht mehr produktiv, in der öffentlichen Meinung herabsetzt und das Alter entwertet wird (vgl. dazu: Guha 2000), erhalten (deutsche) Kinder nicht nur in ultrarechten Medien einen Kultstatus und nehmen Familien geradezu Fetischcharakter an. Susanne Mayer möchte den „Notfall", dass „immer mehr Frauen und Männer (...) einfach keine Kinder mehr (bekommen)", durch weiter reichende Steuerfreibeträge für Familien (Umwandlung des Ehegatten- in ein Familiensplitting, das besonders kinderreiche Spitzenverdiener begünstigen würde) bekämpfen. Außerdem sollen Strafabgaben für Kinderlose eingeführt und die Renten noch weiter gekürzt werden. So spielt man Alt und Jung gegeneinander aus, statt das reale Wohlstandsgefälle innerhalb aller Generationen zu problematisieren. Nach den Terroranschlägen
in New York und Washington am 11. September 2001 dominierte fast in allen
Massenmedien ein autoritärer Sicherheitsdiskurs und feierte das in der
Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg gültige Dogma „Wir sind kein
Einwanderungsland!" fröhliche Urständ. Durch die AntiTerror-Pakete des
Bundesinnenministers wurde der sich damals in Ansätzen abzeichnende
Paradigmawechsel auf migrations- und integrationspolitischem Gebiet
konterkariert. „Der Moslem" erschien als Prototyp des gefährlichen und
überflüssigen Ausländers. „Beinahe schon klassisch zu nennende
Argumentationsmuster der äußersten Rechten wurden von Politikern und Parteien
der Mitte aufgegriffen, um Verschärfungen im Ausländerrecht durchzusetzen, die
schon lange auf ihrer Wunschliste gestanden hatten." (Reißlandt 2002, S. 40) Miegel, der Armutstendenzen im Hinblick auf die Bundesrepublik generell leugnet, versteht unter „Kinderarmut' den durch die „Gebärfaulheit' der Deutschen entstandenen Mangel an Nachwuchs. Schuld daran trägt u.a. die von Miegel beklagte „Umformung des Sozialen zum wichtigsten Herrschaftsinstrument', wodurch letztlich auch die Familie funktionslos wurde: „Je mehr sich der Staat sozial engagierte, desto mehr entledigte sich die Gesellschaft ihrer sozialen Verantwortung, und je mehr sie sich dieser Verantwortung entledigte, desto breiter wurden die Spalten, die der Staat glaubte füllen zu müssen." (Miegel 2002, S. 227) Es ist zu erwarten, dass der Diskurs über den Geburtenrückgang, über fehlende (deutsche) Kinder und über die negativen Auswirkungen der Zuwanderung für den „Standort D" bzw. das System der sozialen Sicherung die Öffentlichkeit künftig noch stärker beeinflussen wird. Er birgt die Gefahr eines weiteren Rechtsrucks der „Mitte" in sich. Ob sich diese rechtspopulistisch geriert oder eine Partei wie die des Hamburger Innensenators Schill bundesweit reüssiert, wird nicht zuletzt von der Wahl am 22. September abhängen. Literatur Bukow, Wolf-Dietrich (1996): Feindbild: Minderheit. Zur Funktion von Ethnisierung, Opladen Butterwegge,
Christoph/Hickel, Rudolf/Ptak, Ralf (1998): Sozialstaat und neoliberale
Hegemonie. Standortnationalismus als Gefahr für die Demokratie, Berlin
Butterwegge, Christoph (2001): Wohlfahrtsstaat im Wandel. Probleme und Perspektiven der Sozialpolitik, 3. Aufl. Opladen Butterwegge, Christoph/Hentges, Gudrun (2001):
„Ausländer und Asylmissbrauch" als Medienthema: Verantwortung und Versagen von
Journalist(inn)en, in: ders./Georg Lohmann (Hrsg.), Jugend, Rechtsextremismus
und Gewalt. Analysen und Argumente, 2. Aufl. Opladen, S. 83-99 Butterwegge, Christoph (2002b): Die politische Mitte als Stichwortgeberin für antidemokratische Kräfte, in: Norman Paech/Eckart Spoo/Rainer Butenschön (Hrsg.), Demokratie - wo und wie?, Hamburg 2002, S. 78-86 Butterwegge, Christoph (2002c): Stirbt „das deutsche Volk" aus?, Wie die politische Mitte im Demografie-Diskurs nach rechts rückt, in: ders. u.a., Themen der Rechten - Themen der Mitte. Zuwanderung, demografischer Wandel und Nationalbewusstsein, Opladen, S. 167-214 Butterwegge, Christoph/Cremer, Janine/Häusler, Alexander/Hentges, Gudrun/Pfeiffer, Thomas/Reißlandt, Carolin/Salzborn, Samuel (2002): Themen der Rechten - Themen der Mitte. Zuwanderung, demografischer Wandel und Nationalbewusstsein, Opladen Butterwegge, Christoph/Klundt, Michael (Hrsg.) (2002): Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel, Opladen Decker, Frank (2000): Parteien unter Druck. Der neue Rechtspopulismus in den westlichen Demokratien, Opladen Funke, Hajo/Rensmann, Lars (2002): Wir sind so frei. Zum rechtspopulistischen Kurswechsel der FDP, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7, S.822-828 Groffmann, Anne Claire (2001): Das unvollendete Drama. Jugend- und Skinheadgruppen im Vereinigungsprozeß, Opladen Guha,
Anton-Andreas (2000): Von der Entwertung des Alters. Einige unsystematische
Anmerkungen zu einem schwierigen Problem, in: Vorgänge 150, S. 37-43 Pfahl-Traughber, Armin (1994): Volkes
Stimme?, Rechtspopulismus in Europa, Bonn Reißlandt, Carolin (2002): Kontroversen über Zuwanderung: Migrations- und Integrationspolitik unter neuen Vorzeichen?, in: Christoph Butterwegge u.a., Themen der Rechten - Themen der Mitte. Zuwanderung, demografischer Wandel und Nationalbewusstsein, Opladen, S. 11-42 Schäfer, Gert (1993):
Ausländerfeindliche Topoi offizieller Politik, in: Wolfgang Kreutzberger u.a.,
Aus der Mitte der Gesellschaft - Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik,
Frankfurt am Main, S. 78-93 |
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