Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 49, März 2002, 13. Jhrg

Editorial

Die politische Konstellation im Vorfeld der Bundestagswahlen wird gegenwärtig vom neuen Aufschwung des konservativen Lagers in der öffentlichen Meinung bestimmt. Mit den Faktoren, die diesen Trend in der gesellschaftlichen Grundstimmung antreiben und beeinflussen, beschäftigen sich eine Reihe von Beiträgen in diesem wie im nächsten Heft von Z.

Christoph Butterwegge bilanziert die Sozialpolitik der rot-grünen Koalition seit 1998 (S. 8-21). Auf wichtigen Politikfeldern (Haushaltspolitik, Steuerreform, Rentenreform) ist die Bundesregierung nach anfänglicher Korrektur sozial- und beschäftigungspolitischer „Zumutungen“ der CDU-Regierung weitgehend auf deren Konzeptionen eingeschwenkt. Die Privatisierungs-, Deregulierungs- und Flexibilisierungsmaßnahmen zu Lasten großer Teile der Bevölkerung zwecks Verbesserung der Konkurrenzbedingungen des Wirtschaftsstandortes wurden nicht aufgegeben, sondern fortgesetzt. Im Unterschied zum „Neoliberalismus“ verfolgt die SPD-geführte Regierung dabei eine „neokorporatistische“ Politik der Einbindung der Gewerkschaften und der Verlagerung von Entscheidungen in vorparlamentarische Gremien (Bündnis für Arbeit, Rentenkonsensgespräche usw.). Angetreten mit dem Versprechen von mehr sozialer Gerechtigkeit und Abbau der Massenarbeitslosigkeit wird die SPD heute an der gewachsenen Armut-Reichtum-Schere und der unvermindert hohen Arbeitslosigkeit gemessen. Dabei treffen die Folgen der Umverteilungspolitik in der Bundesrepublik mit den Auswirkungen des internationalen Krisenabschwungs zusammen (vgl. die Konjunktur- und Weltwirtschaftsanalysen in Z 46 und 47). Ähnlich wie im Fall der CDU 1998 hofft die rot-grüne Koalition jetzt auf Konjunkturbelebung.

Fragen des Konjunkturverlaufs sind insofern in der gegenwärtigen Situation von besonderem Interesse. Dem gehen zwei Beiträge nach. Dietmar Düe untersucht die konjunkturelle Entwicklung in der Automobilindustrie, wirtschafts- und beschäftigungspolitisch eine der wichtigsten Branchen in der Bundesrepublik, wo besonders bei Massen-PKW zur Zeit beachtliche Überkapazitäten bestehen. Seiner Ansicht nach könnte hier die Existenz auch eines Großkonzerns wie Opel gefährdet sein (vgl. S. 164-169). Alfred Müller stellt Überlegungen zu methodischen Problemen der marxistischen Konjunkturforschung zur Diskussion, die gegenwärtig in verschiedenen Zeitschriften debattiert werden (u.a. Zyklusverlauf, -dauer und -grundlagen; vgl. S. 154-163).

Zum Schwerpunkt: Die Diskussion um die Bedeutung gesellschaftlichen Wissens und des Umgangs mit diesem Wissen, früher unter Stichworten wie „Dritte industrielle Revolution“ oder „wissenschaftlich-technische Revolution“ diskutiert, hat durch den Schub der Informatisierung und durch die zunehmende Bedeutung anwendungsrelevanter Wissenszweige (Bio- und Gentechnologie) neue Brisanz bekommen. Sie gehört in den Kontext aktueller Kapitalismusanalyse und -kritik.

Ulla Lötzer (S. 22-32) stellt die Auseinandersetzungen um Wissenspatentierung in den Zusammenhang der Triade-Konkurrenz (USA/Japan/Euro­pa) und der Auseinandersetzung zwischen entwickelten kapitalistischen Ländern und Dritter Welt, deren Bioressourcen über Gen-Patentierung ebenso dem Zugriff international operierender Konzerne unterworfen werden wie Saatgut- und Medikamentenentwicklung. Konzerninteressen, staatliche Forschungs- und Wirtschaftspolitik und Institutionen (Bundespatentamt) sind hier eng miteinander verwoben. Horst Bethge (S. 33-42) untersucht gesellschafts- und bildungstheoretische Aspekte der von der OECD in Auftrag gegebenen PISA-Studie. Wissen und Bildung sind entscheidende Momente sowohl der Entwicklung der Arbeitskraft wie der Kapitalreproduktion. Bildungsfragen und die Entwicklung des Bildungssystems sind insofern relevant im Rahmen der Standortkonkurrenz, unterliegen aber zugleich in Zeiten zunehmender Internationalisierung und Mobilität qualifizierter Arbeitskräfte supranationalen Angleichungsbestrebungen. Kapitalinteressen kommen über die Konzeptionen von „Humankapital“ und Bildungs-Rendite, aber auch ein reduziertes Bildungsverständnis, bei dem es nicht um „Bildung für alle“, sondern verwertungsrelevantes Wissen geht, zum Ausdruck.

Um den Zusammenhang zwischen dem Wissens- und dem Nachhaltigkeitsdiskurs geht es im Beitrag von Hubert Laitko (S. 43-54). Beide Diskurse sind auf den Generationenübergang bezogen (Wissens- und Bildungsübermittlung von einer zur nächsten Generation; ressourcenökonomische Gewährleistung der Bedürfnisse zukünftiger Generationen). Laitko konstatiert einen engen Zusammenhang zwischen der Reproduktion, Erschließung und Erweiterung des Wissensbestandes der Gesellschaft und der Disposition der Gesellschaft zu einer nachhaltigen Entwicklung. Aber der Status von Wissen als öffentliches Gut und die Dominanz von Ressourcenökonomie in einer auf Nachhaltigkeit orientierten Gesellschaft stehen in Gegensatz zu Essentials kapitalistischer Reproduktion. Mit den luftigen Begriffsbildungen der soziologischen Diskussion um „Wissensgesellschaft“ macht Steffen Dörhöfer bekannt. Er referiert verschiedene Versuche, die wachsende Bedeutung von „Wissen“ im Rahmen von Modernisierungs- und Systemtheorien sowie „epistemischem Konstruktivismus“ zu fassen, Konzeptionen, mit denen die etablierte Soziologie zum Ausdruck zu bringen sucht, dass Wissen zu einem zentralen Moment und Strukturprinzip einer „postindustriellen Gesellschaft“ wird.

Die in diesem Heft im Anschluss an den Schwerpunkt von Z 48 zusammengestellten Beiträge zur Globalisierungskritik beziehen sich primär auf ideologische und politische Momente. Frank Unger verfolgt Traditionen der US-Außenpolitik und konstatiert wachsende Spannungen zwischen Europa und den USA; Ursula Schumm-Garling beschäftigt sich mit der Rolle des Staates im Neoliberalismus und dessen Ablehnung von Verantwortung und Gerechtigkeit als moralische Kategorien; Christian Fuchs/Wolfgang Hofkirchner interpretieren im zweiten Teil ihres Beitrags über Globalisierungstheorien Globalisierung als allgemeinen Prozess der Menschheitsgeschichte, der im Kapitalismus eine spezifische antagonistische Ausprägung erhält. Die in den letzten Heften vorgestellten Länder- und Regionalstudien (Z 46: Kamerun; FTAA in Lateinamerika; Z 48: Afghanistan; Argentinien) werden mit einem Bericht von Yasmine Boudjenah über Staat und Wirtschaft in Algerien ergänzt.

In den Zusammenhang der Diskussion um marxistische Theorie und Theoriegeschichte gehören die Beiträge von Andreas Wehr, Gottfried Stiehler und Thieß Petersen. Andreas Wehr stellt die Arbeiten des italienischen Philosophen Domenico Losurdo zum Problem der Bewertung der „abstrakten“ bzw. „formellen“ bürgerlichen Freiheit und dem Umgang mit „formellen Freiheiten“ in der Geschichte des Sozialismus vor; er wird sich in Z 50 mit Losurdos Ansichten zum Komplex „Staat/Absterben des Staates/Staat und Gesellschaft im Sozialismus“ befassen. Geschichte und historisches Schicksal des Realsozialismus weisen den Sozialismus als eine „Problemlösung“ aus, die selbst neue Probleme und Widersprüche aufwirft – ein aporetisches Projekt. Gottfried Stiehler verfolgt dies mit Blick auf die Fragen Zentralismus/Dezentralismus, Entfremdung (Plan und Markt) und Selbstbestimmung der Individuen. Thieß Petersen gibt eine Darstellung und Interpretation des Begriffs der Entfremdung bei Marx und versucht eine Systematisierung von Erscheinungsformen von Entfremdung, die auch in gesellschaftskritischer, nichtmarxistischer Literatur reflektiert werden.

Wir verweisen interessierte Leserinnen und Leser nochmals auf die web-site von Z (http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de), die in Zukunft den Zugriff auf zurückliegende Hefte (Editorials, Inhaltsverzeichnisse, einzelne Beiträge) erleichtern wird. Die dort angegebene mail-Adresse (redaktion@zme-net.de) kann, neben den persönlichen mail-Adressen der einzelnen Redakteure, auch für Bestellungen, Kommunikation und Artikelangebote genutzt werden. Z 50 (Juni-Ausgabe) wird sich mit „Umverteilung und Militarisierung“ in der Bundesrepublik beschäftigen.

 
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