Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 48, Dezember 2001, 12. Jhrg
Helmut Bock

Die Russische Revolution
„Kriegskind“ des 20. Jahrhunderts (1997)

Immer droht dem Nachdenken über Geschichte die Gefahr geistiger Selbstauslieferung an geschäftige „Traditionsmacher“: Sachwalter rein politischer Interessen, die ihre „Traditionen“ aus der Geschichte herleiten – zumeist durch willkürliche Auswahl, Deutung, Aktualisierung. Mit anderen Worten: Es gibt subjektive Vorgänge, bei denen Ereignisse, Ideen und Taten der Vergangenheit gemäß aktuell-politischer Strategien rezipiert, durch die jeweils herrschende Traditionspflege aber auch zurechtgemacht werden.

Von Wert ist dagegen ein anderes: arbeiten mit dem Begriff „historisches Erbe“. Das bezieht sich auf alles, was objektiv in der Geschichte existiert und – wie auch immer – als Wirkungskraft einen Einfluß auf den Gang der Völker und der Menschheit gewonnen, die Zeitgenossen wie die Nachgeborenen geprägt hat. Der objektivierende Begriff des historischen Erbes ist geeignet, Aktivitäten und Entscheidungen der Vergangenheit primär aus den vergangenen Bedingungen und Verhältnissen zu verstehen, folglich nicht anders als durch historisch-konkrete Reproduktion zu erinnern. Fünfundachtzig Jahre nach dem Beginn der Russischen Revolution wäre demnach sine ira et studio zu sagen, was die widerstreitenden Akteure von 1917 unter den Konflikten ihrer Zeit, dem Zwang zuvor niemals erlebter Verheerungen tun wollten und konnten: was sie erhofften, erreichten – aber auch verfehlten.

Die forschende Analyse und Interpretation (Voraussetzung des historisch gegründeten Erinnerns) erfolgt freilich nicht ohne weltpolitische Erfahrungen, die allen Generationen seit damals zugewachsen sind. Dieses heutige Wissen, das durch sehr verschiedene Urteilsweisen wiederum stark eingefärbt ist, kann ebenfalls dazu verleiten, die geschichtliche Rückschau subjektiver Beeinträchtigung auszusetzen. Da sind die Millionen der Desillusionierten, der Enttäuschten und Resignativen. Vormals Tätige oder Sympathisierende der sozialen Revolution, empfinden sie sich nunmehr auf dem Scherbenhaufen des mißlungenen, strukturell auch mißratenen staatsmonopolistischen Sozialismus. Selbst ethische Sozialisten, die vom ideellen Gebot der Gerechtigkeit, von der überlieferten Verheißung der „Gleichheit“ und der „Brüderlichkeit“ aller Menschen und Völker noch immer überzeugt geblieben sind, nennen die vormals  apostrophierte „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ eine historische „Sackgasse“. Sie verdiene wohl keine sonderliche Erinnerung, jedenfalls keine Würdigung als ein großes Ereignis und Datum der Weltgeschichte.

Jedoch sind da auch die Verächter sozialer Empörungen und antikapitalistischer Alternativen. Durch deren Brille betrachtet, erscheint die Russische Revolution als Büchse der Pandora, aus der die gesellschaftspolitischen Irrtümer, Krankheiten, Staatsverbrechen des 20. Jahrhunderts gekommen seien. Widerspruch zwischen bürgerlicher Demokratie und kommunistisch-faschistischem Totalitarismus – so heißt das Konstrukt, wonach das Wesen des Jahrhunderts erklärt werden soll. Die konkrete Historie aber zeigt mehr als nur den Gegensatz von Demokratie und Totalitarismus, deren differente Staats- und Gesellschaftsformen gewiß unvereinbar, aber durch die Gleichsetzung faschistischer und prinzipiell antifaschistischer Diktaturen in der nun wiederum ideologischen Theorie verfälscht sind. Nicht einfach Totalitarismus, sondern Rüstung, Kriege, menschheitliche Vernichtungsgefahr waren das Krebsgeschwür. Eine realistische und ehrliche Retrospektive offenbart, daß zumindest die erste Jahrhunderthälfte eine Epoche nie dagewesener Kriege und weltweit wachsender Zerstörungen war. Und nicht die von 1917 gekommene Sowjetunion war „der Schoß, aus dem das kroch“. Schon der erste Weltkrieg war eine Völkerkatastrophe – allein von kapitalistischen Staaten verschiedener Nationen und Wachstumsgrade bewirkt und verschuldet.

Ursachen und Wirkungen erscheinen unter diesem Aspekt vom Kopf auf die Füße gestellt. „Revolution war das Kriegskind des 20. Jahrhunderts: Besonders die Russische Revolution von 1917 [...]. Die Revolution, die schließlich alle Regime von Wladiwostok bis zum Rhein hinwegfegte, war ein Aufstand gegen den Krieg.“ So schreibt der britische Historiker E. Hobsbawm zu Recht in seiner Jahrhundertbilanz „Das Zeitalter der Extreme“. [1]

1.

Man befrage die hinterlassenen Zeugnisse der Vorkriegszeit um 1900, als die führenden Nationalstaaten längst konstituiert waren und das große Kapital begonnen hatte, sich in Monopolvereinigungen der Industrie und der Banken zu konzentrieren. Seit dem Krimkrieg hatten sieben militärische Regionalkonflikte das Staatensystem Europas erschüttert, ganz zu schweigen von den kolonialen Aggressionen, mit denen Großbritannien, Frankreich, die USA, Deutschland, Italien die Völker anderer Kontinente heimsuchten. Zumal Deutschlands arroganter Triumph über die französische Nation im Spiegelsaal zu Versailles war Ursache eines ganz neuartigen Unheils: Bismarcks Reichsgründungsakt und der Annexionsfriede von 1871 beschworen den Krieg aller bisherigen Kriege, das düstere Menetekel des Weltkrieges herauf. In steigender Sorge beobachtete die geistige Elite Europas, wie mit der militärpolitischen Staatenblockbildung nicht nur ein gewaltiger Zusammenprall drohte. Mit dem Eilmarsch der Technik und Industrie, den die Wachstumsfanatiker eine unaufhaltsame Modernisierung, sogar einen „Fortschritt“ nennen, hatte eine verhängnisvolle, bis heute andauernde Entwicklung begonnen - eine nie endende Revolution der Waffentechnik und ein darauf basierendes Wettrüsten.

Das war die Welt, in der sich die Parteien der nationalen Arbeiterklassen formierten, um mit der sozialen Emanzipation auch eine internationale Befriedung herbeizuführen. Marx und Engels, strategisch denkende Köpfe dieser Bestrebungen, hatten in ihrer Frühzeit einen „Weltkrieg“ durchaus für die „Weltrevolution“ und den erstrebten „Weltfrieden“ in Kauf nehmen wollen. Seit Gründung der „Ersten Internationale“ (1864), zumal seit dem deutsch-französischen Krieg (1870/71) wirkten sie jedoch mit Entschiedenheit gegen jeden der europäischen Staatenkriege. Die beiden Dioskuren waren sich in der Auffassung einig, daß Krieg „unser größtes Unglück“ sei. [2] Der kommende Weltkrieg war die schlimmste Befürchtung des alten Engels in London. Dafür zeugt ein Text von nahezu alttestamentarischer Prophetie: „ Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, [...] Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankrott; Zusammenbruch der alten Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt [...].“ [3] Angesichts solcher Vernichtungen müßten die „Sozialisten in allen Ländern für den Frieden“ sein. Sonst würden gerade die Proletarier von den herrschenden Klassen gezwungen, „sich gegenseitig abzuschlachten“. [4] Gewiß stand die sozialistische Revolution nach wie vor im Mittelpunkt marxistischer Strategie. Doch ein Weltkrieg, den die machthabenden Regime verursachen würden und verantworten müßten, war keinesfalls mehr der Preis, den die Marxisten für ein Ende von Ausbeutung und Völkerzwietracht zu zahlen wünschten.

Auch Menschen des Bürgertums negierten Imperialismus und Militarismus, indem sie auf Friedenskongressen, interparlamentarischen Konferenzen, nationalen und internationalen Kundgebungen den modernen Pazifismus gegen den Moloch des modernen Krieges vertraten. „Die Waffen nieder!“ hieß ihre bündigste Losung. Als aber Bertha von Suttner, die den Streitruf propagiert und vorgelebt hatte, im Jahre 1906 vor dem Nobel-Komitee des Storthing in Kristiania die Weltlage reflektierte, erblickte sie alles andere als die gewünschte Achtung des Friedens und des obersten der Menschenrechte – des „Rechts auf Leben“, das doch in vielzitierten Deklarationen von 1789 bis 1793 vom emporsteigenden Bürgertum verkündet worden war. Sie sah die Menschenschlächterei des russisch-japanischen Krieges und als Folge die Revolution von 1905. In den Staaten Mittel- und Westeuropas gewahrte sie chauvinistische Hetze, Säbelgerassel und Rüstungen überall. „Festungen werden gebaut, Unterseeboote fabriziert, ganze Strecken unterminiert, kriegstüchtige Luftschiffe probiert, mit einem Eifer, als wäre das demnächstige Losschlagen die sicherste und wichtigste Angelegenheit der Staaten.“ Suttners Resumé war eine Anklage gegen die moderne Staatenpolitik: „Auf Verleugnung der Friedensmöglichkeit, auf Geringschätzung des Lebens, auf den Zwang zum Töten ist bisher die ganze militärisch organisierte Gesellschaftsordnung aufgebaut.“ [5] Das Reformstreben der Pazifisten, das seiner Tendenz nach auf einen Völkerbund oder gar auf Vereinte Nationen abzielte, wollte die Lebensinteressen der Menschheit erfüllen. Deshalb wies die Friedenspreisträgerin wiederholt auch auf Hoffnungsträger: nicht nur Repräsentanten der bürgerlichen Demokratie, sondern auch Sozialisten der „Zweiten Internationale“. Sie empfahl den bürgerlichen Friedensgesellschaften eine andere, weit größere Friedensbewegung als möglichen Verbündeten: „die Partei, deren Anhänger schon nach Millionen zählen, die Partei der Arbeiter, des Volkes, auf deren Programm unter den wichtigsten Forderungen der ‘Völkerfrieden’ obenansteht“. [6]

Es wäre ein Leichtes, die wiederholten Friedensresolutionen der „Zweiten Internationale“ an dieser Stelle nachzubeten. Von geschichtsmächtiger Bedeutung wurde allein die Mitschuld der Vorkriegs-Sozialisten an der weltpolitischen  Katastrophe von 1914. Dafür mögen entttäuschte Erwartungen zeugen, die selbst aus dem Bürgertum kamen. Suttner verstarb eine Woche vor den Schüssen von Sarajewo mit vergeblichem Glauben an die Zuverlässigkeit der Arbeiterbewegung: „[...] Gegen den Übermilitarismus, der jetzt die Atmosphäre erfüllt, ist nicht anzukämpfen. Die einzigen – weil sie auch eine Macht sind –, auf die man hoffen kann, daß sie den Massenkrieg abwenden, sind die Sozialdemokraten.“ [7] Wie jeder weiß, verrieten die Führer der „Internationale“ ein Vertrauen, das sie jahrelang in Anspruch genommen hatten. Wohl fiel Jean Jaurès in Paris als ein Märtyrer der Friedensidee. Fast alle anderen aber reckten die Kriegsstandarten, gaben ihr Jawort für „Burgfrieden“ und Kriegskredite, so daß die „Proletarier aller Länder“ alles andere taten, als sich zu „vereinigen“.

Es gelang sämtlichen zum Krieg treibenden Regierungen, die Führer der nationalen Arbeiterparteien, mittels deren Organisation und Parteipresse auch die proletarische Klasse, an ihre Seite zu zwingen. Französische, englische, belgische Sozialisten riefen dazu auf, ihre bürgerlichen Freiheiten gegen die „halbfeudalen Monarchien“ Deutschlands und Österreich-Ungarns zu verteidigen, und es gab Sozialdemokraten des weit rückständigeren Rußland, die in dieselbe Kriegstrompete stießen, weil doch ihr Land der Entente angehörte. Die Deutschen und die Österreicher indes erklärten, die von der Sozialdemokratie erkämpften Rechte und Freiheiten gegen die Despotie des russischen Zarentums schützen zu müssen. In beiden Lagern wurde überdies ein gleichklingendes Argument als „marxistisch“ ausgegeben: Weil die Zeit für eine sozialistische Revolution noch nicht reif sei, müßten die Arbeiter die jeweils fortgeschrittenere Bourgeoisie unterstützen – aber als solche galt immer nur die des eigenen Landes.

Der Verrat an Idee und Beschlüssen des proletarischen Internationalismus riß die erste, kaum wieder gutzumachende Kluft in die Arbeiterbewegungen des 20. Jahrhunderts. Das wirkte derart traumatisch auf standhafte Internationalisten und Kriegsgegner, daß die aus ihren Reihen hervorgehenden kommunistischen Parteien auch ihrerseits jede Möglichkeit verabsäumten, die einmal verursachte Spaltung späterhin aufrichtig und demokratisch zu überwinden.

2.

Was auf den Kriegsbeginn von 1914 folgte, übertraf selbst die schlimmsten Erwartungen und Voraussagen. Niemals zuvor verzeichneten die Annalen der Weltgeschichte eine solche Barbarei. Das chauvinistische Wechselgeschrei der „Vaterlandsverteidigung“, die blutigen Massenszenen der „Generaloffensiven“, die verheerenden Trommelfeuer der „Materialschlachten“ beherrschten das sichtbare Geschehen. Das exzessive Elend der Individuen und der Völker aber blieb nur in einer lautlos wachsenden Statistik verzeichnet: Ihre Endsumme betrug rund zehn Millionen Gefallene, zwanzig Millionen Verwundete und Kriegskrüppel, mehrere – nur ungenau schätzbare – Millionen Verhungerte, Seuchentote, spurlos Verschwundene. In vier Kriegsjahren wurden zweimal soviel Menschen getötet wie in sämtlichen Kriegen seit der Französischen Revolution von 1789.    

 Unbegreifliche Menschenopfer. Milliardenverlust an Produktivkräften, materiellen Gütern und unwiederbringlichen Schätzen der Kultur. Menschliche Beziehungen – zu gegenseitiger Abschlachtung erniedrigt. Dies alles war Resultat der Politik von sogenannten zivilisierten Staaten. Der humane Sinn von Leben und Arbeit war in den Widersinn massenhafter Verrohung und Vernichtung pervertiert. Wen mag es wundern, wenn damalige Alternativdenker von einer ganz anderen „Sackgasse“ sprachen als es heutige tun: von Massenmord, staatlich sanktionierten Verbrechen – von Ruin aller Kultur, in den niemand anders als bürgerlich-kapitalistische Großmächte die Menschheit hineingezerrt hatten.

Doch am 23. Februar 1917 des Julianischen Kalenders (dem 8. März der gemeinhin gültigen Zeitrechnung) eskalierte ein Streik der Rüstungsarbeiter im Petrograder Putilowwerk und ein Hungermarsch der Frauen zu regierungsfeindlichen Demonstrationen: „Brot!“ – „Nieder mit der Selbstherrschaft!“ – „Schluß mit dem Krieg!“ Nach sechs Tagen anhaltender Massenempörung an der Newa standen auch 127.000 Soldaten, mehrheitlich Bauern im Waffenrock, an der Seite der revoltierenden Frauen und Mütter, der Arbeiterinnen und Arbeiter. Die örtliche Militärmacht entzog sich der Befehlsgewalt des Zaren, seiner Generalität und Kamarilla – und ebendas machte den Volkswiderstand zur erfolgreichen Februarrevolution. Der Abdankung Nikolaus II. folgte der Thronverzicht seines Bruders – und an demselben 2. (15.) März konstituierte sich eine bürgerliche, allerdings nur Provisorische Regierung. Hunderttausende hatten den nahezu unblutigen Machtwechsel auf Petrograds Straßenpflaster weniger mit Waffen als mit ihren Füßen erstritten. Der hauptstädtische Aufstand, der in anderen Teilen Rußlands wie auch an der Front einen verzögerten, aber nachhaltigen Widerhall fand, entsprang dem brisanten Gemenge von sozialen, mentalen, politischen Konfliktstoffen – zur Explosion getrieben durch die Verelendung der Massen, die Zwangsmittel der zaristischen Kommandogewalten und die sinnwidrige Scharfmacherei der Durchhaltestrategen des fast schon verlorenen Krieges.

Auf die Frage, wer denn eigentlich diese Revolution „gemacht“ habe, antwortete der „Volkssozialist“ V. A. Mjakotin im Frühjahr 1917: Zweifel an der bedeutenden Rolle des Proletariats könne es nicht geben, es habe die Erhebung begonnen – wie schon im Jahre 1905. Aber es habe den Kampf „nicht allein geführt“. Erst als sich die werktätige Bauernschaft und die revolutionäre Intelligenz den Protestbewegungen anschlossen, „erzitterte die Zarenmacht“. Im „letzten Moment“ hätten dann auch „bürgerliche Schichten einen bescheidenen Anteil“ genommen. Diese sozial breit gefächerte Februarrevolution sei demzufolge keine proletarische Revolution. Sie habe jedoch auch keine „rein bürgerliche“ Revolution werden können, „weil unsere Bourgeoisie“ – allzu fest mit der alten Macht verbunden – „nicht fähig ist, sie zu vollbringen“. Gewiß habe die „russische werktätige Masse“ selbst nicht die Reife, eine „völlig neue soziale Ordnung“ errichten zu können. Aber sie werde, prognostizierte der Zeitzeuge, sich auch fernerhin keinesfalls mit der „Zuschauerrolle“ begnügen. [8] Diese Erklärungen Mjakotins veranschaulichen den abstrakten Begriff der „bürgerlich-demokratischen Revolution“. Sie machen zugleich deutlich, wie sehr der Umsturz des Februar als Resultat spontaner Volks- und Massenbewegungen verstanden werden muß, deren soziale und politische Sprengkraft mit dem Sturz des Zaren keinesfalls erschöpft war.

Dennoch schien vorzugsweise die kapital- und grundbesitzende Bourgeoisie, deren Repräsentanten in der IV. Duma saßen, dazu berufen, über Rußlands Schicksal zu entscheiden. Vor allem über den aktuellen Urgrund des Massenelends, den Krieg. Gravierend ist aber die Tatsache, daß im Programm der Provisorischen Regierung, die sich mit Menschewiken und Sozialrevolutionären des Petrograder Sowjets (zumeist Aktivisten der bisherigen „Vaterlandsverteidigung“ und des „Burgfriedens“) abstimmte, der Krieg mit Stillschweigen übergangen wurde. Die neuen Minister, überdies die im Dienst verbleibenden Armeeoberbefehlshaber, das traditionelle Offizierskorps und das an der Rüstung profitierende Unternehmertum gedachten den Krieg unter allen Umständen bis zum „Sieg-Frieden“ fortzusetzen.

Es blieb den Arbeitern des Baltischen Werkes und weiteren Volksversammlungen vorbehalten, bereits im März eine sofortige Beendigung des Krieges, überdies ohne Annexionen und Kontributionen, zu verlangen. – „Frieden ohne Annexionen und Kontributionen!“ Das durchschlug den Gordischen Knoten, an dem die Staatsregierungen auf beiden Seiten der Weltkriegsfronten noch unentwegt knüpften. Die Losung war 1915 von einem Häuflein konsequenter Sozialisten und Internationalisten auf der Zimmerwalder Konferenz in frustrierender Einsamkeit beschlossen und vertreten worden. Jetzt endlich entstieg sie den Arbeiterhirnen, zündete sie auch in einer Unzahl geschundener, zum Schlachtentod verurteilter Bauernsoldaten.

Gerade die Alternative Krieg oder Frieden bewirkte jene Zerreißproben, an denen im Revolutionsjahr 1917 insgesamt vier Ministerkabinette der bürgerlichen Regierung zerbrachen. Vor allem die von A. F. Kerenski befohlene Sommeroffensive, ihr verlustreiches Scheitern bei gleichzeitiger Niederschlagung der Antikriegsdemonstrationen im Juli, war der mentale Wendepunkt, seitdem eine Übereinkunft zwischen Regierung und Volk, Heeresführung und Soldaten unmöglich wurde. „Alle Macht den Sowjets!“ hieß das Banner, unter dem die gewaltsam zurückgewiesenen Massen sich sammelten: Mehr und mehr auch gegen regierungstreue Menschewiken und Sozialrevolutionäre gestimmt, in Petrograd, Moskau und weiteren Städten unter den Einfluß der entschieden revolutionären Bolschewiken geratend.

Die Situation war seit dem Februaraufstand im höchsten Grade verworren und widersprüchlich. Von den Zwangsinstitutionen der zaristischen Staatsgewalt war Rußland befreit. Der Sieg des Volkes hatte ein Vakuum für Aktivitäten geschaffen, die in den anderen kriegführenden Ländern durchaus unerlaubt waren. Arbeiter, Soldaten, Bauern, Landarme drängten in ihren Lebensräumen und militärischen Standorten zur Selbstorganisation ihrer sozialen Interessen, zur Bildung von unzähligen Komitees und zumal von Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten. Es waren Volksvertretungen, die eine Basisdemokratie verkörperten. Nach Geist und Form keinesfalls nur Anhängsel des bürgerlichen Liberalismus! Vielmehr vergleichbar mit den auf konsequenter „Volkssouveränität“ basierenden Verbündnissen des revolutionären Demokratismus aller früheren Revolutionen seit 1789.

Mit Recht betont daher der russische Geschichtsschreiber R. A. Medwedew die Bedeutung der Februarrevolution und ihrer unmittelbaren Wirkungen im Gesamtzusammenhang der Russischen Revolution: „Obwohl sich die Februar- und die Oktoberrevolution in ihren Zwecken, Triebkräften und Folgen wesentlich unterschieden, wiesen sie doch auch viele gemeinsame Ursachen auf. Im retrospektiven Bewußtsein der Menschheit erscheinen sie heute als zwei Etappen eines einheitlichen revolutionären Prozesses, der das Jahr 1917 in Rußland bestimmte.“ [9] P. W. Wolobujew und W. P. Buldakow, akademische Koordinatoren der russischen Revolutionshistoriographie, ergänzen diese Gesamtschau durch eine betonte Wertung der Februarrevolution unter psychosozialen Aspekten: „Entgegen den Vorstellungen der Ereignishistoriographie erweist sich nicht der ‘bolschewistische’ Oktober, sondern der ‘demokratische’ Februar als der kritische Punkt im Jahre 1917. Für die im paternalistischen Denken verhafteten Massen war die Tatsache des Sturzes der Macht von außerordentlicher Bedeutung und viel wichtiger als ihre Übernahme [...].“ [10] Der Sturz des Zarismus habe für Rußland einen sofortigen, mentalen Gewinn gebracht: Den Sieg der Idee der „Gerechtigkeit“ und die Erwartung, daß sie forthin von einer volksnahen oder gar „volksdemokratischen“ Politik ausgefüllt werde.

Interessen und Streitsachen der sich organisierenden Massen vervielfachten und überkreuzten sich in zwei verschiedenen Zivilisationssphären, die für Rußland charakteristisch waren: in der relativ fortgeschrittenen „europäisch-städtischen“ Sphäre und in der „traditionell-dörflichen“ Rückständigkeit. Hier wie dort erhob man unabdingliche Ansprüche, wurden sogar vollendete Tatsachen geschaffen. Sie widersprachen den Zielen der Besitzklassen, ihrer wechselnd amtierenden Staatsregierungen und widerspiegeln die Verwicklung der Konflikte, die Widerspruchsdialektik der Jahre 1917/18.

Der Ruf „Schluß mit dem Krieg!“ war die akute Massenforderung und insbesondere eine verbale Ermutigung zur Selbsthilfe der Soldatensowjets, zur Befehlsverweigerung und Desertion. Sie wurde von Ministern und Generalität mit kriegerischen Solidaritätsadressen an die Ententemächte, mit der gewaltsamen Unterdrückung erneuter Antikriegsdemonstrationen und der Wiedereinführung standrechtlicher Todesstrafen erwidert. Die Forderung „Der Boden den Bauern!“, nächst dem Antikriegsruf die verbreitetste Losung der größten, mindestens achtzig Prozent zählenden Bevölkerungsmasse, meinte Enteignung des großen Grundbesitzes und zumeist Übergabe des Bodens an die Dorfgemeinden zwecks Nutzung von bäuerlichen Produzenten: schon praktiziert durch Überfälle auf die Großgrundbesitzer, durch eigenmächtige Konfiskationen von Land, Saatgut und Gerätschaften. Die Regierung, obwohl mit agrarischen Reformprojekten beschäftigt, reagierte mittels Einsatz von Kosakenschwadronen, worauf Bauernaufstände in rund 30 Gouvernements antworteten. Die Proletarier in Großindustrie, Verkehrswesen und den geringeren Produktionstätten waren in politischer und organisatorischer Hinsicht die am meisten bewußte, aber mit nur vier Prozent die kleinste Schicht der Bevölkerung. Diese Vorkämpfer der Februarrevolution kämpften nunmehr mit Hilfe ihrer spezifischen Vereinigungen – der Fabrikkomitees und der Gewerkschaften – für den achtstündigen Arbeitstag, bessere Löhne, Produktions- und Absatzkontrolle in den Betrieben spekulierender Fabrikanten. Dem Unternehmertum und den amtlichen Hütern des bürgerlichen „Eigentums“ galten gerade sie als Bedrohung der kapitalistischen „Freiheit“, als eine Gefahr für die ganze bürgerliche Gesellschaftsordnung. Die Nationalvertretungen Finnlands, des Baltikums, der Ukraine, der Regionen des Südens beanspruchten nationale Autonomie, sogar staatliche Unabhängigkeit. Doch die Provisorische Regierung Gesamt-Rußlands glaubte sich genötigt, auf den Fortbestand des Vielvölkerstaats, auf die großrussische Einheit zu pochen. Die amtlichen Verlautbarungen sagten zu allen diesen Problemen: Noch müßten die Gesetzesbeschlüsse einer „Konstituierenden Versammlung“, die den neuen, verfassungsmäßigen Staat begründe, abgewartet werden. Jedoch die Wahlen zu dieser Konstituante wurden wegen der vielfachen Unruhe des Landes fortwährend hinausgeschoben.

So pendelte schließlich die Regierung des Sozialrevolutionärs Kerenski im Herbst 1917 zwischen Machtbehauptung und Ohnmacht. Nach „links“ war sie gegen die „Anarchie“ der Massen gerichtet und drohte, die künftige Konstituante zu benutzen, um die Sowjets, die politisch bedeutendsten Volksvertretungen, aufzulösen. Von „rechts“ aber wurde sie selbst bedroht – durch die Konterrevolution, zumal den Putschversuch des Generals Kornilow. Bei alledem standen die Armeen der Deutschen im russischen Land. Sie rückten über das Baltikum näher und näher nach Petrograd vor. Nachweislich herbeigewünscht von Offizierscliquen und Kreisen der Bourgeoisie, die den äußeren Feind für ein geringeres Übel als die Revolution hielten.

Wir glauben, an dieser Stelle eine kritische Reminiszenz einschalten zu müssen. Im „leninistischen“ Geschichtsbild, das auch in der DDR dominierte, wurde der „Februar“ als bürgerlich-demokratische Revolution streng vom „Oktober“, der „Großen Sozialistischen Revolution“, abgesondert. Um das Problem zuspitzend zu formulieren: Der „Februar“ erschien nur als eine Art Vorspiel unreifer Charaktere und Volkselemente vor dem eigentlichen und sieghaften Revolutionsdrama mit dem „genialen Führer“ W. I. Lenin und den sich ihm anschließenden bolschewistischen Heroen. Ein Blick in historische Chroniken, Leitfäden, Abrisse erweist daher nicht selten eine Schreibart, wonach es zu genügen schien, Rußlands alte Epoche am 27. Februar (12. März) 1917 mit dem Erfolg der Petrograder Februarrevolutionäre enden und eine zeitliche Lücke offen zu lassen. Erst am 3. April (16.) begann dann die Reifungsperiode der Großen Revolution: mit Lenins Ankunft auf dem Finnländischen Bahnhof. Dort nämlich trug der intellektuelle Parteiführer seine fertig ausgedachten „April-Thesen“ in der Tasche, um sie am nächsten Tag – ganz ohne gesellschaftliche Analysen vor Ort – den teils verwunderten, teils widerständischen Bolschewiken und Menschewiken vorzusetzen.

Es war eine unbedingte Alternative zum Weltkrieg, die Lenins sogenannte April-Thesen konstituierte. Zurecht bezeichnete er den Charakter der Provisorischen Regierung als „kapitalistisch“, die Fortsetzung der Kriegspolitik mit ihren Zielen als „räuberisch“ und „imperialistisch“, so daß die gebräuchliche Phrase der „revolutionären Vaterlandsverteidigung“ nicht gelten dürfe. Aber gemäß der Auffassung, daß die bürgerlich-demokratische Revolution in Rußland bereits zuende sei, verlangte er einen sofortigen „Übergang von der ersten Etappe“ zur „zweiten Etappe der Revolution, die die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft“ legen müsse. [11] Nach dem historischen Vorbild der Pariser „Kommune“ sei ein Sowjetstaat der Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputierten zu gründen, der den „völligen Bruch mit allen Interessen des Kapitals“ vollziehe und auch „auf alle Annexionen“ verzichte. Indem er die aktuellen Beschlüsse der russischen Arbeiterbewegung, in der bürgerlichen Revolution für möglichst viel revolutionäre Demokratie zu streiten, schlechthin über den Haufen warf, wollte er die Vereinigung der Bolschewiken mit den Menschewiken vereiteln, die von den Basisorganisationen mehrheitlich gewünscht wurde. Lenin wagte den offenen Bruch mit der bisherigen Revolutionsentwicklung und propagierte den entschiedenen Klassenkampf. Er setzte die Gründung der Kommunistischen Partei gegen jede Kooperation mit dem menschewistischen und außerrussischen Sozialdemokratismus, die Sowjets der Arbeiter, Bauern und Soldaten gegen die Provisorische Regierung, das Projekt des sozialistischen Sowjetstaats gegen die bürgerlich-parlamentarische Republik. Aber er scheiterte an der Mehrheit der Versammelten und erntete den Vorwurf „anarchistischer Demagogie“. Die bedenklichste Kritik lautete: „Von diesem Podium aus ist die Fahne des Bürgerkriegs in der revolutionären Demokratie aufgepflanzt worden.“ [12]

Lenins Kontrahenten, darunter der Bolschewik L. B. Kamenew, Vertreter der Redaktion der „Prawda“ [13] ,  und der Menschewik G. W. Plechanow, Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei Rußlands, aber auch Anhänger der „Vaterlandsverteidigung“, beriefen sich auf marxistische Überlieferung. Sie betonten die ökonomische Rückständigkeit, die gesellschaftliche Unreife Rußlands, so daß von einem baldigen Übergang zur sozialistischen Revolution keine Rede sein könnte. Dabei erinnerten sie an Friedrich Engels, der am Beispiel Thomas Müntzers die Tragik eines vorzeitigen Revolutionärs veranschaulicht hatte, und folgerten: „der sicherste Weg in den Untergang ist, die Macht verfrüht zu erobern“. [14] Es war ein Arbeiter im Soldatenrock, der in der Diskussion am 4. (17.) April 1917 die Voraussage machte: „[...] Wenn man den Weg Lenins beschreitet, werden wir nicht nur den Sozialismus, sondern auch die bürgerlichen Freiheiten zugrunde richten.“ [15]

Wollte man Lenin zugute halten, wie sehr das Morden an allen Kriegsfronten und seine Fortsetzung auch durch Rußlands neue Regierungen den radikalen Intellektuellen herausforderte, eine sofortige Alternative zum kapitalistischen Weltkrieg zu praktizieren – so gilt doch die Qual der humanen Empfindung, des geistig-moralischen Verantwortungsgefühls vor der Menschheit auch für alle anderen Anhänger der Ideen des Sozialismus. Die Kritik an den „April-Thesen“ ist jedoch vom Verfasser selbst und später von der „leninistischen“ Geschichtsschreibung als „Opportunismus“, Gesinnungslumperei und Handreichung für die Bourgeoisie, verteufelt worden. Sie hat erst durch den Untergang der Sowjetunion ihren Sinn als geschichtliche Mahnung zurückgewonnen. Überdies ist zu bedenken, daß der „Leninismus“ nach dem Tod seines Begründers stets nur auf ihn, den „großen Mann“, fokussiert blieb – trotz der marxistischen Maxime von der „schöpferischen Rolle der Volksmassen in der Geschichte“. Es war ideologische Didaktik, die die Februarrevolution zu gering schätzte und nicht hinreichend als eine in der Entwicklung begriffene „Volksrevolution“ rezipierte. Dabei geriet der höchst eigenständige Anteil der Massen, zumal ihre nicht mit Lenins Strategie übereinstimmenden Bedürfnisse und Interessen, wenig ins Blickfeld.

3.

Selten war in den Verwicklungen konkreter Historie ein „Deus ex machina“ so gefragt wie im Herbst 1917. Er kam – wie man weiß – nicht aus den Reihen von Menschewiken und Sozialrevolutionären, die auf das künftige Parlament einer Republik setzten und deren gemäßigte Repräsentanten bereits als Minister in der zunehmend verachteten Koalitionsregierung wirkten. Als durchschlagend handlungsfähig erwies sich einzig jene Parteiströmung, die sich als „Avantgarde“, „bewußter Vortrupp“ des Proletariats auffaßte. Eine Partei, die mit entschiedener Agitation gegen Kapitalisten, Großgrundbesitzer, bürgerliche Regierungen kämpfte und deren paramilitärische Schlagkraft auf einem zentralistischen, in Zukunft allerdings keineswegs unproblematischen Führungsstil beruhte: die Bolschewiken unter dem enorm gewachsenen Einfluß Lenins. Wohl widerstrebten Kamenew und G. J. Sinowjew dem Beschluß des Zentralkomitees zum bewaffneten Aufstand, indem sie sich mit einem Warnschreiben an die Partei wandten. [16] Doch die proletarische Rote Garde verhielt sich beschlußgemäß. Mit Unterstützung einer revolutionär gesinnten Soldatenmasse stürmte sie in der Nacht zum 26. Oktober (8. November) 1917 das Petrograder Winterpalais – fast genau zu dem Zeitpunkt, da sich die Deputierten des II. Allrussischen Sowjetkongresses der Arbeiter und der Soldaten im Gebäude des Smolny versammelten.

Erst dieser Aufstand eröffnete eine neue Phase der Russischen Revolution. Er war kein formal-demokratisch beglaubigter Vorgang, den die Sowjetdeputierten beschlossen hätten. Er war ein Akt radikaler Überrumpelung, bei dem die Leninsche Taktik galt, dem Kongreß den Sturz der Regierung Kerenski als ein unverrückbares Faktum vorzusetzen und angesichts des erneuten Machtvakuums grundlegende Gesetzesbeschlüsse abzuverlangen. Dem diente auch eilige Agitation. Noch war das Winterpalais, die Zuflucht der Minister, nicht erobert, da behauptete das Revolutionäre Militärkomitee unter der Leitung L. D. Trotzkis, den Regierungssturz bereits vollzogen zu haben. Zeitung und Flugblätter soufflierten den „Bürgern Rußlands“ vier sofortige Maßnahmen: Angebot eines demokratischen Friedens, Aufhebung des Eigentums der Gutsbesitzer an Grund und Boden, Arbeiterkontrolle über die Produktion – und nicht zuletzt: Bildung einer neuen Regierung im Namen der Sowjets.

Wie aber konnte das in den Weiten ganz Rußlands, fern von den dahinjagenden Ereignissen der Hauptstadt, verstanden werden? Auf den ersten Blick mochte sich die Frage stellen, ob diese Zielsetzung nicht bloß die konsequente Weiterführung der im Februar begonnenen bürgerlich-demokratischen Revolution anzeigte. Ob also die Bolschewiken (in historischer Analogie) vielleicht nur die Rolle der französischen Jakobiner von 1793 nachahmten. Doch wenige Stunden später, der Aufstand war noch immer im Gange, beschloß der Petrograder Stadtsowjet das gesellschaftliche Ziel des bevorstehenden Umsturzes: Die Sowjetregierung werde sich allein auf das „städtische Proletariat“ und die „ganze Masse der armen Bauernschaft“ stützen. Und vor allem: Sie werde „unbeirrt zum Sozialismus schreiten“, „dem einzigen Mittel, das Land von den unsagbaren Leiden und Schrecken des Krieges zu erlösen“. [17]

Das war die Strategie, die Lenin in seinen „April-Thesen“ verfochten hatte. Er sah sich jetzt nicht mehr abgewiesen, vielmehr als geistiger Führer und nannte die beabsichtigte Sowjetregierung ein Machtorgan „ohne jegliche Teilnahme der Bourgeoisie“. Als ein Rezipient des historischen Marxismus, den er soeben wieder studiert, in „Staat und Revolution“ verarbeitet hatte, forderte er die Zerschlagung des alten und die Errichtung eines neuen Staatsapparats. Er sah sich aber auch genötigt, der tradierten Überzeugung, wonach eine sozialistische „Weltrevolution“ nur von den fortgeschrittenen Ländern des Kapitalismus ausgehen konnte, Rechnung zu tragen. Deshalb kündigte er für das revolutionäre Wagnis in Petrograd die Solidarität der Arbeiter Italiens, Großbritanniens und Deutschlands an. Sie seien schon zur Empörung bereit, so daß die Weltrevolution alsbald kommen werde. Von der dringendsten aller Aufgaben sagte er: „Um aber diesen Krieg zu beenden, der mit der gegenwärtigen kapitalistischen Ordnung eng verknüpft ist, muß man – das ist allen klar – das Kapital selbst niederringen.“ [18]

Während des Aufstands und der Beratung des Stadtsowjets, der revolutionären Aktivitäten also, schmorte der Allrussische Sowjetkongreß. Dort hielten die Führer der Menschewiken und der Sozialrevolutionäre stundenlang das Präsidium besetzt, bis das Winterpalais tatsächlich genommen, die meisten Minister verhaftet und die genannten Parteigrößen frustriert genug waren, um unter demonstrativem Protest den Kongreß zu verlassen: „Eine militärische Verschwörung ist hinter dem Rücken des Kongresses organisiert worden.“ Jedoch die Isolation derer, die so plötzlich von den Führungsspitzen in die Opposition abstürzten, war unverkennbar. Der anwesende Sozialrevolutionär S. D. Mstislawski berichtet, daß „an der Basis die Stimmung der Parteimassen ohne Zweifel linker war als bei den im Februartaumel erstarrten Führungsschichten [...]“. [19] Wer zuletzt im Saal verblieb und die Beschlüsse der Oktoberrevolutionäre durch Abstimmung besiegelte, zählte immerhin zu den 625 Deputierten: 390 Bolschewiken, 179 Linke Sozialrevolutionäre sowie kleinere Gruppen der Vereinigten Internationalisten und der Ukrainischen Sozialrevolutionäre.

Am Abend des 26. Oktober (8. November) 1917, nach dem gelungenen Aufstand, schlug Lenins historische Stunde. „In armseligen Kleidern, mit Hosen, viel zu lang für ihn [...]. Führer nur dank der Überlegenheit seines Intellekts; farblos, humorlos, unnachgiebig. Als Redner nüchtern, aber mit der Fähigkeit, tiefe Gedanken in einfachste Worte zu kleiden, die Analyse konkreter Situationen zu geben“, so schildert ihn der US-amerikanische Augen- und Ohrenzeuge John Reed in seinem weithin bekannten Buch [20] , das neben den Berichten von Mstislawski und N. N. Suchanow [21] noch heute als eine Quelle für den II. Sowjetkongreß gelten kann. „Die Frage des Friedens ist die aktuellste, die alle bewegende Frage der Gegenwart.“ Mit diesem Satz begann Lenin die Verlesung des „Dekrets über den Frieden“.

Der heutige Leser, der das Dokument in Lenins „Werken“ findet [22] , kann sich kaum der historischen Tatsache verschließen, daß der Vorschlag an die kriegführenden Völker und ihre Regierungen, sofort Verhandlungen über einen „gerechten, demokratischen Frieden“ aufzunehmen, eine Botschaft war, die in der bisherigen Weltgeschichte der Staatenkriege nicht ihresgleichen hat. Kriterium der beschworenen „Gerechtigkeit“ und „Demokratie“ sollte ein „Frieden ohne Annexionen (d. h. ohne Aneignung fremder Territorien, ohne gewaltsame Angliederung fremder Völkerschaften) und ohne Kontributionen“ sein. Das Dekret enthält eine völkerrechtswürdige Bestimmung des Begriffs der „Annexion“, wie sie noch heute und zukünftig taugen möchte. Es war selbstverständlich, daß die traditionelle Geheimdiplomatie, die sekreten Regierungsabsprachen der Ententemächte, überdies sämtliche bisherigen „Annexionen der Großrussen“ sofort und bedingungslos als ungültig erklärt wurden. Für alle Nationen und Völker – gleich, ob sie „in Europa oder in fernen, überseeischen Ländern“ lebten – wurde das Recht der nationalen Selbstbestimmung eingefordert.

War dieser größere Textteil an die Völker und ihre Regierungen gerichtet, wobei die Bereitschaft erklärt wurde, auch deren eigene Friedensbedingungen erwägen zu wollen, so wandte sich das Dekret am Schluß allerdings an ganz besondere Adressaten: die „bewußten Arbeiter der drei fortgeschrittensten Nationen der Menschheit und der größten am gegenwärtigen Krieg beteiligten Staaten: Englands, Frankreichs und Deutschlands“. Die geschichtlichen Verdienste der englischen Chartisten, der französischen Arbeiterrevolutionäre, der deutschen Sozialdemokraten im Kampf gegen Bismarcks „Sozialistengesetz“ in Erinnerung rufend, sprach das Dekret nun auch vor aller Öffentlichkeit die Erwartung einer Weltrevolution aus. Die genannten nationalen Arbeiterklassen würden die russischen Oktoberrevolutionäre gewiß nicht im Stich lassen: Sie würden „durch ihre allseitige, entschiedene, rückhaltlos energische Tätigkeit helfen [...], die Sache des Friedens und zugleich damit die Sache der Befreiung der werktätigen und ausgebeuteten Volksmassen von jeder Sklaverei und jeder Ausbeutung erfolgreich zu Ende zu führen“. Trotz dieses optimistischen Ausblicks sagten Lenins Erläuterungen, die nicht im Dekret enthalten sind, einen schweren Kampf voraus: „Die Regierungen und die Bourgeoisie werden alles daransetzen, um sich zu vereinen und die Arbeiter- und Bauernrevolution in Blut zu ersticken.“ Am Ende aber würden „Frieden und Sozialismus“ den Charakter der soeben beginnenden neuen Weltepoche bestimmen. [23]

Als die Diskussion über das Dekret stattgefunden hatte, sprach Lenin ein „Schlußwort“. Darin findet sich ein Gedanke, den wir festhalten möchten, weil er bezeugt, wie die Bolschewiken in der Stunde der großen Deklarationen gelobten, den Willen der Volksmassen zu achten: „Die Bourgeoisie hält nur dann einen Staat für stark, wenn er mit der ganzen Macht des Regierungsapparats die Massen dorthin zu dirigieren vermag, wohin es die bürgerlichen Machthaber wollen. Unser Begriff von Stärke ist ein anderer. Nach unseren Begriffen ist es die Bewußtheit der Massen, die den Staat stark macht. Er ist dann stark, wenn die Massen alles wissen, über alles urteilen können und alles bewußt tun.“ [24] Das mußte als ein Anerkenntnis der konsequenten Volkssouveränität, der wahren Demokratie des Volkes verstanden werden – dem aber die Bolschewiken, sobald sie Staatspartei wurden, nicht die Treue hielten. Um einen historischen Vergleich zu wagen: Der 26. August 1789, mit der Deklaration der Rechte des Menschen und des Bürgers, und der 26. Oktober (8. November) 1917, mit der Botschaft des Friedens und dem Versprechen volksdemokratischer Verhältnisse, erscheinen als Sternstunden der Menschheit. Doch ihre idealen Verheißungen wurden zu schlechter Letzt durch Verfälschungen und Enttäuschungen verdüstert, wofür sowohl Sachwalter des Kapitals als auch Führer des „realen Sozialismus“ in historischer Verantwortung stehen.

Der II. Allrussische Sowjetkongreß bestätigte ebenfalls das von Lenin verlesene, seit Jahren schon von den Sozialrevolutionären vertretene „Dekret über den Grund und Boden“. [25] Es sollte „die gewaltigen Massen der armen Bauern beruhigen“, die bekanntlich in Aufständen gegen die Großgrundbesitzer und die Provisorische Regierung rebellierten: „Das Eigentum der Gutsbesitzer am Grund und Boden wird unverzüglich ohne jede Entschädigung aufgehoben“ (Artikel 1). Diese Konfiskation galt auch für Ländereien der zaristischen Krone, der Klöster und der Kirchen. Das beschlagnahmte Eigentum sollte einstweilen der Kontrolle bäuerlicher Bodenkomitees und der Kreissowjets der Bauerndeputierten unterstehen – und zwar solange, bis Rußlands Konstituierende Versammlung endgültige Gesetze beschließen würde.

Das Dekret formulierte eine revolutionär-demokratische Lösung der Agrarfrage, die das bisherige Bodeneigentum der Bauern akzeptierte und sogar eine noch weitere Eigentumsbildung der „einfachen Bauern und der einfachen Kosaken“ ermöglichte. Doch die Linken Sozialrevolutionäre und die Bolschewiken selbst favorisierten als „gerechteste Lösung“ solche Prinzipien, die den Sozialismus erstrebten. Deshalb wurde dem Text des Dekrets ein „Bäuerlicher Wählerauftrag“ [26] beigegeben: Das „Privateigentum am Grund und Boden“ sei „für immer“ aufzuheben, der gesamte Boden zum „Gemeineigentum des Volkes“ zu machen, die Bodenschätze, Waldungen und Gewässer von größerer Bedeutung in die „ausschließliche Nutzung des Staats“ zu überführen. Das „Recht der Bodennutzung“ sollte allen Staatsbürgern, „die den Boden selbst, mit Hilfe ihrer Familie oder genossenschaftlich bearbeiten wollen“, für die Dauer ihrer Arbeitsfähigkeit zugesprochen werden. Volkseigentum wurde demnach als Staatseigentum definiert. Die Losung „Der Boden den Bauern!“ sollte sich nicht als Privateigentum, sondern nur als Verfügungsgewalt des einzelbäuerlichen Produzenten oder der Genossenschaftler realisieren. Lohnarbeit aber sollte verboten werden.

Den Bolschewiken war bewußt, daß die Majorität der Bauern nicht ihnen, sondern den Sozialrevolutionären, der größten und einflußreichsten Partei Rußlands, folgte. Dieser Umstand veranlaßte Lenin abermals zu einer volksfreundlichen Erklärung: „[...] Wir müssen der schöpferischen Kraft der Volksmassen volle Freiheit gewähren. [...] Wir glauben, daß die Bauernschaft selbst es besser als wir verstehen wird, die Frage richtig, so wie es notwendig ist, zu lösen. Ob in unserem Geiste oder im Geiste des Programms der Sozialrevolutionäre – das ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist, daß die Bauernschaft die feste Überzeugung gewinnt, daß es auf dem Lande keine Gutsbesitzer mehr gibt, daß es den Bauern selbst überlassen wird, alle Fragen zu entscheiden, selbst ihr Leben zu gestalten.“ [27] Auch das war ein momentanes Zugeständnis, das aber von der Staatspartei Lenins und späterhin Stalins keineswegs eingelöst wurde.

Das dritte Dekret des Kongresses beinhaltete den „Beschluß über die Bildung der Arbeiter- und Bauernregierung“: ausdrücklich deklariert als ein Provisorium „zur Verwaltung des Landes bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung“ und betitelt als „Rat der Volkskommissare“. [28] Die Wahl Lenins in die Funktion des Vorsitzenden (nach traditionellen Begriffen: des Ministerpräsidenten) anerkannte die intellektuelle Überzeugungskraft des Führers der Bolschewiken, der seit dem anfänglichen Fiasko seiner „April-Thesen“ die Gegenmeinungen in der Partei zurückgedrängt und bei den wichtigsten Entscheidungen seine Dominanz durchgesetzt hatte.

Die drei Beschlüsse des Sowjetkongresses waren das unmittelbare Ergebnis des zweiten Petrograder Aufstands im Prozeß der seit Februar begonnenen Revolution. Obwohl der Aufstand nicht unter sozialistischen, sondern demokratischen Losungen siegte, ist er in der Sowjetunion und von deren Parteigängern in aller Welt ein Dreivierteljahrhundert lang mit dem Diktum „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ erinnert, gefeiert, sogar verabsolutiert worden. Tatsächlich aber erfüllte die neue, sich selbst als „provisorisch“ bezeichnende Regierung bis zum Jahresende 1917 die noch ungelösten Aufgaben des bürgerlich-demokratischen Februarumsturzes: Sie ließ endlich die Wahlen zur Konstituante durchführen, mühte sich um allgemeine, jedoch von den Westmächten boykottierte Friedensverhandlungen, schloß einen Waffenstillstand mit Deutschland und seinen Verbündeten, verfügte die Aufhebung der aus der Feudalzeit überkommenen Ständestrukturen, überdies die Trennung der Kirche von Staat und Schule, die Einführung des achtstündigen Arbeitstages und des Selbstbestimmungsrechtes der unter russischer Herrschaft stehenden Nationen. Nur die Regierungsbeschlüsse über die Arbeiterkontrolle der Produktion und die Nationalisierung der Banken, des Bodens, der Bodenschätze öffneten ein Tor, das den direkten Zugang zum Sozialismus ermöglichte.

Den Führern des Oktoberumsturzes war das politische Wagnis ihrer Machteroberung bewußt. Trotzki, bekannt als ein Hauptvertreter der marxistischen Hypothese der „Weltrevolution“, hatte auf der Tribüne des Sowjetkongresses freiheraus gesagt: „[...] daß wir wohl wissen, daß, wenn auch weiterhin in Europa die imperialistische Bourgeoisie herrschen wird, das revolutionäre Rußland sich allein nicht zu halten vermag. Es gibt nur die Alternative: Entweder die russische Revolution wird eine revolutionäre Bewegung in Europa auslösen, oder die reaktionären Mächte Europas werden das revolutionäre Rußland zerstören.“ [29]

Der alte Plechanow warnte im „Offenen Brief“ an die Petrograder Arbeiter vor einer Errichtung der Diktatur des Proletariats. [30] Die Arbeiterklasse, nur eine sehr kleine Minderheit der Bevölkerung, müsse bedenken, daß die Bauern, die überwiegende Volksmehrheit, zwar das Land der Gutsbesitzer benötigten, ihre Interessen aber „nicht auf den Sozialismus, sondern auf den Kapitalismus gerichtet“ seien. Die Bauern wären daher „beim Aufbau der sozialistischen Produktionsweise ein sehr unzuverlässiger Bündnispartner“. Plechanow widersprach auch der vorschnellen Behauptung: „Was der russiche Arbeiter begonnen hat, wird der deutsche vollenden.“ Statt dessen entwarf er die unfreiwillig düstere Prognose: „Wenn das russische Proletariat die politische Macht zur unrechten Zeit erobert, wird es die soziale Revolution nicht durchführen, sondern nur den Bürgerkrieg auslösen, der es letzten Endes zwingen wird, sich weit hinter die im Februar und März dieses Jahres erkämpften Positionen zurückzuziehen.“ Dieser Mahner wurde durch staatspolizeiliche Gewalt der Öffentlichkeit entzogen. Er starb Monate später im finnischen Exil.

4.

Im ganzen Frühjahr und Sommer 1917 waren die Bolschewiken eine radikale, selbstverantwortliche, in den Untergrund gedrängte Oppositionspartei gewesen. Jetzt aber, bei Ausübung der provisorischen Regierungsgewalt, befanden sich Lenin und seine Mitstreiter in der höchsten Verantwortung und daher nicht mehr so „frei“ wie zuvor. Sie standen im zeitweiligen Koalitionszwang mit Linken Sozialrevolutionären und mehr noch unter dem Massendruck von Bauern, Soldaten, Arbeitern, bürgerlichen Nationalisten, die von „Sozialisierung“ und gar von „Sozialismus“ sprachen, ohne aber die tatsächlichen Konsequenzen zu kennen oder zu wollen.

Es gab gravierende Widersprüche. Während die proletarische „Avantgarde“ das Privateigentum an den Produktionsmitteln abzuschaffen gedachte, wollten, die grundbesitzenden Bauern ihr Land behalten, wollten auch viele der Besitzlosen in den Dorfgemeinden endlich zu persönlichem Eigentum an Boden gelangen. Während derselbe „Vortrupp der Arbeiterklasse“ trotz seiner Friedensbemühungen an die sehr wahrscheinliche Notwendigkeit denken mußte, daß sich das erneuernde Rußland gegen innere und äußere Konterrevolution mit Revolutionstruppen zu verteidigen habe, strömten ungeheure Massen von Bauernsoldaten in ihre Dörfer zurück, um bei der Landverteilung gegenwärtig zu sein. Während die „Marxisten-Leninisten“ gerade im Industrieproletariat den missionarischen Träger für Sozialismus und Kommunismus erblickten, waren die Proletarier bekanntlich nur ein sehr geringer Bevölkerungsteil, und manch ein Arbeiter mochte das soeben gewonnene Recht, seine Vertreter zu wählen und abzuwählen, nicht der bolschewistischen „Partei- und Klassendisziplin“ opfern. Und schließlich waren die politischen Führungskräfte, die in Finnland und den anderen Landesvertretungen das Recht der nationalen Selbstbestimmung in Anspruch nahmen, in der Mehrzahl keineswegs Betreiber der sozialen Revolution, geschweige denn Parteigänger des Bolschewismus. Das alles mußte zu schweren Konflikten führen.

Schon in der bisherigen Revolution hatten Losungen der bürgerlich-demokratischen „Freiheit“ und der sozialrevolutionären „Gleichheit“ polarisierend gewirkt. Das Ereignis, das die gemäßigten Demokraten und die entschieden sozialistischen Klassenkämpfer vollends spaltete, vollzog sich am 5./6. (18./19.) Januar 1918: dem Geburts- und zugleich Sterbedatum der lange angekündigten Konstituierenden Versammlung, die von 46,5 Millionen Bürgern (etwa 60 Prozent der Stimmberechtigten) gewählt worden war. In ihr wollten die Bolschewiken, die kaum ein Viertel der Abgeordnetenplätze besaßen, die soziale Revolution auf die Tagesordnung setzen, indem sie den Text einer „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes“ zur Beratung und Annahme vorschlugen.

Das Dokument war von verfassungspolitischer Bedeutung. [31] Es erstrebte die Gründung des neuen Staates als föderative Sowjetrepublik und den sofortigen Vollzug der sozialistischen Revolution: durch Abschaffung des „Privateigentums an Grund und Boden“, den „Übergang der Fabriken, Werke, Bergwerke, Eisenbahnen und sonstigen Produktions- und Verkehrsmittel in das Eigentum des Arbeiter- und Bauernstaates“, die Verstaatlichung der Banken, die Einführung der „allgemeinen Arbeitspflicht“ und die „Bildung einer sozialistischen Roten Armee der Arbeiter und Bauern“. Mit der Annahme dieser Deklaration sollte die Konstituante ihre Aufgaben als erledigt betrachten und ihre Selbstauflösung beschließen. Weil sich aber die parlamentarische Majorität mit Berufung auf die Landeswahlen und ihre rechtliche Eigenständigkeit verweigerte, brach der Klassenkampf offen hervor. N. I. Bucharin, Hauptredner der Bolschewiken, attakierte alle Absichten zum „Aufbau einer hundsmiserablen bürgerlich-demokratischen Republik“ und erklärte im Namen der Weltrevolution den „Kampf auf Leben und Tod“. [32]

Sogleich reagierte auch die im Hintergrund lauernde Revolutionsregierung. Der Rat der Volkskommissare beschloß die sofortige Auflösung der Konstituante und ließ die Parlamentarier auf die Straße setzen. Seit vielen Wochen hatte Lenin, der stetige Verneiner des Parlamentarismus, seine Genossen auf diesen Coup eingeschworen. Die Kraftprobe war ein untrügliches Zeichen, daß die bürgerlich-demokratische Revolution nunmehr tatsächlich enden und die sozialistische Revolution beginnen sollte.

Der Kommentar Lenins, des Treibers der Geschehnisse, lautete: „[...] Der Krieg und die durch ihn verursachten unerhörten Leiden der erschöpften Völker haben den Boden für das Aufflammen der sozialen Revolution bereitet.“ Er fügte in rigoroser Entschlossenheit hinzu: „Kein Zweifel, im Entwicklungsprozeß der Revolution, der durch die Kraft der Sowjets ausgelöst worden ist, werden alle möglichen Fehler und Mißgriffe vorkommen – aber es ist für niemanden ein Geheimnis, daß jede revolutionäre Bewegung stets unvermeidlich von vorübergehenden Erscheinungen des Chaos, der Zerrüttung und Unordnung begleitet ist. [...] Die Konstituierende Versammlung wird aufgelöst, die revolutionäre Sowjetrepublik aber wird triumphieren, koste es, was es wolle.“ [33] Wir registrieren den Radikalismus, den Willen zum äußersten Risiko. Was aber ebenfalls interessieren sollte, ist die Tatsache, daß Lenins Kommentar allen späteren Geschichtsideologen widerspricht, die auf den Akt bloßer Machteroberung eingeschworen scheinen und glauben, den Sieg der sozialistischen Revolution bereits auf den Oktober 1917 und den Januar 1918 datieren zu können. Lenin selbst sah sich und seine Partei zu dieser Zeit noch immer „im Entwicklungsprozeß der Revolution“.

Folglich sei die Frage gestellt: Wann und womit denn die Russische Revolution, die im Oktober und Januar keinesfalls schon entschieden war, tatsächlich abschloß? Das könnte helfen, der historisierenden Schönfärberei entgegenzuwirken, die den Bürgerkrieg aus der Revolution herausnimmt und allein auf dem Schuldkonto der verschiedensten Widerständler gegen die bolschewistische Staatsmacht verrechnet. Solches geschieht faktisch durch die Behauptung der völligen Interessengleichheit zwischen Bolschewiken und Volksklassen und durch die Legende von der unblutigsten Revolution der Geschichte.

In Wirklichkeit waren die mörderischen Konflikte des Bürgerkrieges, der nicht zuletzt durch den sozialen Interessenwiderspruch von Bolschewiken und Bauern ausbrach, ein immanenter Bestandteil der Revolution. So weist auch der Historiker Medwedew nachdrücklich über die Machtergreifung hinaus: auf den Zusammenprall von Bolschewiken und Bauernmassen – und auf den Schuldanteil des von Lenin geführten neuen Regimes. [34] Die schon genannten russischen Akademiker Wolobujew und Buldakow sehen den Prozeß der Russischen Revolution ebenfalls über den Regierungsantritt der Bolschewiken hinwegwirkend: „Der eigentliche Umbruch im Verlauf der russischen Krise erfolgte nicht im Oktober 1917, sondern vom Oktober 1917 bis Sommer 1918, nachdem die Masse der Bevölkerung den versprochenen Grund und Boden erhalten hatte und nun auf die gefestigte neue Macht traf.“ [35] Die Revolution war auch nach Auflösung der Konstituierenden Versammlung noch nicht entschieden. 

Was den langfristigen Prozeß der Russischen Revolution betrifft, so sei zum Vergleich an die Große Französische Revolution erinnert. Es fällt keinem Historiker ein, ihre Entscheidungen und Resultate auf 1789 zu begrenzen. In widerstreitenden Ansichten werden die Jahre 1791 oder 1794/95 oder 1799 als abschließende Zäsuren der Revolutionsgeschichte genannt: Die Proklamation der konstitutionellen Monarchie, der Bürgerkrieg, die Errichtung der Republik, die revolutionäre Vaterlandsverteidigung, der Sturz der Jakobinerdiktatur, die schließliche Gestaltung des bürgerlichen Staats und der liberalistischen Rechtsordnung bis zum Militärputsch des Napoleon Bonaparte – dies alles wird mehr oder weniger in den unmittelbaren Revolutionsprozeß einbezogen. Eine Antwort auf die Frage nach dem Ende und den Resultaten der Russischen Revolution sollte in ähnlicher Weise gesucht werden – und zwar in den Jahren vom Februarumsturz 1917 bis zum Frühjahr 1921, dem Ende des Bürgerkrieges und dem Beginn der Neuen Ökonomischen Politik. Wo immer die Zäsur gesetzt wird, ergeben sich staats- und gesellschaftspolitische Resultate, die den Begriff der Russischen Revolution rechtfertigen. Sie widerlegen aber die glorifizierenden Behauptungen vom Sieg einer „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“.

Richtig bleibt die positive Feststellung, daß die Sowjetmacht unter Führung der Bolschewiken ihre Existenz in dreijährigem Bürgerkrieg und Verteidigungskrieg gegen die Interventionstruppen von 14 kapitalistischen Staaten behaupten konnte. Damit rückte ein Staat in die Weltgeschichte ein, der weder vom halbfeudalen Zarismus noch von der kapitalistischen Bourgeoisie beherrscht wurde. Die sogenannte Sowjetmacht übersprang das in der bisherigen Staatengeschichte gewohnte, auf Feudalismus und Absolutismus folgende Herrschaftssystem der Bourgeoisie. Obwohl für diese Novation die Bezeichnung „Arbeiter- und Bauernstaat“ schon damals in Gebrauch kam, war aber dieser Titel de facto noch keinesfalls zutreffend, sondern eine Verheißung für die Zukunft.

Als eine schwere Hypothek erwies sich der Irrtum Lenins, der im Oktober 1917 und Januar 1918 mit Berufung auf wissenschaftliche Voraussicht behauptet hatte, daß die sozialistische Revolution in Europa kommen müsse, sich daher alle Hoffnungen auf den endgültigen Sieg des Sozialismus gründen dürften. In den Kriegsverliererstaaten Deutschland und Österreich-Ungarn stürzten die kaiserlichen Regime, scheiterten aber die proletarischen Revolutionen. Bei den bürgerlichen Siegermächten Frankreich, Großbritannien, den USA fand nicht einmal ein revolutionärer Versuch statt. Die Weltrevolution ließ auf sich warten. Rußland blieb isoliert in der Umzingelung von kapitalistischen Staaten. Die unbequemen Warnungen der Bolschewiken Kamenew und Sinowjew, des Menschewiken Plechanow und vieler anderer hatten sich als berechtigt erwiesen.

Was nun den neuartigen Krieg zur Verteidigung des revolutionären Staats betrifft, so schwanken die Urteile zwischen berechtigtem „Heroismus“ und dem von dem Kriegsteilnehmer Isaak Babel hinterlassenen Zeugnis „einer erlebten Hölle und endlosen Totenmesse“ [36] . Daß die bewaffnete Konterrevolution der Gutsbesitzer und überdies der ausländischen Interventionskorps nicht mit Friedenssprüchen zu bannen war, also wiederum Krieg erforderte, war eine Zwangslage, die die Bolschewiken mit den früheren bürgerlichen Revolutionen der Niederländer, der Engländer, der US-Amerikaner und der Franzosen teilten. Jedoch geschahen Verletzungen der human-sozialistischen Befreiungsethik gegenüber der eigenen Bevölkerung überall dort, wo Zwang statt Überzeugung regierte, wo Abneigung durch martialische Niederwerfung, Widerstand durch weit überzogene Gegengewalt gebrochen wurde. Dabei waren die Millionenmassen des bäuerlichen Volkes, auf dessen Rücken sich die konträren Militärgewalten insbesondere austobten, eigentlich gar keine Regimefeinde. Weil aber Armee und Städte, die Zentren der Revolution, im Würgering der verbündeten Widerständler und Interventen zu verhungern drohten, dekretierte die bolschewistische Führung nicht bloß den „Kriegskommunismus“. Ihre Roten Garden zogen in die Dörfer, requirierten Lebensmittel und Vieh, raubten Saatgut, brachen Proteste und Gegenwehr mit Waffengewalt. Indem sie die schwer vermeidliche Praxis der Jakobiner von 1793 wiederholten, erzeugten sie selbst die „Vendée“, in der sich die wirkliche Konterrevolution durch zahlreiche Bauernrevolten potenzierte. Von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, von Bjelorußland bis Osttsibirien wurde gebrandschatzt, gemetzelt, verhungert, an Seuchen krepiert. Die Toten werden auf rund 13 Millionen geschätzt; allein durch die Hungersnot, die 1921 in den Gebieten der Wolga grassierte, starben fünf Millionen Menschen. [37]

Die Schrecken des Bürgerkrieges, seit dem Streit um Lenins „April-Thesen“ immer wieder warnend beschworen, waren also gekommen. Die kapitalistischen Großstaaten, zuerst das Kaiserreich Deutschland, dann die Ententemächte England und Frankreich, zudem Japan und Polen, die alle das Selbstbestimmungsrecht der Russen mißachteten oder auf Seiten der Konterrevolution mißbrauchten, übertrugen die Gewaltlogik des Weltkrieges auf ihre Aggressionen gegen diesen Staat, der eine antikapitalistische Alternative werden wollte. Wenn daher Lenin mit allen seinen selbsternannten „Berufsrevolutionären“, die sich zu Militärs und Staatsfunktionären mauserten, auch nicht primäre Schuld trugen – sie hatten das Risiko gewagt und die Mahnungen dreist in den Wind geschlagen. Einmal im Mahlstrom des Krieges befindlich, den Angriffen der Konterrevolution ausgesetzt, vermochten sie ihre eroberte Macht ohne Zwang und Terror nicht zu verteidigen. Und indem sie von dieser Notlage reichlich Gebrauch machten, wagten sie martialische Willkür, Mord und Totschlag gegen Teile des eigenen Volkes. Unter dem Zwang der Verhältnisse höhlten sie die ursprünglich humanen Ideale des Sozialismus aus.

Man könnte dies vielleicht eine moralisierende Kritik nennen, wenn auf der Waagschale der Revolutionsgeschichte nicht noch andere schwere Gewichte lägen. Sieht man einmal ab von den temporären Erfolgen einiger Guerillakriege der neueren Geschichte, so ist freilich ein großer Krieg ohne Konzentration der militärischen Kommandogewalten und ohne Zentralisation des Staatsapparats nicht zu gewinnen. Was in Lenins Parteikonzept schon früh an Zentralismus, Machtbehauptung und Disziplinierung angelegt war, realisierte sich in den äußerst bedrohlichen Situationen des bolschewistischen Staates. Das ermöglichte den schwer errungenen Sieg, der ohne die duldende und kämpferische Lebenskraft des russischen Volkes nie erreicht worden wäre. Aber ein durchaus negatives Kriegsresultat wucherte im Prozeß der militärischen und staatlichen Zentralisierung – die Unterwerfung selbständiger Regungen des werktätigen Volkes, die hinfort bleibende Vernichtung der demokratischen Errungenschaften der Februarrevolution.

Nicht genug, daß die bürgerlichen Parteien abgeschafft, die staatliche Gewaltenteilung, die Pressefreiheit und jeglicher Parlamentarismus verworfen wurden. In den Verbotspraktiken gegen Volkssozialisten, Internationalisten, linke Sozialrevolutionäre und dem stetigen Argwohn gegen die Menschewiken offenbarte sich die Tendenz zum Ein-Partei-Regime, zur Liquidation aller Organisationsformen demokratischer Eigenständigkeit und Kritik. Den Schlußpunkt setzte die Niederschlagung des Kronstädter Aufstands, der unter der Losung „Sowjets ohne Bolschewiki!“ erfolgte. Der Bürgerkrieg und somit die Revolution endete 1921 mit der politischen Entmündigung der lokalen und regionalen Sowjets, der Arbeiter- und Bauernkomitees, der Gewerkschaften, sogar der Opposition in den eigenen Reihen der bolschewistischen Partei. Der Staatstitel „Sowjet-Republik“ gebrauchte zwar den Namen der Basisdemokratie, die 1917 als „Revolution von unten“, als vielfältiger und organisierter Volkswille gegen Zarismus und bürgerliche Regierung gestritten hatte. Doch die basisdemokratischen Institutionen waren nun von den Bolschewiken selbst zurückgedrängt oder gar zerschlagen worden.

Abschließend sei an die soziale Charakterisierung des Februarumsturzes erinnert, die der Volkssozialist Mjakotin im Frühjahr 1917 gegeben hatte. Was war im ganzen Verlauf der Russischen Revolution aus den damals genannten Klassen und Schichten geworden? Die zaristische Aristokratie und die Gutsbesitzerkaste waren aus Staat und Gesellschaft verschwunden. Die an Zahl geringe Bourgeoisie entkam entweder ins Ausland oder verbarg sich unter Preisgabe ihres Klassencharakters als Angestellte und Spezialisten in den neuen Strukturen. Das von Mjakotin nicht erwähnte Kleinbürgertum der Handwerker, Händler und sonstigen Gewerbetreibenden, die in der bürgerlichen Gesellschaft schon immer zwischen Bourgeoisie und Proletariat, zwischen sozialem Auf- und Abstieg lebte, vegetierte nunmehr in den Abgründen des Schwarzhandels und des Ruins. Allein die Arbeiterklasse, die im Februar zuerst auf die Straße gegangen war, hatte Losung und Verheißung des Sozialismus in sich aufgenommen, hatte im Bürgerkrieg die Stoßtruppen der Roten Armee verkörpert, war aber durch Kämpfe und Hunger stark dezimiert. Die Intelligenz, soweit sie anfangs für die Erneuerung Rußlands begeistert war, fühlte sich seit dem Oktoberumsturz und dem Bürgerkrieg von Skrupeln geplagt, so daß viele, die sich nicht anpassen mochten, ebenfalls in die bürgerlich-demokratischen Länder des Westens emigrierten. Ein Beispiel ist Maxim Gorki, der die Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution nicht erkennen konnte, daher die Machteroberung der Bolschewiken ablehnte. Was sie wagten, sei ein „grausames Experiment am lebenden Körper Rußlands“, wobei vor allem das noch junge Proletariat als Material für den Versuch einer Weltrevolution mißbraucht werde. [38] In der Petrograder Tageszeitung „Nowaja Shisn“ verfocht der Schriftsteller seine „Unzeitgemäßen Gedanken“ einer politischen Alternative: ein Bündnis der Intelligenz mit der organisierten Arbeiterschaft, um die Revolutionswirren zu beenden und sogar einsichtige Industrielle für den Wiederaufbau Rußlands zu gewinnen. Es waren Ideen, die im Jahre 1918 nichts anderes als Ablehnung und das Verbot der Zeitung zur Folge hatten. 

Bleiben noch die vielen Millionen der Landbevölkerung. Die Massenlosung „Der Boden den Bauern!“, von den Bolschewiken selbst aufgegriffen und in Gesetze überführt, hatte die Lokalherrschaften der Gutsbesitzer hinweggefegt, aber nicht bewirkt, daß der Großgrundbesitz in genossenschaftliche Musterwirtschaften verwandelt wurde. Neben den weiteren Bedenklichkeiten in Rosa Luxemburgs berühmter Gefängnisschrift hatte schon dieser Umstand (bei aller Sympathie für die Oktoberrevolutionäre) zur Kritik gereicht. [39] Doch da war auch noch die Differenzierung in grundbesitzende Bauern und Dorfarmut – und ebendiese eskalierte infolge der bolschewistischen Agrarpolitik im Sommer 1918 zum offenen Bürgerkrieg. Die reichen und mittleren Bauern, die bislang in den Dorfsowjets das Sagen hatten, sahen sich dem Angriff von mehr als hunderttausend „Komitees der Dorfarmut“ ausgesetzt, wobei sie 50 von 80 Millionen Hektar Land einbüßten. Diese erste „Entkulakisierung“ führte wiederum nicht zu Kollektivwirtschaften, sondern zu Kleinbauernstellen, zum Rückgang der Produktion und bewaffneten Widerstand der Enteigneten. Gorki kritisierte: Das sei „ein russischer Aufstand ohne Sozialisten im eigentlichen Sinne und ohne sozialistische Geisteshaltung“. [40] Statt strategischer Agrarpolitik praktizierten die Bolschewiken in ihrer Notlage den „Kriegskommunismus“ und den „Roten Terror“ zwecks Sicherung eines nur spärlichen Lebensunterhalts. Es war ein Verfahren, das den Namen der Gesellschaftspolitik schwerlich verdiente und nach dem Sieg über die Interventen unmöglich fortgesetzt werden konnte. Vor dem Hintergrund des ausgebluteten Landes und der noch immer flammenden Bauernaufstände dekretierten die Bolschewiken auf Vorschlag Lenins im Frühjahr 1921 die staatskapitalistische NÖP. Sie wagten jedoch zur selben Zeit noch einmal einen Versuch in Richtung „Weltrevolution“, indem sie mit Hilfe der Kommunistischen Internationale die proletarischen Märzunruhen in Mitteldeutschland anheizten, die aber gänzlich mißlangen und die Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands schwer schädigten. [41]

So bleiben am Schluß der historischen Tragödie zwei polemische Feststellungen. Erstens können die unmittelbaren Revolutionsresultate von 1917 bis 1921 den zweifelhaften Titel der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ keinesfalls rechtfertigen. Das Verhältnis zwischen der ideologischen Begriffsbildung und der weit komplizierteren Realität der Geschichte müßte im Traditionsverständnis heutiger Sozialisten und Kommunisten ernstlich geprüft und präzisiert werden. Zweitens aber sollte die historische Erfahrung unvergessen bleiben, daß ein Weltkrieg kapitalistischer Staaten die Krise Rußlands und damit die Revolution verursachte, daß ebendiese Staaten der antikapitalistischen Sowjetmacht den erbittertsten Widerstand entgegensetzten. Selbst vom Blut der Millionen Kriegstoter und Verwundeter besudelt, isolierten sie den jungen Staat durch diplomatische Invektiven, verteufelten sie ihn durch antikommunistische Hetze, und sie zwangen durch ihre Interventionen auch ihn zum blutigen Aderlaß.

[1]    Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995, S. 78, 93.

[2]    Friedrich Engels an Karl Marx, London, 9. September 1879, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 34, S. 105 (im folgenden: MEW); derselbe an August Bebel, London, 16. Dezember 1879, ebenda, S. 431; Karl Marx an N. F. Danielson, Ramsgate, 12. September 1880, ebenda, S. 464.

[3]    Engels, Einleitung [zu Sigismund Borkheims Broschüre „Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten, 1806-1807“], in: MEW, Bd. 21, S. 350 f.

[4]    Derselbe, Die politische Lage Europas, in: Bd. 21, S. 318; Brief an das Organisationskomitee des internationalen Festes in Paris, London, 13. Februar 1887, ebenda, S. 344; Der Sozialismus in Deutschland, ebenda, Bd. 22, S. 256; Kann Europa abrüsten?, ebenda, S. 371ff.

[5]    Bertha von Suttner, Vortrag vor dem Nobel-Comitee des Storthing zu Christiania, 18. April 1906; abgedr. in: B. Kempf, Bertha von Suttner. Das Lebensbild einer großen Frau, Wien 1964, S. 180 ff.

[6]    Dieselbe, Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte, Dresden/Leipzig 1892, S. 305.

[7]    Dieselbe, Tagebuchnotiz vom 14. Mai 1914; zit nach: Sigrid u. Helmut Bock, Bertha von Suttner. Arbeiten für den Frieden, in: Bertha von Suttner, Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte, Berlin 1990, S. 458.

[8]    V. A. Mjakotin, Die Revolution und die nächsten Aufgaben (russ.), Moskau 1917; zit. nach: Sonja Striegnitz, Im Revolutionsgeschehen 1917. Sozialrevolutionäre - Wiedergeburt und Positionsbestimmung; in: Die Russische Revolution 1917. Wegweiser oder Sackgasse?, hg. v. W. Hedeler, H. Schützler, S. Striegnitz, Berlin 1997, S. 97 (im folgenden: Die Russische Revolution).

[9]    R. A. Medwedew, 80 Jahre Russische Revolution. Sieg und Niederlage der Bolschewiki, ebenda, S. 35 (Hervorhg. - HB).

[10] P. W. Wolobujew/W. P. Buldakow, Oktoberrevolution - neue Forschungszugänge, ebenda, S. 52 (Hervorhg. - HB).

[11] W. I. Lenin, Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution, in: Werke, Bd. 24, Berlin 1959, S. 3 ff.

[12] Beratung von Vertretern der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands über die Vereinigung beider Flügel und über die Stellungnahme zu den April-Thesen W. I. Lenins, „Edinstwo“ v. 4. April 1917; abgedr. in: Die Russische Revolution, S. 233 ff.

[13] L. B. Kamenew über die Position der „Prawda“-Redaktion zu den April-Thesen von W. I. Lenin, „Prawda“ v. 8. April 1917; abgedr. ebenda, S. 237 f. 

[14] G. W. Plechanow, Über Lenins Thesen und warum Fieberphantasien bisweilen interessant sind, „Edinstwo“ Nr. 9-11 v. 9.-12. April 1917; abgedr. ebenda, S. 239 ff. Die Engels-Rezeption auch bei I. G. Zereteli auf der Beratung vom 4. April 1917, ebenda, S. 235.

[15] Ebenda, S. 236.

[16] Erklärung von G. J. Sinowjew und L. B. Kamenew zur Orientierung des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei auf den bewaffneten Aufstand, 11. (24.) Oktober 1917; abgedr. ebenda, S. 369 ff. 

[17] Resolution. Sitzung des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, 25. Oktober (7. November) 1917, in: Lenin, Werke, Bd. 26, Berlin 1961, S. 230.

[18] Lenin, Rede über die Aufgaben der Sowjetmacht. Sitzung des Petrograder Sowjets, ebenda, S. 228.

[19] S. D. Mstislawski über den II. Sowjetkongreß, in: Die Russische Revolution, S. 392 ff.

[20] John Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten, Berlin 1957, S. 180 f.

[21] N. N. Suchanow, 1917. Tagebuch der russischen Revolution, ausgew., übertr. u. hg. v. N. Ehlert. Vorw. v. I. Fetscher, München 1967.

[22] Lenin, Rede über den Frieden, 26. Oktober (8. November) 1917 und Dekret über den Frieden, in: Werke, Bd. 26, S. 239 ff.

[23] Ebenda, S. 243.

[24] Lenin, Schlußwort zur Rede über den Frieden, ebenda, S. 246.

[25] Dekret über den Grund und Boden, ebenda, S. 249.

[26] Bäuerlicher Wählerauftrag zur Bodenfrage, ebenda, S. 249 ff.

[27] Lenin, Rede über die Bodenfrage, 26. Oktober (8. November) 1917, ebenda, S. 252 f.

[28] Beschluß über die Bildung der Arbeiter- und Bauernregierung, ebenda, S. 254 f.

[29] John Reed, Zehn Tage, S. 201.

[30] Offener Brief von G. W. Plechanow an die Petrograder Arbeiter über den Oktoberumsturz, 28. Oktober (10. November) 1917; abgedr. in: Die Russische Revolution, S. 402 ff.

[31] Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes, in: Lenin, Werke, Bd. 26, S. 422 ff.

[32] Stenographische Aufzeichnungen über die Tagung der Konstituierenden Versammlung, 5./6. (18./19.) Januar 1918; abgedr. in: Die Russische Revolution, S. 407 ff.

[33] Lenin, Rede über die Auflösung der Konstituierenden Versammlung in der Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees, 6. (19.) Januar 1918, in: Werke, Bd.26, S. 437 ff.

[34] R. A. Medwedew, 80. Jahre Russische Revolution, in: Die Russische Revolution, S. 42 ff.

[35] P. W. Wolobujew/W. P. Buldakow, Oktoberrevolution – neue Forschungszugänge, ebenda, S. 52.

[36] Isaak Babel, Die Reiterarmee. Mit Dokumenten und Aufsätzen im Anhang, Leipzig 1968.

[37] Wolfgang Ruge, Stalinismus. Eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte, Berlin 1991, insbesondere: Sprungbrett Gewalt, S. 44 ff.

[38] Zit. nach Michael Wegner, Gorki versus Lenin: Kultur und Revolution, in: Die Russische Revolution 1917. Weltereignis – Widerstreit – Wirkungen (Kolloquium des Plenums der Leibniz-Sozietät), Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät), Bd. 19, Jg. 1997, H. 4, S. 168 f.

[39] Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 342 ff.

[40] Siehe Anm. 39.

[41] Paul Levi, Unser Weg. Wider den Putschismus, Berlin 1921; Klaus Kinner, Der deutsche Kommunismus. Selbstverständnis und Realität, Bd. 1: Die Weimarer Republik, Berlin 1999, S. 36 ff.

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