Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 51, Juni 2002, 13. Jhrg
Wolfgang Förster

Kant-Impulse im Denken von Karl Marx
 
Im Entwicklungsgang der antifeudal-bürgerlichen Philosophie Deutschlands bildet das Denken Immanuel Kants, das die Fragestellungen der zeitgenössischen Naturwissenschaften und die geschichtlichen Erfahrungen des deutschen Bürgertums am Vorabend der Französischen Revolution in sich vereinte, einen Kristallisationspunkt. Wie M. Buhr formulierte, manifestierte sich im Denken Kants die „philosophische Unabhängigkeitserklärung des Menschen",1 in seiner theoretischen Philosophie in der Erfassung der aktiven Rolle des Subjekts innerhalb des Erkenntnisprozesses, in der praktischen Philosophie im Bemühen um die schlüssige Begründung menschlicher Freiheit und des sittlichen Handelns im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft. Anliegen von Kants „Kritik der reinen Vernunft" war die Bestimmung des Wesens des philosophischen Denkens auf dem Hintergrund einer an der Newtonschen Naturwissenschaft und ihren Grenzen orientierten Position auf dem Boden des Vernunftapriorismus.

Theoretische Leistungen Kants

Kants transzendentale Logik enthält gegenüber jenen Auffassungen, die Erkenntnis auf dem Wege einer mechanischen Assoziation von Wahrnehmungen und Vorstellungen zu gewinnen suchten, einen qualitativ neuen Denkansatz. Im Unterschied zu seinen Vorgängern ist bei Kant Erkenntnis überindividuell konstituiert. Die Transzendentalphilosophie Kants birgt, wenn auch in abstrakter Form, das Verständnis des gesellschaftlich-geschichtlichen Charakters der menschlichen Erkenntnis. Für das bürgerliche Bewusstsein wirkt sie in neuer Weise integrierend und normierend. Mit Kant geraten die Grundsätze und kategorialen Probleme der einzelwissenschaftlichen Theoriebildung und die methodologisch-erkenntnistheoretischen Fragestellungen im wissenschaftlichen Forschungsprozess in den Blickpunkt. Die transzendentale Analytik habe, wie D. Bergner hervorhob, gegenüber Hegel den Vorteil, dass „der nüchterne Blick für die empirische wissenschaftliche Forschung stärker spürbar bleibt und damit die spezifischen Fragen der dialektischen Beziehungen zwischen Philosophie und Methodologie und Theorie der wissenschaftlichen Forschung deutlich als Probleme stehen“.2 Zwar liegt der Erkenntnisfunktion die Anerkennung einer bewusstseinsunabhängigen Außenwelt zugrunde, doch wird Erkenntnis für Kant letztlich durch das Subjekt konstituiert.

Nach Kant existiert eine ganze Hierarchie rationaler Bedingungen, die Erfahrung erst ermöglichen: die transzendentale Apperzeption, die Kategorien, die Grundsätze der reinen Vernunft und die transzendentalen Schemata, die die Verbindung von Denken und Anschauung herstellen. J. Zeleny bemerkte: „In der transzendentalen Logik lässt sich ... der durch die allgemeine Theorie der Rationalität und allgemeine logisch-psychologische Theorie des Bewusstseins formulierte Versuch einer Theorie des wissenschaftlichen rationalen Denkens erblicken".3 Konstituieren die Instrumentarien des Verstandes die menschliche Erfahrung als Erscheinungserkenntnis, so führt die synthetische Tätigkeit der Vernunft jenseits der Erfahrungswelt und Erscheinungserkenntnis mit dem ihr immanenten Streben nach Totalität zur Annahme letzter „Dinge an sich". Diese konstituieren Ideen, die nur in regulativer Weise Erkenntnis begründen können, aber mit der synthetischen Einheit der Natur kongruieren.

Kants Lehre von der architektonischen Struktur der Vernunft impliziert gegenüber seinen Vorgängern eine höhere Stufe philosophischer Begrifflichkeit. J. d'Hondt hob hervor, das philosophische Denken erlange bei Kant ein Niveau philosophischer Tiefgründigkeit, von dem nichts verloren gehen dürfe. Kant habe den gemeinen Menschenverstand verworfen, wie es Kopernikus vorher in der Astronomie getan hat.4 Kants theoretische Tiefe findet ihren Ausdruck in seinem Gedanken des Ansichseins, auch wenn er dieses als unerkennbar ansieht. Die Dialektik des Wirklichen verbirgt sich bei ihm in der Alternative von einer mechanisch vollständig determinierten Welt und der Konstitution der Sphäre intelligibler Freiheit als Ausdruck der Ohnmacht gegenüber den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und einer Rebellion gegen sie, was sich in bürgerlicher Gestalt im Gegensatz von „Natur" und „Vernunft" unbegriffen reproduziert.5 Freiheit ist für Kant Selbstbestimmung durch praktische Vernunft. Er fasste den Menschen als Selbstzweck gegen eine Welt universeller Abhängigkeit. Das „Ding an sich" ist in seiner tiefsten Dimension Träger der Sittlichkeit, Raum der menschlich-gesellschaftlichen Gesetzlichkeit, die der Erscheinungswelt in letzter Instanz das Gepräge gibt. Der Formalismus im ethischen Denken Kants ist Bedingung für die Fixierung von Prinzipien einer bürgerlich-humanen Welt, der Normen und Maximen einer bürgerlichen Gesellschaft in idealisierter Form gegenüber ihrer realen Gestalt.

Bezugspunkte Kants im Marxschen Denken

Kants Theorie der theoretischen und praktischen Vernunft ist zunächst im allgemeinumfassenden Sinne eine konstitutive Voraussetzung der philosophischen Lehre von Karl Marx. Seine Auffassungen von der architektonischen Struktur der Vernunft, sein Bemühen um das Erfassen der Totalität des Wirklichen und der zunächst antinomisch interpretierten Widersprüchlichkeit der äußeren Wirklichkeit wie des erkennenden Denkens sind für die dialektische und materialistische Position Marx' unabdingbar. Gelingt es ihm, die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft zu entschlüsseln, sind auch jene kognitiven Instrumentarien dabei Voraussetzung, die von Kant gegen idealistische Hypostasierungen und borniertes Verharren auf der Oberfläche der Erscheinungen entwickelt wurden. Freilich gehen in die theoretischen Fundamente der Marxschen Lehre die außerordentlichen Weiterentwicklungen und Umformungen des Kantschen Denkens in der klassischen deutschen Philosophie ein, namentlich die Hegels. Kants Instrumentarien sind für Marx präsent, aber am wenigsten unmittelbar. Im Gegensatz zum Kantschen Apriorismus zielt Marx darauf ab, die wirkliche Bewegung der Dinge im Detail zu erschließen. Ist deren inneres Band gefunden, kann nach Marx die wissenschaftliche Darstellungsweise scheinbar die Gestalt einer „Konstruktion a priori" besitzen.6 Aber ohne den Apriorismus Kants, dessen Verständnis des Wesens einer wissenschaftlichen Theoriebildung, wäre etwa Marx' logische Ableitung der relativen Wertform im „Kapital" nicht möglich gewesen. Marx korrigiert die Kantsche Apriorismuskonzeption durch die Momente der Relativität und Historizität. In Marx' materialistischer Gedankenführung beginne die wissenschaftliche Analyse „post festum und daher mit den fertigen Resultaten des Entwicklungsprozesses". So besitzen Formen, welche Arbeitsprodukte zu Waren stempeln, „bereits die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens, bevor die Menschen sich Rechenschaft zu geben suchen nicht über den historischen Charakter dieser Formen, die ihnen vielmehr bereits als unwandelbar gelten, sondern über deren Gehalt". Haben für Kant die Vernunftkategorien den Status der Apriorität, so sind für Marx die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie „gesellschaftlich gültige, also objective Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise".7 Gegenüber Hegel hat Kant den Vorzug, dass bei ihm die Gegenständlichkeit erhalten bleibt, nicht subjektiviert wird. In jedem Fall ist die theoretische Philosophie Kants unabdingbar für moderne wissenschaftliche Theoriebildung, auch wenn ihre Voraussetzungen einer Kritik bedürfen.

Die praktische Vernunft Kants birgt ein Ensemble gedanklicher Bestimmungen, moralischer Postulate und abstrakter Visionen, in denen sich die Überzeugung progressiver Gerichtetheit der Menschheitsentwicklung, die Exponierung menschlicher Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit, des Werts und der Würde des Menschen, des Fortschritts der Kultur und Humanität, das Bewusstsein solidarischen Handelns und die Utopie einstiger Freiheit artikulieren. Sie bereiten sich vor und vollziehen sich in einem antagonistischen Prozess des Sich-Herausarbeitens aus dem Naturzustand und des Übergangs zur Zivilisation, der Überwindung egoistischer Triebe und Neigungen, und kulminieren in einem Zustand der Moralität. Kants Verständnis der „Kausalität aus Freiheit` deutet das Begreifen der spezifischen Gesetzmäßigkeit des historischen Prozesses an. Sein Bewusstsein von der Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit der Gesetze des sittlichen Handelns normiert bürgerliches Selbstverständnis mit einer gesamtgesellschaftlichen Zielsetzung. Kants Lehre von der praktischen Vernunft und von der Autonomie des Subjekts, gerichtet gegen Auffassungen, wonach Geschichte bloße Fortsetzung von Naturgeschichte ist, wird, von idealistischen Hypostasierungen befreit, gedankliches Ferment der Marxschen Position von der „Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Action daher auch eine gegenständliche sein muß".8 Abgesehen vom allgemeinen Zusammenhang von Kantscher und Marxscher Position finden sich bei letzterem Bezugnahmen, Wertungen, Impulse, die direkte Rückgriffe auf das Gedankenpotential Kants auch im einzelnen deutlich machen.

J. Zeleny hebt hervor, dass uns „Kant ... in einigen Fragen dadurch näher (steht) als die nachkantische spekulative Philosophie, weil er die menschliche Vernunft behandelt, die im menschlichen Leben mit der ... durch etwas anderes als die Vernunft gegebenen Realität konfrontiert wird".9 In gewisser Hinsicht erfolgt bei Marx eine Rückkehr zu Kant gegen die hypostasierte Vernunft Hegels. „Marx kehrt auf einer neuen Ebene ... zu Kant zurück, da er in den endlichen Menschen, wie sie in den jeweils bestimmten und historisch wandelbaren gesellschaftlichen natürlichen Verhältnissen tätig sind, das Alpha und Omega aller Theorie sieht`. Zugleich scheint uns Marx, wie Zeleny vermerkt, in seiner „prinzipiellen Anerkennung der Schranken und Grenzen der menschlichen Vernunft Kant näher zu stehen als Hegel, wenn auch diese Nicht-Absolutheit des menschlichen Erkenntnisvermögens durch beide Denker wesentlich anders gefasst wird - bei Kant im Zusammenhang mit seiner übergeschichtlichen Unterscheidung von Erfahrungswissenschaft und 'Ding an sich', bei Marx als Folge seiner praktisch-historischen Auffassung der Wirklichkeit".10 Marxistischem Denken ist wesensmäßig gegenüber der Hypertrophierung der Vernunft bei Hegel, seinem Insistieren auf absoluten Wahrheiten, auch wenn diese selbst bei ihm geschichtliches Entwicklungsprodukt sind, eine gewisse Kantnähe eigen, indem es Anerkennung der Progression der Erkenntnis mit dem Bewusstsein ihrer Relativität und Beschränktheit verbindet. Die fehlerhafte Extrapolation gewonnener Einsichten in der Geschichte der marxistischer Denktradition, so z. B. verkürzte Revolutionserwartungen oder schematische Annahmen über künftige Geschichtsverläufe, schließt, wenn auch nicht in erster Linie, die Übernahme konzeptioneller Irrtümer Hegels, die aus seinem absoluten Idealismus entspringen, ein.

Als Student verfasste Marx den Entwurf einer Rechtsphilosophie, die, wie er schrieb, „im Grundschema an das Kantische grenzt, in der Ausführung gänzlich davon abweicht".11 Bereits während der Abfassung dieser Arbeit empfand Marx den „Gegensatz des Wirklichen und Sollenden" des Idealismus Kants und Fichtes als störend, und er gelangte zu der Einsicht, es müsse „im konkreten Ausdruck lebendiger Gedankenwelt ... das Objekt selbst in seiner Entwicklung belauscht, ... die Vernunft des Dinges selbst muß als in sich widerstreitendes fortrollen und in sich seine Einheit finden".12 Der Drang zu Objektivität und Wirklichkeit und die Abneigung gegen die idealistische Sollensphilosophie führten Marx zum Junghegelianismus. In den Anmerkungen zur Doktordissertation bedient sich Marx der Kantschen Widerlegung der Gottesbeweise als Belege für eine atheistische Argumentation. Eine hohe Wertschätzung Kants enthielt Marx' Aufsatz „Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule", in dem er seine Philosophie im Kontrast zu den Theorien des französischen ancien régime „mit Recht als die deutsche Theorie der französischen Revolution"13 bezeichnete.

Marx' in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" von 1844 veröffentlichter Aufsatz „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung" enthält, mit Blick auf Kant, eine tiefgehende Wertung der Leistungen und Grenzen der theoretischen Tradition Deutschlands seit der Reformation. Deutschland stehe nach Marx nur in theoretischer Hinsicht auf dem Niveau der Geschichte. Die revolutionäre Vergangenheit Deutschlands sei die Reformation. Der Bauernkrieg, die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte, scheiterte an der Theologie. Die politisch rückständige deutsche Gegenwart werde an der Philosophie zerschellen. Deutschland bilde das „theoretische Gewissen" der anderen Völker. In die theoretische Tradition Deutschlands seit der Reformation ist ihr linker Flügel, die radikale Sektenopposition, die deutsche Aufklärung und besonders die klassische deutsche Philosophie eingeschlossen. Marx würdigt die Exponierung des Menschen in der deutschen theoretischen Tradition und die in ihr enthaltene Radikalität. Humanistischer Kern und praktische Manifestation der radikalen theoretischen Tradition Deutschlands ist nicht die politische, vielmehr die „menschliche Emanzipation". Marx schlussfolgert: „Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. ... Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem categorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist".14 Die Überlegungen Marx' schließen u.a. an die Schrift von H. Heine „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" an, die die deutsche Philosophie als „eine wichtige, das ganze Menschengeschlecht betreffende Angelegenheit" wertete. Heine verweist auf „deutsche Jakobiner", die aus der deutschen Philosophie revolutionäre Schlussfolgerungen ziehen werden, speziell auf radikale Kantianer, die „erbarmungslos mit Schwert und Beil, den Boden unseres europäischen Lebens durchwühlen, um auch die letzte Wurzel der Vergangenheit auszurotten".15 Marx befindet sich in der Gedankentradition des revolutionären Demokraten Johann Benjamin Erhard, der aus dem Kantianismus radikale Konsequenzen zog und an die frühen Schriften Fichtes anknüpfte. In seiner Schrift „Über das Recht des Volkes zu einer Revolution" (1795) verfocht Erhard die Idee der Volkssouveränität. Nach Erhard ist „eine Revolution ... rechtmäßig, wenn durch sie eine offenbare Beleidigung der Menschenrechte aufgehoben werden soll".16 Bei Entmündigung des Volkes bestehe sogar eine Pflicht auf Revolution. Erhard wirkte in Süddeutschland als Organisator jakobinischer Bestrebungen. Marx' Aufsatz verdeutlicht in verdichteter Form die aktive Rolle des theoretischen Denkens als unerlässliche Bedingung grundlegender historischer Veränderungen. Er steht mit dem Rigorismus seiner Diktion auch in der Tradition des Kantschen Denkens, besonders des Linkskantianismus.

1845/46 exemplifizieren Marx und Engels ihre Kritik der „deutschen Ideologie" am Muster der Kantschen Philosophie. Kant habe den von Rousseau formulierten Allgemeinwillen, seine Idee der Volkssouveränität, in die moralische Selbstbestimmung der praktischen Vernunft verwandelt. Der „gute Wille" Kants habe „vollständig der Ohnmacht, Gedrücktheit und Misère der deutschen Bürger, deren kleinliche Interessen nie fähig waren, sich zu gemeinschaftlichen Interessen einer Klasse zu entwickeln",17 entsprochen. Aus der Unentwikkeltheit der deutschen Zustände und der Konstitution des Staates zu einer scheinbar selbständigen Macht entsprang ein scheinbarer Widerspruch zwischen der Form, in der die deutschen Theoretiker die Interessen der Bürger aussprachen, und diesen Interessen selbst. Kant machte so „die materiell motivierten Bestimmungen des Willens der französischen Bourgeois zu reinen Selbstbestimmungen des freien Willens', des Willens an und für sich, des menschlichen Willens, und verwandelte ihn so in rein ideologische Begriffsbestimmungen und moralische Postulate".18 Die Kantwertung der „Deutschen Ideologie" steht unter ideologieanalytischem Vorzeichen. In gewisser Weise geht die Analyse hinter den früheren Aufsatz Marx' „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung" zurück, insofern sie die verborgenen Implikationen der praktischen Vernunft Kants, ihre möglichen radikalen Konsequenzen, nicht expliziert.

Bereits in seiner Schrift „Das Elend der Philosophie" bringt Marx gegen den Hegelianismus Proudhons, seine Hypertrophierung der Vernunft, Gedankenelemente des Kantschen Kritizismus zur Geltung. In den „Ökonomischen Manuskripten" von 1857/58 übt er im „Kapitel vom Geld" eine grundsätzliche Kritik an den Geldillusionen der kleinbürgerlichen politischen Ökonomie, wonach die Reform der Zirkulationssphäre die kapitalistische Gesellschaft grundlegend verändern und ihre inneren Widersprüche ausschließen könne. Dieser Illusion liegt das Nichtbegreifen des Zusammenhangs von kapitalistischer Warenproduktion und Geld zugrunde. „Der Tauschwerth des Products erzeugt das Geld neben dem Product. Wie es nun unmöglich ist, Verwicklungen und Widersprüche, die aus der Existenz des Geldes neben den besonderen Waaren hervorgehn, dadurch aufzuheben, daß man die Form des Geldes verändert, ... ebenso unmöglich ist es, das Geld selbst aufzuheben, solange der Tauschwerth die gesellschaftliche Form der Producte bleibt." Wie der gesellschaftliche Charakter der Produktion wächst, „wächst die Macht des Geldes, d.h. sezt sich das Tauschverhältniß als eine den Produzenten gegenüber äussere und von ihnen unabhängige Macht fest ... Das Geld bringt diese Gegensätze und Widersprüche nicht hervor; sondern die Entwicklung dieser Widersprüche und Gegensätze bringt die scheinbar transzendentale Macht des Geldes hervor".19

„Transzendental" gebraucht Marx im regulativen Sinne, im Sinne der Begriffsbildung der transzendentalen Dialektik. Marx enthüllt gewissermaßen den „transzendentalen Schein", der erzeugt wird, wenn mit den Instrumentarien des bürgerlichen ökonomischen Verstandes der kapitalistische Produktionsprozess in seiner Totalität erschlossen werden soll. Er verwendet hier Elemente der Kantschen Vernunftkritik zur Bestimmung der Erkenntnisschranke der bürgerlichen Ökonomie. Im Kapitel über den Warenfetischismus im „Kapital" enthüllt er den Ursprung des „transzendentalen Scheins", der in dem Geheimnis der Warenproduktion und der bürgerlichen Geldillusionen eingeschlossen ist: „Das Geheimnißvolle der Waarenform besteht ... darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältniß der Producenten zur Gesammtarbeit als ein außer ihnen existirendes gesellschaftliches Verhältniß von Gegenständen".20 Was bei Kant noch bloße kognitive Schranke des Denkens war, in der Struktur des Denkens gründete, wird bei Marx in seiner gesellschaftlich-geschichtlichen Bedingtheit erfasst. Kants Auflösung des „transzendentalen Scheins" unter kognitivem Vorzeichen wird bei Marx zur Kritik des gegenständlichen Scheins der Warenproduktion unter geschichtlichem Aspekt. In Marx' Analyse geht freilich die gesamte Entwicklung der Erkenntnisse ein, die in der klassischen deutschen Philosophie, besonders bei Hegel, zu dem Problem der gesellschaftlichen Entäußerung und Entfremdung gewonnen wurden.

Kantnähe in der Marxschen Hegelkritik

Denkelemente und Argumentationsfiguren Kants werden auch in Marx' Überlegungen zur Methode der politischen Ökonomie in Abgrenzung von Hegels Identifikation von Denken und Sein deutlich. Hegel unterliegt nach Marx der Illusion, das Reale als Resultat des sich selbst bewegenden Denkens aufzufassen, während die Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen. Der Entstehungsprozess des Konkreten ist davon zu unterscheiden. Für das Bewusstsein ist die konkrete Totalität als Gedankentotalität „in fact ein Product der Denkens, des Begreifens ...; keineswegs aber des ausser und über der Anschauung und Vorstellung denkenden und sich gebärenden Begriffs, sondern der Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe".21 J. Jânoska u.a. bemerken dazu: „Wenn Marx der Hegelschen Ineinssetzung von Denken und Realbewegung eine Absage erteilt, indem er auf ein Objekt oder Konkretes außerhalb hinweist, ist die Affinität zur Kantschen Unterscheidung offensichtlich ... Ähnlich wie Kant mit dem transzendentalen Gedanken sowohl gesicherte Urteile oder Gesetze erlangt, wie auch gleichzeitig eine Art Denkinhalt oder Erkenntnisraum produziert, bezieht sich Marx mit der Betonung des Denkens nicht bloß auf Denkinhalte, sondern auch auf das Denken im Sinne eines spezialisierten Objektbereichs als Denkpraxis oder ... als Form der Aneignung".22 Erkenntnis ist für Marx nicht bloße innerbegriffliche Explikation, sondern hat stets die äußere Welt, vermittelt durch Anschauung und Vorstellung, zur Voraussetzung: „Das reale Subject bleibt nach wie vor ausserhalb des Kopfes in seiner Selbständigkeit bestehn; solange sich der Kopf nämlich nur spekulativ verhält, nur theoretisch. Auch bei der theoretischen Methode daher muß das Subject, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben."23 Im Unterschied zu Kant ist für Marx der Ausgangspunkt kein unerschließbares Äußeres, kein ,Ding an sich", sondern selbst „Zusammenfassung vieler Bestimmungen".24 Der wirkliche Ausgangspunkt des Konkreten strukturiert, vermittelt durch Anschauung und Vorstellung, auch das Denken inhaltlich. Bei Marx liegt der Akzent im Unterschied zu Kant auf der theoretischen Durchdringung der äußeren Realität. Gegen Hegel und in gewisser Weise übereinstimmend mit Kant betont Marx die relative Autonomie des erkennenden Denkens bzw. der Aneignung gegenüber dem Gegenstand. „Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe" korrespondiert bei Marx in bestimmtem Maße mit dem Stellenwert der „produktiven Einbildungskraft" Kants. „Vorschweben des Subjekts" bedeutet bei Marx, anschließend an Kant und über ihn hinausgehend, dass in der Begriffsbewegung der Bezug zu den inneren Bestimmungen des Gegenstandes bewusst reflektiert werden muss. Bei Marx ist das Subjekt, die Gesellschaft, als „Einheit des Mannigfaltigen" letztlich determinierendes Moment der begrifflichen Tätigkeit, wobei der Weg des Denkens von „abstrakten Bestimmungen" zur „Reproduktion des Concreten" führt. Auch die Verwendung der Begriffe „Einheit des Mannigfaltigen" und „Reproduktion des Concreten" bei Marx verweist auf eine bestimmte Kantnähe.

Von der „Kritik der reinen Vernunft" zur „Kritik der politischen Ökonomie"

Mit der Aufklärung und namentlich mit Kant gewinnt der Begriff der Kritik einen grundlegend neuen Stellenwert. Kritik ist konstitutiver Bestandteil bürgerlichen Selbstbewusstseins. Das Zeitalter der Aufklärung ist das Zeitalter der Kritik. Die Entfaltung der Kritik ist untrennbar mit der Herausbildung der bürgerlichen Öffentlichkeit, dem Abbau religiöser und ständischer Bildungen, verbunden. Bestehende Denkgewohnheiten wie auch gesellschaftliche Institutionen müssen vorurteilsfrei überprüft werden. Für Kant ergibt sich die Frage nach der Ausmessung der Dimensionen und der Grenzen des menschlichen Vernunftvermögens aus der Distanz zur rationalistischen Ontologie, zur religiösen Dogmatik und zum flachen Empirismus. Eine hypertrophierte Gestalt erlangte die wissenschaftliche Kritik in den Ausläufern des Junghegelianismus. Marx empfand gegenüber dieser „reinen Kritik" in hohem Maße Abneigung. Der junge Marx ging zu Beginn der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts von der Kritik der herrschenden Philosophie zur Kritik der Politik über, wobei er zu Positionen der revolutionären Demokratie gelangte. Mit der Einsicht, dass die ökonomischen Verhältnisse die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens bilden, gerät 1844 die Kritik der Ökonomie ins Zentrum der Aufmerksamkeit.25 Wie F. Mehring bemerkte, sei das „ureigenste Element der Lehre, die Marx hinterlassen hat ..., Ansporn zum Denken, zur Kritik und Selbstkritik".26 Kritik der politischen Ökonomie hat für Marx einen Doppelstatus: Kritik der bürgerlichen ökonomischen Lehren und Kritik der ökonomischen Verhältnisse des Kapitalismus.27 Beginnt Kants Vernunftkritik mit der Betrachtung der elementarsten Anschauungsformen a priori und schreitet sie von ihnen nach einem architektonischen Plan zu einer systematischen Analyse des Leistungsvermögens wie der Grenzen der menschlichen Vernunft fort, so nimmt Marx' Ökonomiekritik die Analyse der Ware als der Elementarform des Reichtums der Gesellschaft zum Ausgangspunkt, auf den sich die zusammenhängende Untersuchung des kapitalistischen Produktionsprozesses gründet. Im Spannungsfeld von Kants „Kritik der reinen Vernunft" zu Marx' Kritik der politischen Ökonomie erlangt Kritik, die eine ursprünglich vorrangig kognitive Funktion hat, eine gesellschaftlich revolutionäre Dimension. Im Marxschen Denken besitzt Kritik einen fundamentalen Status. Erst die selbstkritische Untersuchung der bürgerlichen Gesellschaft ermöglicht, wie Marx betont die Erschließung der Ökonomie vorangegangener Geschichtsperioden.28

In einem Brief an F. Lassalle äußert Marx über den Gegenstand seiner Forschungen: „Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben".29 Im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes des „Kapital" macht Marx darauf aufmerksam, dass politische Ökonomie aus bürgerlicher Sicht in die Periode des „unentwickelten Klassenkampfes" falle. Unbefangenes Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb des bürgerlichen Gesichtskreises ist nur unter bestimmten Bedingungen möglich. Ricardo mache den „Gegensatz der Klasseninteressen ... zum Springpunkt seiner Forschungen, indem er diesen Gegensatz naiv als gesellschaftliches Naturgesetz auffaßt". Die kapitalistische Ordnung als geschichtlich vorübergehende Entwicklungsstufe werde als „absolute und letzte Gestalt der gesellschaftlichen Produktion" interpretiert. Damit aber sei die bürgerliche Ökonomie bei ihrer „unüberschreitbaren Schranke" angelangt. Der Klassenkampf läutete die Totenglocke der wissenschaftlichen Ökonomie: „An die Stelle uneigennütziger Forschung trat bezahlte Klopffechterei, an die Stelle unbefangner wissenschaftlicher Untersuchung das böse Gewissen und die schlechte Absicht der Apologetik." Die Kritik der bürgerlichen Ökonomie könne nur die Klasse vertreten, „deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist".30 Während Kant Schranken der Erkenntnis in der Struktur des menschlichen Erkenntnisvermögens schlechthin begründet sieht, verweist Marx auf die sozialen Schranken des Denkens bürgerlicher Theoretiker, auf die Grenzen des bürgerlichen Denk- und Erkenntnishorizonts überhaupt. Ständige Selbstkritik, so betont Marx mit hohem Nachdruck, ist Wesenselement der proletarischen Partei: Im Unterschied zu den bürgerlichen Revolutionen, für die Exstase der Geist jedes Tages ist, an deren Stelle jedoch bald langer Katzenjammer tritt, kritisieren die proletarischen Revolutionen „beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von Neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhaft ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von Neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit der eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht".31

Kritik im Marxschen Sinne ist Kritik der bürgerlichen Wissenschaft, ihrer theoretischen Grundlagen, zum anderen, über intellektuelles Selbstverständnis hinausgehend, Kritik der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt, Aufdeckung ihrer inneren Antagonismen, ihrer Entwicklungstendenzen und -schrecken, Erhellung der inneren Mystifikation der gesellschaftlichen Beziehungen im Kapitalismus. Das schließt Eindringen in die Tiefe der gesellschaftlichen Prozesse, Korrektur und Präzisierung gewonnener theoretischer Positionen ein. Das bürgerliche Denken verbindet Weite der Kritikmöglichkeiten, die die Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungen betreffen, mit der unkritischen Hinnahme der Grundlagen der bürgerlichen Ordnung selbst als „naturgegeben". Demgegenüber war der Staatssozialismus in Verletzung marxistischer Grundprinzipien in hohem Maße durch Subjektivismus, Wunschdenken, Ausschaltung von Kritik, Errichtung von Denkschablonen und Erkenntnisbarrieren, weitgehendes Eliminieren gesellschaftlicher Kontrollmöglichkeiten und Fehlen von Alternativkonzeptionen gekennzeichnet.

Mensch und Geschichte

Die Frühphase der klassischen deutschen Philosophie birgt mit der Definition des Menschen als Selbstzweck, mit den in ihr begründeten Ansichten zur Stellung des Menschen im Geschichtsprozess spezifische Vorleistungen, Bezugspunkte und Impulse für Positionen Marx'. Gerade in dieser Frage kristallisierte sich die Erwartungshaltung des Citoyen, die heroische Illusion in der bürgerlichen Revolution. Hier ist besonders auf Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen" zu verweisen. Der gegenwärtige Zustand gesellschaftlicher Disharmonie und Zerrissenheit, der Vereinseitigung und Zerstückelung des Individuums, der einer ursprünglichen Harmonie folgte, solle durch eine Ordnung harmonischen Zusammenwirkens der Individuen, menschlicher Entfaltung und Vollendung, abgelöst werden. In Kants „Kritik der Urteilskraft" heißt es: „Von dem Menschen (und so jedem vernünftigen Wesen in der Welt), als einem moralischen Wesen, kann nicht weiter gefragt werden: wozu er (quem in finem) existire. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich, denn so viel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann, wenigstens welchem zuwider er sich keinem Einflusse der Natur unterworfen halten darf".32 Auch wenn Kant Schillers triadisches Konstruktionsschema der Geschichte nicht direkt vertritt, so kommt doch bei ihm die Vision einer einstigen vollen Entfaltung des Menschen zur Geltung. Mit seiner Auffassung vom Menschen als Selbstzweck steht Marx auch in der Tradition speziell der frühen klassischen deutschen Philosophie. In den „Ökonomischen Manuskripten" von 1857/58 heißt es: Wenn „die bornirte bürgerliche Form abgestreift wird", bestehe der Reichtum im „absolute(n) Herausarbeiten" der „schöpferischen Anlagen" des Menschen, „ohne andre Voraussetzungen als die vorhergegangne historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d.h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergegebnen Maaßstab, zum Selbstzweck macht".33 Im dritten Band des „Kapital" spricht Marx von der „menschlichen Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt", vom „wahre(n) Reich der Freiheit" im Kontrast zum „Reich der Nothwendigkeit als seiner Basis".34

Zur Kantforschung in der DDR

In dem anlässlich des Kantjubiläums 1954 verfassten Aufsatz von Ernst Bloch „Zweierlei Kant-Gedenkjahre" betonte dieser, dass sich die bürgerliche Gesellschaft zu Kant eigentlich beziehungslos verhalte. Mit dem Übergang zum 20. Jahrhundert sei auch die nationalliberale Interpretation Kants überflüssig geworden. Kant bleibe eigentlich unsichtbar, auch seinen Schranken war Beliebigkeit eigen. Die gleiche Klasse, die 1924 Kant feierte, entfesselte den Zweiten Weltkrieg. „Ihr Menschengesicht hieß Buchenwald und Maidanek, ihr Entwurf zum ewigen Frieden Überfall auf die Sowjetunion, ihre Beförderung des Reichs sittlicher Zwecke brachte es auf 25 Millionen Tote." Der Neukantianismus habe aus Kant alle bürgerlichen-revolutionären Auftriebe und Elemente entfernt, alles Formalistische in Kant aufs Höchste aufgebläht, alle seine Tribute an die deutsche Misere im Übermaß verstärkt. Es sei nun an der Zeit, Kant ohne seine Fälscher zu werten. Gegenüber der unverbindlichen spätbürgerlichen Interpretation Kants, der Aufblähung seiner Schwächen und Unzulänglichkeiten, werde erst im Lichte der Marxschen Lehre seine Größe unverlierbar. Hätte Kant allein die „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" geschrieben, würde er unsterblich sein und triumphierend mit Demokrit, Epikur und den französischen Materialisten gefeiert werden. Bloch verweist auf Kants kategorischen Imperativ, der fast wie ein Optativ, wie „eine Antizipationsformel hin zu nicht-antagonistischer Gesellschaft" wirke. Im Primat des „Gesolltseins vor dem Gewordensein" zeige sich Kant als „echtester Philosoph der bürgerlich-revolutionären Aufklärung und als weit mehr".35 Kants Denken weise - im Unterschied zu Hegel - über den bürgerlichen Horizont hinaus und sei von historischem Optimismus durchdrungen, der nicht flach, sondern zutiefst theoretisch sei. Die weiteren, anlässlich des Kantjubiläums 1954 in der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie" veröffentlichten Kantaufsätze machten gegenüber der gedanklichen Enge und Einseitigkeit spätbürgerlicher Kantinterpretation auf in ihr zumeist vernachlässigte Aspekte seines Denkens aufmerksam. Georg Klaus veranschaulichte in einem Aufsatz ;,Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels' und das moderne Weltbild" den Anteil Kants zur Durchsetzung des materialistisch inspirierten Entwicklungsdenkens, seine Pionierrolle für die Ausbildung der kosmogonischen Theorie aus heutiger Sicht. Wolfgang Harich verwies in seinem Beitrag „Ein Kant-Motiv im philosophischen Denken Herders" in Antithese zur bürgerlichen Konzeption von der ahistorischen Aufklärung, im Kontrast zur geisteswissenschaftlichen Betrachtungswiese von W. Dilthey und Th. Litt, auf Kantinspirationen beim jungen Herder, die in dessen spätere Naturphilosophie einfliessen und wesentlich zur Ausprägung des historischen Sinnes in Herders Weltanschauung beigetragen haben. Bereits im ersten Heft der Zeitschrift erschien 1953 ein Aufsatz von Georg Mende „Kant und das Problem des ewigen Friedens".

Den qualitativen Fortschritt der klassischen deutschen Philosophie im Vergleich zur Philosophie der Aufklärung wie die historischen und die innertheoretischen Voraussetzungen für die Ausbildung des Idealismus der deutschen Klassik erörterte Gottfried Stiehler in seiner Monographie „Der deutsche Idealismus von Kant bis Hegel".36 Stiehler erhellt den Zusammenhang zwischen der Konstitution des idealistischen Denkens und den Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis in der deutschen Philosophie an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert besonders hinsichtlich der Entwicklung des dialektischen Denkens, des Begreifens der „tätigen Seite" sowie der Religions- und Sozialkritik.

Zu einem Höhepunkt bei der Aneignung des philosophischen Erbes Kants in der DDR gestaltete sich das Kantjubiläum 1974. An den Universitäten der DDR fanden wissenschaftliche Konferenzen und Veranstaltungen mit beachtlichem wissenschaftlichen Niveau statt. Das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR führte gemeinsam mit dem Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR im März 1974 in Berlin ein Symposium durch, auf dem namhafte Wissenschaftler des In- und Auslands Vorträge hielten.37 Zu erwähnen sind hier u.a. die Beiträge von M. Buhr, T. 1. Oiserman, B. M. Kedrow, H.-J. Treder, J. d'Hondt, J. Zeleny, A. S. Bogomolow, M. Thom, W. R. Beyer, H. Ley, N. Merker, A. Gedö, D. Wittich, V. Ruml und R. Steigerwald. Im Mittelpunkt der Konferenzbeiträge standen Untersuchungen zur Rolle des Kantschen Denkens im Prisma der gesellschaftlichen Umbruchprozesse im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert und ihrer intellektuellen Reflexion, die Leistung seiner Weltanschauung als Quintessenz, Ausdruck und weitere Voraussetzung des naturwissenschaftlichen Fortschritts sowie Kants revolutionierende Impulse für Dialektik, Geschichtsphilosophie und Ethik als Manifestation bürgerlichen Selbstverständnisses. Der erschienene Protokollband dokumentiert die gedankliche Tiefe marxistischer Kantforschung. Das Symposium stand im Gegensatz zur der traditionellen Orientierung bürgerlicher Kantinterpretation, die sich weitgehend auf die Analyse der formellen Strukturen idealistischen Denkens beschränkte und sich in den Grenzen einer engen - insgesamt natürlich berechtigten - Kantphilologie bewegte. Ein vielschichtiges Problemspektrum behandelte das im Rahmen der Kantehrung 1974 entstandene Buch „Zum Kantverständnis unserer Zeit", hrsg. von H. Ley, P. Ruben und G. Stiehler.38 Hervorzuheben sind hier Analysen von H. Ley, in denen die epikureische Grundtendenz in Kants Naturverständnis, der Zusammenhang von empirischen Herangehen und theoretischer Konstruktion bei ihm besonders vergegenwärtigt wurde. Eine der bemerkenswertesten Leistungen der Kantforschung der DDR war die Monographie von Martina Thom „Ideologie und Erkenntnistheorie. Untersuchung am Beispiel des Kritizismus und Transzendentalismus Immanuel Kants".39 M. Thom verfolgt detailliert die Herausbildung des Kantschen Kritizismus besonders unter dem Gesichtspunkt der ihm vorgeschalteten sozial- und moraltheoretischen Aspekte. Die Autorin begründet überzeugend, dass Kants Transzendentalphilosophie eine qualitativ neue Phase bei der begrifflichen Erfassung der geschichtsgestaltenden und sich selbst bestimmenden Tätigkeit des Menschen bildet, woraus sich die veränderte Sicht der Erkenntnisproblematik ergibt.

Die Kerngedanken des Kantschen Denkens sind von beeindruckender Aktualität, gerade im Vorfeld des Kantjubiläums 2004. In einer Welt drückender sozialer Ungerechtigkeiten, maßlosen Profitstrebens, wachsender Gewalttätigkeiten und angesichts der Gefahr des Rückfalls der Menschheit in Barbarei ist Kants Bestimmung des Menschen als Selbstzweck, seine außerordentliche Hochschätzung der menschlichen Würde von großem Gewicht. Kants Lehre von der theoretischen und praktischen Vernunft ist, wie M. Buhr betont, unverzichtbarer Bestandteil des europäischen geistigen Erbes, eines Denkens, das die Jetzt-Zeit überschreitet, „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eins nimmt sowie das Ziel vorgibt, das zu einer pazifizierten Menschheit, zu universellem kulturellem Austausch und zu universeller sozialer Gerechtigkeit führen soll".40 Im besonderen hat Kants Idee des ewigen Friedens als Kulminationspunkt der praktischen Vernunft hohen Stellenwert. Sie ist als philosophischer Entwurf „keine Utopie oder naive Illusion eines altmodischen Philosophen, sondern - im Gegenteil - eine für unsere Welt zwar nicht einzig mögliche, doch einzig sinnvolle Alternative der nackten Gewalt und der barbarischen Selbstzerstörung".41 Dabei aber ist die Intention der Verbindung der Ideen Kants und Marx', wie sie die „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung" zum Ausdruck bringt, indem sie die Impulse von Kants kategorischem Imperativ aufnimmt und weiterführt, letztlich unabdingbar.

1 M. Buhr, Vernunft - Mensch - Geschichte. Studien zur Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen Philosophie (Schriften zur Philosophie und ihrer Geschichte 7), Berlin 1977,S.74.

2 Vgl. D. Bergner, Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 29 (1981) 12, S. 1488ff.

3 J. Zeleny, Kants transzendentale Logik, in: Revolution der Denkart oder Denkart der Revoluti

on. Beiträge zur Philosophie Immanuel Kants, hrsg. v. M. Buhr und T. 1. Oiserman (Schriften zur Philosophie und ihrer Geschichte 1), Berlin 1976, S. 69.

4 Vgl. J. d'Hondt, Kant und die philosophische Tiefe, in: ebenda, S. 59.

5 Vgl. W. Heise, Die Wirklichkeit des Möglichen. Dichtung und Ästhetik in Deutschland 17501850, Berlin 1990, S. 351.

6 K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, Hamburg 1872, in: MEGA(2), Bd. 11/6, S. 709.

7 Ebenda, S. 106£.

8 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEGA(2), Bd. 1/2, S. 106f.

9 J. Zeleny, Kants transzendentale Logik, a. a. O., S. 74.

10 J. Zeleny, Die Wissenschaftslogik bei Marx und das „Kapital", Berlin 1968, S. 310.

11 K. Marx an Heinrich Marx. 10./11. November 1837. In: MEGA(2), Bd. 111/l, S. I0f

12 Vgl. K. Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, in MEGA(2), Bd. YI, S. 90f.

13 K. Marx, Das philosophische Manifest der philosophischen Rechtsschule, in: MEGA(2), Bd. 1/1,S. 194.

14 K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEGA(2), Bd. U2, S. 176f.

15 H. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Stuttgart 1977, S. 140f

16 J. B. Erhard, Über das Recht des Volkes zu einer Revolution, hrsg. v. H. G. Haasis, München 1970, S.52.

17 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1958, S. 177.

18 Ebenda, S. 178.

19 K. Marx, Ökonomische Manuskripte 1857/58, in: MEGA(2), Bd. II/1.1, S. 80f - Vgl. hierzu auch: St. Dietzsch, Dimensionen der Transzendentalphilosophie 1780-1810, Berlin 1990, S. 3811.

20 K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, Hamburg 1872, in: MEGA(2), Bd. 11/6, S. 103.

21 K. Marx, Ökonomische Manuskripte 1857/58, in: MEGA(2), Bd. 11/1.1, S. 37.

22 J. Janoska, M. Bondeli, K. Kindle, M. Hofer, Das „Methodenkapitel" von Karl Marx. Ein historischer und systematischer Kommentar, Basel 1994, S. 112.

23 K. Marx, Ökonomische Manuskripte 1857/58, in: MEGA(2), Bd. 11/1.1, S. 37. 24 Ebenda, S. 36.

25 Vgl. hierzu: W. Goldschmidt, Karl Marx als Kritiker. Von der Kritik der Philosophie über die Kritik der Politik zur Kritik der politischen Ökonomie, in: M. Hahn/H. J. Sandkühler (Hrsg.), Karl Marx. Kritik und positive Wissenschaft, Köln 1986, S. 96ff.

26 F. Mehring, Karl Marx. Geschichte seines Lebens, Berlin 1960, S. 387.

27 Vgl. H.-G. Backhaus, Ober den Doppelsinn der Begriffe „politische Ökonomie" und „Kritik" bei Marx und in der Frankfurter Schule, in: Wolfgang Harich zum Gedächtnis, hrsg. v. St. Dornuf u. R. Pitsch, Bd. 11, München 2000, S. l0ff.

28 K. Marx, Ökonomische Manuskripte 1857/58, in: MEGA(2), Bd. 11/1.1, S. 41.

29 K. Marx an F. Lassalle, 22. Februar 1858, In: MEW, Bd. 29, S. 550.

30 K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, Hamburg 1872, in: MEGA(2), Bd. II/6, S. 701 ff

31 K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEGA(2), Bd. 1/11, S. 101f.

32 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Kant's gesammelte Schriften (Akad.-Ausg.), Bd. V, Berlin 1908,S.435.

33 K. Marx, Ökonomische Manuskripte 1857/58, in: MEGA(2), Bd. 11/1.2, S. 392.

34 K. Marx, Ökonomische Manuskripte 1863 - 1867, in: MEGA(2), Bd. 11/4.2, S. 838.

35 E. Bloch, Zweierlei Kant-Gedenkjahre, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 2 (1954), H. 1, S. 5ff.

36 Berlin 1970.

37 Vgl. Anm. 3.

38 Berlin 1975.

39 Berlin 1980. - Die Forschungsarbeiten zu Kant sind hier nur sehr auszugsweise genannt. Hinzuweisen ist insbesondere auf die Arbeiten von M. Buhr (vgl. Fußnote 1) und W. Heise (vgl. Fußnote 5). Nicht unberücksichtigt dürfen die in der DDR erschienenen Texteditionen zu Kant bleiben. Neben den wiederholt aufgelegten Hauptschriften Kants erschienen u.a.: Kants Frühschriften in zwei Bänden, hrsg. v. G. Klaus unter Mitarbeit von M. Buhr, Berlin 1961; Von den Träumen der Vernunft. Kleine Schriften zu Kunst, Philosophie, Geschichte und Politik, hrsg. v. St. Dietzsch, Leipzig und Weimar 1981; Schriften zur Religion, hrsg. v. M. Thom, Berlin 1981; Zum ewigen Frieden. Mit Texten zur Rezeption 1789 - 1800, hrsg. von M. Buhr und St. Dietzsch, Leipzig 1984.

40 M. Buhr, Das geistige Erbe Europas als Chance, in: Europa und die geistige Situation der Zeit. Beiträge zum geistigen europäischen Erbe, hrsg. v. M. Buhr, Napoli 2000, S. 283f.

41 M. J. Siemek, Kants Entwurf des „ewigen Friedens" und das politische Ethos der europäischen Moderne, a. a. O., S. 135.


 

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