Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 46, Juni 2001, 12. Jhrg
Herbert Schui

Staat, Klasseninteressen und Markt im entwickelten Kapitalismus

1. Kann es ein Klasseninteresse geben?

Aussagen zur politischen Programmatik müssen mit der Bestimmung von Interessen beginnen und damit, welche Mittel und Institutionen bei der Durchsetzung von Interessen genutzt werden oder doch genutzt werden könnten. Es muss damit auch Klarheit über die Ursachen herrschen, die den bedeutenderen gesellschaftlichen Konflikten zu Grunde liegen. Ohne größere Diskussion sollte sich voraussetzen lassen, dass eine sozialistische Partei, so die PDS, eine Arbeiterpartei, eine Partei der Arbeit sein muss. Dies auch dann, wenn „Arbeiterpartei“ eine Reihe von unkontrollierten Assoziationen auslöst. Aber wenn man die Dinge nüchtern angeht, ist doch folgendes festzuhalten: Die große Mehrheit der Bevölkerung lebt vom Verkauf ihrer Arbeitskraft. Damit sind objektiv einheitliche Interessen gegeben. Marx‘ Wertlehre gilt unverändert, was den Gebrauchswert der Arbeit und die Ausbeutung angeht. Die Vertragsform, unter der sich der Verkauf der Arbeitskraft vollzieht, ändert sich sicherlich: Es gibt zunehmend mehr Gewerbetreibende und Freiberufler, die weniger als den vollen Ertrag des Arbeitstages als Verkaufspreis ihrer Arbeit erzielen können. Ebenso nimmt die Zahl der nur zeitweilig und zu geringem Lohn Beschäftigten zu. Das tarifliche Normalarbeitsverhältnis mit gesetzlicher sozialer Absicherung dagegen wird weniger vorherrschend. Nun ist ein solcher Zustand eigentlich nichts Neues: Selbständige Handwerker, die aber faktisch Lohnarbeit verrichteten, haben die Industrialisierung begleitet, desgleichen Kleinbauern – auf der anderen Seite das Tagelöhnerwesen, mit dem heutigen sozial kaum abgesicherten Typ von institutionalisierter Gelegenheitsarbeit, dem prekären Arbeitsverhältnis, durchaus vergleichbar. Ein Unterschied aber bleibt festzuhalten. Es ist die gegensätzliche Bewegungsrichtung. An diese Veränderung ist deswegen zu erinnern, weil dies das Ausmaß der Polarisierung der Gesellschaft anspricht und damit die Übersichtlichkeit.

Im Kommunistischen Manifest stellte sich die Sache noch so dar, dass alles auf eine Proletarisierung der Mittelschichten hinausliefe: „Die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern, alle diese Klassen fallen ins Proletariat hinab (...). So rekrutiert sich das Proletariat aus allen Klassen der Bevölkerung.“ [1] „Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt.“ [2] Diese Proletarisierung, das heißt eindeutige, klar überschaubare Ausbeutungsverhältnisse, machen die Sache objektiv und auch für den einzelnen übersichtlicher. Eine erneute Differenzierung der Verhältnisse kann bewirken, dass diejenigen, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben und unverändert Gegenstand der Ausbeutung sind, nicht zur Artikulation eines gemeinsamen Interesses kommen, nämlich des Interesses daran, ihre Arbeit jederzeit zu einem Preis, der der Produktivität angemessen ist, verkaufen zu können (das Interesse an Vollbeschäftigung), gegen die bedeutenden Risiken wie Krankheit, Erwerbslosigkeit und Armut im Alter abgesichert zu sein, für sich und ihre Kinder Zugang zu staatlichen Gratisleistungen wie Kultur, Bildung, berufliche Ausbildung zu haben, die natürlichen Lebensgrundlagen und den Frieden zu bewahren. Die Befähigung, dieses Interesse wahrzunehmen, wird zur Grundlage der Arbeiterbewegung. Oder genauer: Sie kann dann entstehen, wenn das objektive Interesse bewußt ist. Wenn demnach die Berechtigung besteht, von einem objektiv einheitlichen Interesse des überwiegenden Teiles der Bevölkerung auszugehen, dann ist die Frage gelöst, ob denn überhaupt individuelle Präferenzen sich zu einer gesellschaftlichen Präferenz durch aufgeklärtes Eigeninteresse vereinheitlichen können. [3] Ein in diesem Sinne einheitliches Interesse als Grundlage einer gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion läßt sich als Klasseninteresse der Arbeitenden im vorhin genannten Sinn identifizieren. Der Begriff „Funktion“ sagt hier aus, dass die gesellschaftliche Wohlfahrt von klar bestimmten Faktoren abhängt, so dass mehr Sozialstaat zu mehr gesellschaftlicher Wohlfahrt führt. Allerdings: Auch wenn dieses einheitliche Interesse, dargestellt in einer Wohlfahrtsfunktion, gegeben ist, ist dies von den Betroffenen noch nicht einheitlich artikuliert. Voraussetzung ist die gemeinsame Vorstellung über das Wie der Verwirklichung. Wie etwa läßt sich zu Vollbeschäftigung kommen, durch sinkenden Lohn oder durch mehr Nachfrage, und wie kann die Forderung politisches Gewicht bekommen?

Die Artikulation und Durchsetzung eines gemeinsamen Interesses erfordert eine gemeinsame Theorie, das heißt eine von allen akzeptierte Erklärung der gesellschaftlichen Zustände, und des weiteren Verfahren und Institutionen. Traditionell waren für all dies die Gewerkschaften und die Arbeiterparteien zuständig. Dies im Rahmen ihrer politischen Bildungsarbeit, in den Tarifkonflikten und in der parlamentarischen Auseinandersetzung. Hinzu kommen soziale Bewegungen, die nicht als politische Parteien auftreten, noch, wie etwa die Gewerkschaften, Vertragspartei sind. Vielmehr artikulieren sie ein gesellschaftliches Interesse, das, wenn der Druck stark und erfolgreich war, von den politischen Parteien und Verfassungsorganen verwirklicht wird. Damit ist auch deutlich, dass sie ohne Staat nicht wirksam werden können, denn nur dieser kann die Einhaltung der neuen Regeln oder Normen erzwingen.

2. Anforderungen an eine Staatstheorie

Wenn vom gemeinsamen Interesse der Arbeiterschaft die Rede ist, dann ist der Staat angesprochen. Damit steht der Geltungsbereich der Staatstheorie zur Debatte. Was muss diese zum Zusammenhang von privater Wirtschaft und Staat aussagen, und zwar nicht als zeitlose Wahrheit oder als lexikalische Liste aller vorangegangenen Aussagen, sondern angesichts des Entwicklungsstandes der Ökonomie? Staatsform und wirtschaftlicher Entwicklungsstand sind hierbei nicht getrennt zu denken, und nicht nur bringt das eine das andere in Wechselwirkung hervor, auch die wirtschaftlichen Fragen, die die moderne Demokratie zu lösen hätte, sind gänzlich andere und neue, verglichen etwa mit der Wirtschaftsförderung des Absolutismus oder der Stellung des Staates in der dann folgenden kapitalistischen Industrialisierung. Damit kommt ökonomische Theorie ins Spiel, ohne die eine zutreffende Staatstheorie nicht formuliert werden kann. Denn wenn die Wirtschaftstheorie die Funktionsweise der Wirtschaft richtig erklärt, dann hat sie den Zweck und die Funktion des Staates mit angesprochen.

Um den wesentlichen Punkt zu benennen: Steigende Arbeitsproduktivität führt bei gegebenem Massenkonsum zu einem wachsenden gesellschaftlichen Surplus. Wenn die Industriebourgeoisie als Verwalter dieses Surplus diesen (abzüglich ihrer Konsumtion) in Realkapital verwandelt, geht die Industrialisierung zügig voran und das so forcierte Wachstum der Arbeitsproduktivität kann die Grundlage werden für künftigen Massenwohlstand. Wenn aber die Produktionsverhältnisse sich insoweit nicht ändern, als sie den Massenkonsum weiterhin minimieren, auf der anderen Seite aber die wachsende Arbeitsproduktivität den Überschuss steigert und dieser, als Realkapital verwendet, wiederum die Arbeitsproduktivität anwachsen läßt, die Produktivkräfte sich also weiterentwickeln, dann muss der Punkt erreicht werden, an dem die Kapitalisten unter Rentabilitätsgesichtspunkten keinen rationalen Grund mehr haben, den Überschuss, der bei Vollbeschäftigung entstehen würde, restlos zur Vergrößerung des Realkapitalbestandes zu verwenden. Um dies zu tun, fehlt der Endverbrauch, der Konsum. Die fehlende Endnachfrage kann nicht wettgemacht werden durch diejenige Veranlassung zur Investition, die sich aus Gründen des technischen Fortschritts ergibt. Das System muss, auf sich gestellt, trotz großer Produktivität und potenziellen Reichtums in Armut versinken, soweit es nicht zu mehr Konsumtion kommt. Automatisch im freien Spiel der Marktkräfte regelt sich dies nicht. Die Allokationseffizienz von Wettbewerb und Markt reicht nicht so weit, dass diejenigen Ressourcen, die auf Grund der Produktionsverhältnisse, hier: der Verteilung des Volkseinkommens, für die Produktion von Realkapital bereitgestellt, aber hierfür nicht genutzt werden, der Herstellung von Konsumgütern dienen würden oder für eine Verkürzung der Arbeitszeit bei gegebenem Konsum. Es ist eben nicht so, dass das Rationalprinzip der einzelnen Wirtschaftseinheit: Maximierung des Ertrages bei gegebenem Mitteleinsatz, gesamtwirtschaftliche Verschwendung vermeiden würde. Gerade weil dies so ist, gibt es makroökonomische Theorie, und weil die Parteigänger des alles regelnden Marktes dieses umfassende Marktversagen nicht gelten lassen wollen, weil es den demokratischen Staat auf den Plan rufen könnte, soll es makroökonomische Theorie nicht geben.

Für die Drittwegler besteht die Lösung der Konsumfrage darin, dass die Gesellschaft, vom Staat aktiviert, in ein rastloses Innovations- und Modernisierungsfieber verfällt, das einfach alle Fragen löst. Aber mit individueller Hektik und persönlicher Dynamik lässt sich die makroökonomische Frage der Abstimmung von Konsumieren und Investieren nicht lösen. Räumt man Brimborium und sprachlichen Bombast der Drittwegler beiseite, dann wird rasch klar, wo die Lösung für die Konsumtionsfrage liegen soll: Der aktivierende Sozialstaat schafft die Voraussetzungen für einen wachsenden Sektor personenbezogener Dienstleistungen. Die Arbeitslosen werden erpresst, zu niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen in diesem Bereich zu arbeiten. Dies auch als selbständige Kleinunternehmer, für die Tarifverträge und Arbeitsgesetze ohnehin nicht gelten. In der Tat: ein „gestrafftes und modernisiertes (...) Sozialleistungssystem ist eine wesentliche Komponente der (...) Arbeitsmarktpolitik der Linken“, so Schröder-Blair [4] . Grundlage für diese Straffung ist, daß es keine Rechte ohne Verpflichtungen gibt [5] . Die so erzwungene, wachsende Bereitschaft zu personenbezogenen Dienstleistungen soll zu vermehrten Konsumausgaben der Bezieher hinreichend hoher Einkommen führen, es sinkt die Sparquote, so daß mit etwas Glück die makroökonomische Konsum- und Investitionsfrage gelöst ist. Ist sie es wirklich, sind mehr Dienstboten die bestmögliche Lösung?

Oder benötigen wir einen anders regierten Staat, der mehr daraus macht? Für eine politische Partei ist diese Frage entscheidend. Das eingangs genannte allgemeine Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung als gegeben vorausgesetzt, sollten dann nicht die entwickelten Produktivkräfte, das hohe Niveau der Arbeitsproduktivität anders als zur Ausdehnung des Tagelöhner- und Dienstbotenwesens genutzt werden? Wenn die vorangegangene Akkumulation mehr Spielraum geschaffen hat für eine Ausdehnung der Konsumtion, sollte dies nicht besser staatlicher Konsum sein, also Gratisdienste für alle, die daran Bedarf haben, das heißt: öffentlicher Dienst? Der Schluß, den der Reformismus hieraus gezogen hat, mußte alle orthodoxen Parteigänger des Kapitalismus zutiefst beunruhigen: Denn im Sinne des Reformismus gewinnt nun, gegeben das Ziel allgemeiner Wohlfahrt, der Staat das Recht, die Verteilung des Einkommens zu regeln und die Investitionen zu beeinflussen. Dies durch Gewinnsteuern und durch eine Kombination von staatlicher Investitionsplanung und Zinspolitik. Damit werden die Eigentumsrechte in zweifacher Hinsicht beschränkt: Die Verteilung der Einkommen ist nun nicht mehr ausschließlich eine Sache des Marktes (und des Eigentums an den Produktionsmitteln); überdies wird die Verfügung über das Einkommen, soweit die privaten Investitionen Gegenstand politischer Planung werden, beschränkt, und schließlich wird das Einkommen der Rentiers durch die Zinspolitik festgelegt. Doch damit noch nicht genug: Wenn der Staat das Recht hat, durch Verteilungspolitik die makroökonomischen Aggregate Konsumieren und Investieren aufeinander abzustimmen, also alles auf eine höhere Beteiligung des Staates am Ergebnis der wachsenden Arbeitsproduktivität hinausläuft und auf vermehrte gesellschaftliche Konsumausgaben, dann liegt es nahe, daß der staatliche, und nicht der individuelle Konsum gesteigert wird. Dann verbindet sich die Abstimmung der genannten Aggregate mit dem Wohlfahrtsstaat, indem das Gesundheitswesen, das Bildungssystem, der soziale Wohnungsbau und vieles mehr verbessert werden. Damit werden nicht nur die Eigentumsrechte beschränkt, sondern, dies behaupten die Marktwirtschaftler, auch die Konsumfreiheit all derjenigen, für die der Wohlfahrtsstaat Leistungen erbringt. Sie würden entmündigt; sie müssten das konsumieren, was der Staat ihnen zuteilt. Damit ist ihre Freiheit, so das Argument der neoliberalen Scharfmacher, ähnlich eingeschränkt wie die der Investoren. Vollbeschäftigung und Wohlfahrt also auf Kosten der Freiheit, das heißt der Freiheit in Form des Rechtes am privaten Eigentum und der Souveränität als Konsument! Es ist das Ende des Laissez-faire.

Damit ist die entscheidende Frage formuliert, die eine Staatstheorie über den entwickelten Kapitalismus beantworten muss. Ist es Sache des Staates, den Bürgern zur Wohlfahrt zu verhelfen? Soll er in die Eigentumsrechte eingreifen, wenn dadurch der Output vergrößert werden kann? Oder ist aus Gründen der Freiheit am Eigentum nur so viel allgemeine Wohlfahrt zulässig, wie die Privatwirtschaft bei uneingeschränkten Eigentumsrechten hervorbringt? Der Neoliberalismus hat hierauf eine eindeutige Antwort: Hayek und seine Nachfolger haben den Kampf gegen die Theorie der effektiven Nachfrage mit dem Argument geführt, dass einer wahrhaft offenen und freien Gesellschaft kein Wohlfahrtsziel von der Politik vorgegeben werden dürfe, dass sich kein Staat, und erst recht nicht ein egalitärer, demokratischer Staat in den Wirtschaftsprozess einmischen dürfe. Das wäre, so Hayek, der Weg zum Totalitarismus, zur Vernichtung der Kultur und zur Verhinderung des Fortschritts in der Zukunft. [6] Wer es sich aber nicht zur Aufgabe macht, das uneingeschränkte Eigentumsrecht zu verteidigen, kann die Sache nüchterner angehen. Denn jenseits von neoliberalem Kampfgeschrei ist ja die Frage zu lösen, wie im entwickelten Kapitalismus das Wachstum der Arbeitsproduktivität für zivilisatorischen Fortschritt genutzt werden kann. Und da gibt es nur eine Lösung: Der Staat wird durch Steuern am Ergebnis der wachsenden Arbeitsproduktivität überproportional beteiligt und führt dies dem öffentlichen Konsum zu. Wie auch immer wir uns diesen Konsum im einzelnen organisiert vorstellen (mit welchen Entscheidungseinheiten und mit wessen Mitspracherechten), nur der Staat kann die Ressourcenallokation in der erforderlichen Weise regeln. Nur er kann, weil nur er die Macht hierzu hat, aus potenziellem tatsächlichen Reichtum machen. Damit ist die wirtschaftliche Seite der Sache angesprochen, über die wechselseitigen Wirkungen zwischen der großen Mehrheit der Bevölkerung und dem Staat, über Willensbildung und Legitimation ist damit noch nichts gesagt.

3. Staatstrauma und Zivilgesellschaft

Wenn am Staat kein Weg vorbeiführt, ist es wichtig, sich mit dem ungeordneten Knäuel interessengebundener und irrationaler Staatsaversion auseinanderzusetzen. Genannt wurde schon die Sorge des Neoliberalismus, die von Tocqueville so formuliert worden ist: Die egalitäre Demokratie ermöglicht es den wirtschaftlich Unfähigen, sich das anzueignen, was ihnen auf Grund ihrer Leistungen nicht zusteht. Vorherrschend gemacht werden kann allerdings die Aversion gegen den demokratischen Staat in dieser Weise nicht. Das Misstrauen ihm gegenüber wird vielmehr aktiviert mit Hilfe des Misstrauens gegenüber der Macht, und zwar nicht gegenüber der Macht der Großwirtschaft, sondern des Staates. Es ist geradezu so, als ob die Geschichte keinen Schritt vorangekommen wäre und die Frage immer noch darin bestünde, wie denn der Bourgeois den absolutistischen Staat bändigen könne. Aber das ist nicht die Gegenwartsfrage. Diese ist vielmehr, wie die große Mehrheit der Bevölkerung den Staat zu ihrem Staat machen kann. Welche Konturen die Lösung dieser Frage im einzelnen auch annehmen mag, eines ist sicher: Die Gesellschaft wird sich zu einer umfassend politischen entwickeln müssen. [7]

Dies setzt die Überwindung eines Staatstraumas voraus. Dieses Trauma äußert sich darin, dass aus der Idee des Staates ein quasi religiöser Kult gemacht wird – hierfür stehen nicht nur die reaktionäre Rechte, sondern auch Sozialdemokraten einer Lassallschen Tradition –, oder die, dazu in scheinbarem Gegensatz stehende Auffassung, der Staat sei von vornherein des Teufels und nur auf Unterdrückung aus, auf despotische Herrschaft. Fiktiv ist dieser Gegensatz, weil die Wurzel für beide Lesarten dieselbe ist. Dass es an Nüchternheit beim Umgang mit der Idee vom Staat fehlt, hat seine historischen Gründe. Alexander Mitscherlich schreibt kurz nach dem Krieg: „Er sollte die Form unseres besten öffentlichen Zusammenlebens sein. Wir können uns nicht mehr daran erinnern, seit wann in unserer Geschichte er dies nicht ist. Wir haben den Kontakt mit ihm verloren, denn er hat uns nicht vertreten noch gefördert – weder untereinander noch nach außen. Aber er hat uns vergewaltigt, misshandelt; wie in einer ungeheuren Reise sind wir in ihm gefangen, er hat Ungezählte der Unsrigen getötet und erniedrigt, beraubt, verdummt. Er hat aus uns eine verrohte und vergrämte Masse gemacht, in der jeder dem Anderen misstraut. (...) Und nun erhebt sich (...) die große Frage, auf welchem Weg wir wieder zu einem lebendigen Staat gelangen können, der unser Geschöpf ist und dem wir den Anteil an uns zu geben bereit sind, der ihm gebührt, und der seinerseits uns die Freiheit sichert, die wir zu einem lebenswerten Leben brauchen.“ [8] Nun wäre Mitscherlichs Wendung, „wieder zu einem lebendigen Staat gelangen“, eingehender zu erörtern. Hatten wir jemals den Staat, der „unser Geschöpf“ war? Aber halten wir das der unmittelbaren Nachkriegszeit zugute, in der dieser Beitrag geschrieben wurde!

Wichtig ist festzuhalten, dass es ohne den Staat als unserem Geschöpf nicht möglich ist, das hohe Niveau der Arbeitsproduktivität für uns zu nutzen, und dass nur dies die Lebensumstände verbessern und uns die Freiheit sichern kann: Dies ist wichtig, denn die Arbeitenden brauchen den Staat, um das Beste aus ihrer Arbeit zu machen, sie brauchen ihren Staat, und sie brauchen ihn um so mehr, je entwickelter und komplexer der ökonomische Prozess ist. Ist der Staat „unser Geschöpf“, dann hat die neurotische Angst vor ihm ein Ende, er ist vernünftig erfasst, er muss nicht kollektiv verdrängt werden durch Beschwörung, Kultus oder Hass. Die Gesellschaft hat sich von Zwangsvorstellungen befreit, indem sie die Gründe aufgedeckt und bewusst gemacht hat, die das Traumatische am historischen Staat ausmachen.

4. Sozialistische Zivilgesellschaft?

Der häufige und unterschiedliche Gebrauch des Begriffs „Zivilgesellschaft“ ist Anlass zu Fragen: Folgt man Gramsci, dann ist die Zivilgesellschaft dasjenige Element des Überbaus, das nicht, wie der Staat mit Politik (so Sicherheits- und Innenpolitik) die bürgerliche Herrschaft absichert, sondern die Sphäre, in der sich dies im spontanen Konsens vollzieht. Spontaneität bedeutet hier aber auch, daß die Herrschaft nicht überlegt akzeptiert wird. Es ist vielmehr Internalisierung von Herrschaft, oft auch Identifikation mit der Macht. Und wenn wir uns vergegenwärtigen, wieviel Aggression gegen die große Mehrheit der Bevölkerung bei vielen Formen bürgerlicher Herrschaft im Spiel ist, und das nicht nur bei autoritären Regimes, sondern im Alltag unserer heutigen Demokratien, dann spannt sich der Bogen von der Internalisierung von Herrschaft bis zur Identifikation mit dem Aggressor: Zivilgesellschaft hat dann nicht wenig mit einem Onkel-Toms-Hütte-Syndrom zu tun. (Kann das die Zivilgesellschaft sein, von der wir gerne noch mehr hätten?) Wenn der Kapitalismus aber im wesentlichen nicht mit den Organen der inneren Sicherheit gewährleistet werden muß, sondern wenn sich die Übereinstimmung mit ihm „spontan“ ergibt, dann scheint die Zivilgesellschaft eine gute Vorlage für einen Sozialismus zu sein, der ohne die Diktatur des Proletariats und ihre Sicherheitsorgane auskäme. Das wäre dann der Stein der Weisen gewesen. Oder etwa doch nicht?

Eine sozialistische Zivilgesellschaft muss sich deutlich von einer kapitalistischen unterscheiden, denn sie darf nicht auf Spontaneität, auf unreflektierter Internalisierung von Herrschaft beruhen, auch wenn dies eine bessere Herrschaft wäre. Denn selbst wenn die Führung weitgehend ohne unmittelbare politische Disziplinierung auskommt, der Staat bleibt von den Bürgern getrennt, er ist damit noch nicht „unser Staat“ als „die beste Form unseres öffentlichen Zusammenlebens.“ [9] „Es muss nach einer Staatsform gesucht werden, die dem Leben der Menschen in der Gesellschaft wie als einzelnem gleichermaßen dient und die menschlichen Freiheiten zur Entfaltung kommen läßt.“ [10] Dies aber lässt sich nur erreichen durch ein System intensiver Wechselbeziehungen zwischen der staatlichen und der nichtstaatlichen Sphäre: Beide dürfen voneinander nicht getrennt sein; was sie miteinander verbindet, ist das Politische. Im Prozess einer Herausbildung dieser Staatsform aber kann es um Zivilgesellschaft nur in dem Sinne gehen, dass ihre subtilen Mechanismen der Herrschaftssicherung nicht mehr restlos greifen. Damit würde die Zivilgesellschaft Raum geben für politische Bewegungen, die damit beginnen, der Vorherrschaft der kapitalistischen Ideologie etwas entgegenzusetzen. „In einer Situation, sei sie nun revolutionär oder nicht, die durch die Vorherrschaft der Arbeiterklasse gekennzeichnet ist, ihrer Parteien und Bewegungen, kann man eine lange Periode erwarten, die von Ebbe und Flut gekennzeichnet ist, ebenso, wie dies bei der Entwicklung zum Kapitalismus der Fall war. Die große Frage ist zu wissen, ob diese Bewegungen selbst vorher die Vorherrschaftsposition haben können. Kann die Arbeiterklasse sie ausüben und so mit ihren Alliierten die historische Initiative ergreifen? Dies ist die Hauptfrage.“ [11]

Die Frage ist demnach nicht, eine neue Zivilgesellschaft auszurufen, und erst recht nicht, die bürgerliche zu vergrößern, soweit ihr Zweck Herrschaftssicherung ist, sondern zur Vorherrschaft im öffentlichen Leben zu kommen. Das ist die schwierige Aufgabe einer fortschrittlichen Partei. Wenn diese Vorherrschaft endgültig konsolidiert ist, dann ist der Zustand erreicht, in dem die große Mehrheit der Bevölkerung, die diese Verhältnisse herbeigeführt hat, diesen nicht unreflektiert, nach Konditionierung und Internalisierung von Zwang zustimmt, sondern stets bewusst, aus wirklich freien Stücken und mit der Gewissheit, als Individuen, Kollektive, Initiativen mit Aussicht auf Erfolg intervenieren zu können. Darin gerade bestünde der Fortschritt, die Überwindung der Entfremdung, des Staatstraumas.

5. Was eigentlich steuert die Wirtschaft?

Mit weniger Staat ist nicht zu mehr individueller Freiheit zu kommen, und dies erst recht nicht, wenn der frei werdende Raum durch die Privatwirtschaft, beispielsweise durch die private-public-partnership in Beschlag genommen wird. Denn was ist die Privatwirtschaft bei Licht besehen? Sie wird mehr denn je beherrscht von international handelnden Großunternehmen, die mit den bedeutenderen Nationen in Partnerschaft treten und die weniger bedeutenden marginalisieren. (Die handelnden Subjekte sind die Monopole; nicht aber ist „die Globalisierung“ der springenden Punkt). Diese Zivilgesellschaft kann nicht das sein, was uns begeistern könnte, und was diese Vorherrschaft an Freiheit vorsieht, ist es nicht die, die wir meinen.

Folglich kommt es darauf an, den Einfluss der tonangebenden Geschäftswelt, der Monopole auf alle Facetten der Gesellschaft und auf den Staat einzuschränken und schließlich zu überwinden. Sicherlich hat die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, oft vorgetragen in einer äußerst standardisierten, hölzernen Sprache, unnötige Aversionen ausgelöst. Aber dennoch: Die Aktivitäten von Greenpeace gegen Shell, von Attac gegen das internationale Finanzkapital, der Atomkraftgegner gegen die Atomindustrie, dieser und anderer Bewegungen, die in Seattle, Nizza oder an anderen Orten von sich reden gemacht haben, richten sich gegen die Großwirtschaft und dagegen, dass diese die Macht im Staat usurpiert. Bei all diesen würde die folgende Passage, in ihren jeweiligen Stil und Jargon übertragen, nicht auf Ablehnung stoßen: „Der staatsmonopolistische Kapitalismus verleiht den Monopolen noch größere Macht über das Leben der Nation und legt die Macht der Monopole und die des Staates zu einem einheitlichen Apparat zusammen, der die kapitalistische Ordnung retten und der imperialistischen Bourgeoisie die maximale Steigerung ihrer Profite durch Ausbeutung der Arbeiterklasse und Ausplünderung der breiten Bevölkerungsschichten sichern soll.“ [12] Dieser einheitliche Apparat zeichnet sich aus durch „Bindung, Durchdringung, Verknüpfung und nicht (durch) Verschmelzung. Im Gegenteil, es kommt zu ständigen Reibungen, Widersprüchen und Konflikten innerhalb dieses einheitlichen Organismus.“ [13]

Ein wesentlicher Ort dieser Auseinandersetzungen und damit auch ein Ort von Interventionen ist sicherlich das, was traditionell staatsmonopolistische Komplexe [14] genannt wurde. Diese sind, und nicht der Markt und der Wettbewerb, die vorherrschende Organisationsform besonders des entwickelten Kapitalismus. Bei diesen Komplexen handelt es sich um Gebrauchswertbereiche, um stofflich, materiell strukturierte Sektoren. [15] Um einige wesentliche Beispiele zu nennen: Energieproduktion, Verkehrswesen, Luft- und Raumfahrt, Rüstung, Nahrungsmittelproduktion einschließlich Weiterverarbeitung und Verteilung, Gesundheitswesen, Wohnungswirtschaft, Kommunikationswesen. Der Zweck dieser Bereiche ist die zuverlässige Deckung eines gesellschaftlichen Bedarfs bei gleichzeitiger Absicherung einer hohen Rentabilität für die bedeutenderen Kapitale. Hierbei bedingt das eine das andere: Die Bereitstellung von Gebrauchswerten ist die Voraussetzung für die Verwertung von Kapital. Die Verteilung des Überschusses auf die einzelnen Kapitale innerhalb eines Komplexes wird hierbei oft sehr detailliert geregelt. Überdies wird festgelegt, welches Einkommen aus anderen Komplexen oder von bestimmten gesellschaftlichen Klassen und Schichten abgezogen wird, um an anderer Stelle die Kapitalverwertung zu verbessern.

Staatliche Unternehmen können an den Komplexen beteiligt sein, aber dies ist keineswegs konstitutiv, wenngleich diese historisch oft eine bedeutende Rolle gespielt haben, so Eisenbahnen und Post. In jedem Fall aber wird die Veranlassung zur Produktion, zur Innovation und zur stofflichen Kontrolle der erbrachten Leistung nicht einfach der Nachfrage und dem Wettbewerb überlassen. Auch wenn durch Privatisierung die Bedeutung der öffentlichen Unternehmen sinkt, so ist der Gebrauchswertbereich doch gekennzeichnet durch eingehende staatliche Normierung, durch Gebote und Verbote, durch Verträge, die die Merkmale eines Kaufvertrages bei weitem übertreffen, insgesamt also durch eine Struktur, die sich keineswegs mit Kategorien des Marktes und Wettbewerbs erfassen läßt. Aber nicht nur der Staat und die Privatwirtschaft sind in Kooperations- und Steuerungsaufgaben einbezogen: Bedeutend sind ebenfalls soziale Bewegungen, die Gewerkschaften, die öffentliche Meinung. Die Energieproduktion oder das Transportwesen beispielsweise kommen nicht umhin, den Forderungen der Umweltbewegung wenigstens Beachtung zukommen zu lassen. Die Nahrungsmittelproduktion, Verarbeitung und Qualitätskontrolle kann illustrieren, was an Kooperations- und Steuerungsaufgaben zu bewältigen ist, damit der Kapitalismus in all seinen produktionstechnischen und gesellschaftlichen Facetten funktionsfähig bleibt. Die Bereinigung der BSE-Frage, die Verhinderung schädlicher Verfahren bei der Tiermast allgemein legen nahe, nicht nur das Schlachtfleisch zu überprüfen. Die politische Diskussion geht vielmehr dahin, die Produktionsverfahren selbst zu verändern. In denselben Zusammenhang gehört auch die Auseinandersetzung mit genetisch veränderten Lebens- und Futtermitteln. Dies zeigt zweierlei: Markt und Wettbewerb als alleiniger Ort und Verfahren der Ressourcenallokation sind eine Chimäre der Lehrbücher [16] ; die Bürger sind keineswegs nur Marktteilnehmer mit individuellen Präferenzen am Markt, vielmehr artikulieren sie gesellschaftliche Präferenzen außerhalb des Marktes, was nicht ohne Wirkung bleibt.

6. Welches Gesicht muss ein demokratischer Staat haben?

Die Organisation des entwickelten Kapitalismus in Komplexen macht deutlich, wie sehr die moderne Wirtschaft vergesellschaftet, also nicht einfach „Privatwirtschaft“ ist. Folglich ist es strenggenommen nicht zulässig, von einem öffentlichen und einem privaten Sektor zu reden, beides geht vielmehr ineinander über, ohne allerdings eine Einheit zu bilden. Privatisierung und Deregulierung ändern hieran im Grundsatz nichts. Dass wir es im Rahmen der Komplexe mittlerweile mit veränderten Eigentumsverhältnissen und anderen Regeln (das Schlagwort Re-Regulierung verdeutlicht den materiellen Gehalt der Deregulierung) zu tun haben, hängt mit dem technischen Fortschritt und veränderten Einstellungen zusammen, so wie sie sich in den Vorstellungen der politischen Parteien und in den Parlamentsmehrheiten manifestieren. Einige Stichworte müssen hier genügen: Dass die Post ihr traditionelles Fernmeldemonopol verloren hat, wäre ohne Fortschritt in der Kommunikationstechnologie kaum möglich gewesen; dass sie privatisiert wird und zusätzliche Anbieter ins Geschäft kommen, ist eine politische Entscheidung, wenngleich auch hier hervorzuheben ist, dass eine Aufsichtsbehörde den Bereich weiterhin überwacht. Vieles an Privatisierung hat auch mit der Abkehr von keynesianischer Politik zu tun. Denn Nationalisierung diente (neben anderem) der Investitionsplanung und -verstetigung, wodurch die Investitionsentscheidung eine politische Angelegenheit wurde. Ein solches Herangehen wurde auch durch die Verteilungspolitik begünstigt, die ja die Profitrate zu senken tendierte und in einem privatwirtschaftlichen Rahmen gegebenenfalls zu unzureichenden Investitionsausgaben geführt hätte. Die Abkehr von keynesianischen Steuerungsvorstellungen hat diese Gründe für Nationalisierungen beseitigt. Aber nicht nur in dieser Weise macht sich das Ende der keynesianischen Politik bemerkbar: Weniger Sozialstaat bedeutet auch eine andere Produktion und Distribution von Gebrauchswerten, was zur Neuregelung in vielen Komplexen, so im Gesundheitswesen, führen muss.

Man sieht also, dass trotz der Wende in der Politik die Komplexe mit ihrer typischen Organisationsform weiter bestehen und damit auch die Struktur für politische Einflussnahme, die nicht nur den Weg über die Verfassungsorgane nimmt. Es existiert demnach ein strukturierter Zusammenhang von Staat, Gesellschaft und Privatwirtschaft, auf den sich eine sozialistische Partei einlassen muss, den sie zur Verwirklichung ihrer Ziele nutzen und verändern kann. Damit ist grundsätzlich, und nicht nur für den Bereich der Wirtschaft, angesprochen, wie sich denn mehr Demokratie manifestieren und welche Rolle der Staat darin haben soll.

Die französische Linke hat hierzu in den 70er Jahren recht klare Vorstellungen entwickelt. Einige zusammenfassende Zitate aus „Les Communistes et l’Etat“ [17] können dies verdeutlichen: Im Zentrum der Auseinandersetzung muss das Ziel stehen, den alles beherrschenden, alleinigen Mechanismus zwischen Staat und Monopolen zu durchbrechen, [18] den „einheitlichen Apparat“ zu verändern, indem in ihm die große Mehrheit der Bevölkerung ihr Interesse erfolgreich geltend macht. Damit stützt sich die neue Kraft auf eine überaus breite Mehrheit. [19] Und da die Komplexe mit ihren Großunternehmen wichtige Elemente im Wirtschaftsleben sind, muss die Auseinandersetzung besonders innerhalb der großen Unternehmen geführt werden. Es ist klar, dass dies vorrangig Sache der Belegschaftsvertretungen, der Gewerkschaften und der Vertrauensleutekörper ist. Damit wird nicht auf den Staat gesetzt, der die Dinge regeln soll. Wichtig ist vielmehr die Initiative der Betroffenen an Ort und Stelle, die nicht nur Lohn- und Arbeitsbedingungen zum Gegenstand hat. Vieles mehr kann hier angepackt werden. (Die vor Jahren von Belegschaften ausgearbeiteten Vorschläge zur Rüstungskonversion sind ein Beispiel dafür, welche Ziele sich diese Initiativen vornehmen können.) Aber diese Initiativen konstituieren sich nicht nur in den Betrieben. Andere Fragen, die etwa die sozialen Dienste betreffen, die öffentlichen Versorgungsbetriebe, die Schulen, Universitäten, die kulturellen Einrichtungen wie kommunale Kinos und Theater, sind von diesen oder anderen Kollektiven und Initiativen aufzugreifen. Dann haben wir es nicht mit einem aktivierenden Staat, sondern mit einer aktivierenden Bevölkerung zu tun. Die Rolle des Staates besteht dann darin, nicht sich an die Stelle der Initiative der Bevölkerung zu setzen, der Kollektive, die ebenso aus der Arbeiterschaft, der intellektuellen wie der manuellen, hervorgehen kann wie aus anderen gesellschaftlichen Milieus, sondern für diese Initiativen die Mittel zu arrangieren und zu gestalten. Diese Grundsätze sind gegen den Etatismus gerichtet. Der Gehalt der staatlichen Aktionen zielt folglich darauf ab, die Ausarbeitung, die nähere Bestimmung und die Bedingungen der Verwirklichung der gemeinsamen, allgemeinen Interessen zu begünstigen. Dieser Entwurf verbindet auf der Grundlage gemeinsamer Ziele Verantwortlichkeit, Eigenständigkeit und Zusammenarbeit derer, die an diesem Prozess teilnehmen. Er impliziert die soziale Organisation eines neuen Typs. Er schließt den Anspruch aus, durch die Intervention des Staates der Bevölkerung gegen ihren Willen oder ohne sie zu ihrem Glück zu verhelfen. Was der Staat der Bevölkerung zur Verfügung stellen muss, das ist die Unterstützung, die es ihr erlaubt, die Widersprüche bedeutender, unverändert bestehender Interessen zu beherrschen, das ist das Mittel, ihr demokratisches Leben zu gestalten und vermehrt ihrer eigenen Kraft bewusst zu werden. In einem Wort, der Staat muss das Instrument sein des demokratischen Lebens der Bevölkerung. [20] Bei der Entwicklung des Sozialismus bedeutet dies, dass der Staat darauf abzielt, sein Merkmal als Mittel der Klassenbeherrschung zu verlieren, um eine überlegene Form mit dem Zweck zu werden, das gesamte soziale Leben gemeinsam zu meistern. Damit verfügt die große Mehrheit in einem doppelten Sinn: Sie verfügt über den Staat und sie hat alles, was möglich ist, zur Verfügung. Der Staat seinerseits stellt bereit, organisiert. [21] Er leistet damit das, was die einzelnen, die jeweiligen Kollektive nicht leisten können.

Damit wäre eine Epoche beendet, in der vom Ende des Absolutismus an das „Bürgertum, die klassischen Kapitalisten, gleichsam von innen her, (...) um die Vorherrschaft in einem ‚wirtschaftsförmig’ verstandenen Staat“ mit großem Erfolg gekämpft haben. Und die Lösung der Frage bestünde dann nicht darin, dass „die arbeitende Klasse (versuchte), die Bedrohung ihrer Existenz durch eine monopolisierte Produktion mit einer staatlichen Kontrolle der Monopole, d.h. mit einer ‚staatsförmigen’ Wirtschaft zu überwinden.“ [22]

[1]    K. Marx, F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Marx, Engels, Ausgewählte Werke, Berlin 1989, S. 424.

[2]    Ebenda, S. 425.

[3]    K. Arrow, der die Neoliberalen mit vielen Stichworten für die Ablehnung einer partizipativen Massendemokratie versorgt hat, ist äußerst skeptisch, was die Formierung eines kollektiven, aufgeklärten Eigeninteresses angeht. Für ihn ist dies außerhalb einer Diktatur, d.h., unter Beachtung individueller Freiheiten, so gut wie unmöglich. Deswegen muss von individuellen Präferenzen ausgegangen werden, die durch paarweisen Tausch am Markt zur Deckung kommen. K. Arrow, Social Choice and Individual Values, 2. Auflage, New York, London, Sydney 1963, S. 88.

[4]    Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair, London 8. 6. 1999.

[5]    A. Giddens, Der Dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt 1999, S. 81.

[6]    F. von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, München 1991, S. 254.

[7]    Damit wird die Idee einer einfachen und klaren Demarkation von Gesellschaft und Staat, so wie sie Carl Schmitt und Walter Eucken vorschwebte, hinfällig. Sie ist ohnehin nicht Kennzeichen des Kapitalismus, und sie ist es erst recht nicht für einen reformierten Kapitalismus, in dem bereits einige Elemente seiner Überwindung enthalten sind. Besonders zu Eucken sind einige Bemerkungen fällig, denn nicht selten wird dessen ‚soziale Marktwirtschaft‘ als ein Entwurf diskutiert, in dem der Staat - reduziert auf seine Kernfunktion als Wächter über die vollständige Konkurrenz und damit umgeben von einer atomistischen Menge kleiner Unternehmen, denen die Fähigkeit fehlt, die Macht des Staates zu usurpieren - einer Zivilgesellschaft breiten Raum gibt und damit auch allen erdenklichen Freiheiten. Die Linke täte gut daran, nicht in diesen alten Mottenkisten mit ihrer bräsig-aufgeschwemmten Sprache herumzustochern, um etwas Nettes für einen Neuanfang zu finden. Sie muss, das ist eine Bedingung, ohne die nichts geht, ein nüchternes und positives Verhältnis zum Staat finden, zu einem Staat, der in intensiver Wechselwirkung mit der zivilen Sphäre steht, der auch – weiterentwickelt - nicht einfach Interventionsstaat ist, sondern in dem die Citoyens ebenso intervenieren.

[8]    A. Mitscherlich, Entwicklungsgrundlagen eines freien Sozialismus, in: Freiheit – eine Utopie? Ausgewählte Schriften, 1946 bis 1974, o. O. (1975), S. 10. Erstveröffentlichung in: A. Mitscherlich und A. Weber, Freier Sozialismus, Heidelberg 1946.

[9]    A. Mitscherlich, a.a.O., S. 10.

[10] Ebenda, S. 13.

[11] E. Hobsbawm, L’eurocommunisme et la longue transition capitaliste, Interview mit F. Nussi und G. Vacca, in: Recherches Internationales à la Lumière du Marxisme, L’Eurocommunisme, 17. Jg., No. 88-89, 3/1976-4/1976, S. 149; Übersetzung aus dem Französischen vom Verfasser.

[12] Erklärung der Beratung von Vertretern der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau, November 1960, Berlin 1960, S. 12.

[13] P. Boccara, Studien über den staatsmonopolistischen Kapitalismus, seine Krise und seine Überwindung, Frankfurt 1976, S. 24.

[14] Vgl. hierzu auch: H. Schui, Staatsmonopolistische Komplexe als Gebrauchswertbereiche und die Trennung von Staat und Wirtschaft, in: R. Hickel, K.P.Kisker, H. Mattfeld, A. Troost, Politik des Kapitals – heute, Hamburg 2000, S. 50ff.

[15] U. Dolata, A. Gottschalk, J. Huffschmid, Staatsmonopolistische Komplexe als neue Organisationsform des Kapitals im staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: IMSF (Hrsg.), Staatsmonopolistische Komplexe in der Bundesrepublik, Köln 1986, S. 173.

[16] Die neue Institutionenökonomik versucht, diesen Sachverhalt zu erfassen. „Wo der Markt einen optimalen Zustand nicht erreicht, wird die Gesellschaft diese Kluft zumindest in einem gewissen Maß erkennen und nicht-marktliche gesellschaftliche Institutionen werden entstehen, die diese Kluft zu überbrücken suchen.“ K. Arrow, Political and Economic Evaluations, Social Effects and Externalities, in: M.D. Intriligator (Hrsg.), Frontiers of Quantitative Economics, Amsterdam 1971, S. 137. Auch wenn damit Beachtung findet, dass der Markt allein die Wirtschaft nicht ausmacht, entscheidend ist, ob sich diese Institutionen naturwüchsig herausbilden oder ob sie das Ergebnis planender, kollektiver Vernunft sind, wie sie und mit welchem Interesse sie durchgesetzt wurden.

[17] J. Fabre, F. Hincker, L. Sève, Les Communistes et l’Etat, Paris 1977.

[18] Ebenda, S. 154.

[19] Ebenda, S. 155.

[20] Ebenda, S. 162.

[21] Ebenda, S. 167.

[22] A. Mitscherlich, a.a.O., S. 20.

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