Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 45, März 2001, 12. Jhrg

Editorial

Die Realitäten des globalisierten und entfesselten Kapitalismus erfordern, die Ansatzpunkte und Perspektiven sozialer und menschlicher Emanzipation neu zu bestimmen. Die Beiträge im Themenschwerpunkt dieses Hefts beleuchten diesen Zusammenhang aus unterschiedlichen Perspektiven. Hansgeorg Conert fragt nach den möglichen Formen und Chancen eines emanzipativen gesellschaftlich-politischen Handelns. Ansatzpunkte sieht er z.B. in realen Widersprüchen wie der wachsenden Ungleichheit der Verteilung von Wohlstand und Zukunftschancen im Weltmaßstab, der Tendenz zur totalen Funktionalisierung des Menschen oder in der Verwandlung des Menschen in eine "Ware nach Maß". In Anknüpfung an das bekannte Diktum "Sozialismus oder Barbarei" vertritt Conert die provokante These, diese Alternative sei zunächst zu Gunsten der Barbarei entschieden. Dies müsse aber Proteste und Widersprüche hervorbringen. Auch Werner Seppmann sieht in den realen Verhältnissen den Konflikt zwischen Sozialismus und Barbarei angelegt. An die Diskussion über Kapitalismus und Moderne anschließend (vgl. zuletzt: Z 44, Dezember 2000), insistiert er darauf, die oft zitierten "Modernequalitäten" der heutigen kapitalistischen Gesellschaft sauber von der Tatsache ihrer systematischen Verformung zu trennen und fragt, welche "Evolutionspotenziale" auf dieser Basis auszumachen und durchzusetzen sind. Seppmann unterstreicht, dass nicht nur die Produktionsverhältnisse der Transformation bedürfen, sondern auch die von diesen geprägten Formen der Technik und Naturaneignung, der Lebensgestaltung und der psychische Reaktionen. Es bedarf mithin einer Kulturrevolution, die die qualitativ neuartige Beteiligung der Menschen an ihrer eigenen Unterdrückung thematisiert.

Indem er die Tendenzen der Globalisierung mit Hilfe des theoretischen Instrumentariums der Imperialismustheorie kritisch untersucht und dabei die weitere Bedeutung des Nationalstaats als Bezugsebene emanzipatorischen Handelns hervorhebt, analysiert der italienische Marxist Stefano Azzarà die aktuellen Tendenzen der De-Emanzipation, denen die "subalternen Klassen" ausgesetzt sind. Die angestrebte Zerschlagung des Wohlfahrtsstaats wertet er als den schwerwiegendsten Versuch diese "De-Emanzipation". Hier liegt aus seiner Sicht deswegen auch ein entscheidendes Kampffeld emanzipatorischen Handelns.

Für einen Ausbau eines demokratischen und sozialen Europas von unten spricht sich Andreas Wehr aus. Aufgabe gerade der Linken müsste angesichts eines Demokratiedefizits der EU u.a. die Verteidigung der kommunalen, regionalen und nationalen Entscheidungsgremien bzw. der demokratischen Rechte auf diesen Ebenen sein. Denn die EU-Politik sei darauf gerichtet, Märkte zu liberalisieren und Staatsaktivitäten zurückzudrängen und damit die demokratischen Strukturen in den Mitgliedsländern auszuhöhlen. Für Karl Unger ist "Globalisierung" ein neues Wort für das alte Phänomen des Imperialismus. Am Beispiel des Kosovo-Krieges, den er als modernen Kolonialkrieg mit dem Ziel der Öffnung Jugoslawiens für den Weltmarkt wertet, erläutert er, dass die linken Intellektuellen, die diesen Krieg mit Hinweis auf das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" unterstützen, einer irreführenden Ethnisierung der sozialen Frage aufgesessen seien.

An den Themenschwerpunkt des Hefts anschließend, zeigt Horst Bethge, dass die Bildungspolitik der "neuen Mitte" nach dem Scheitern neoliberaler Konzepte im wesentlichen alte Zielsetzungen mit neuen Mitteln verfolgt: die Funktionalisierung der Bildungspolitik für die Kapitalverwertung und die Verwertung des Bildungssektors durch das Kapital. Lothar Peter erläutert, dass mit der voranschreitenden Verbetrieblichung der Arbeitsbeziehungen in den letzten Jahren rund um die Begriffe Bürgerrechte, Bürgerstatus und Diskurskultur mehrere Vorschläge zur Demokratisierung von Arbeit und Betrieb unterbreitet wurden. Er setzt daran anknüpfenden optimistischen Erwartungen eine nüchternrealistische Bewertung dieser Konzepte entgegen.

Georg Stamatis argumentiert gegen die u.a. von Adam Schaff (vgl. Z 25, März 1996) seit langem vertretene These, mit der Automatisierung verschwinde Arbeit und Lohnarbeit, mithin auch das kapitalistische Klassenverhältnis. Seiner Ansicht nach ist Automatisierung nur eine Form der Produktivitätssteigerung, die menschliche Arbeit keineswegs obsolet macht. Thomas Metscher und Heewon Lee interpretieren die Aesthetik von Hans Heinz Holz als Moment der Ausarbeitung einer Ontologie der menschlichen Welt. Sie sehen darin ein Moment der Transformation des Marxismus im Sinne der Rückholung der ontologischen Dimension in den Marxismus, auf der Linie Lenin, Bloch, Lukàcs. Emmerich Nyikos befasst sich unter den vor zwanzig Jahren noch kaum vorstellbaren Bedingungen einer "im Zeichen des kapitalistischen Zentrums" vereinten Welt, in der sich die Metamorphosen analog zum altchinesischen Reich als Modellfall vorkapitalistischer Klassengesellschaft innerhalb der Formation vollziehen.

Unter dem Titel "Biografisches" erinnert Jürgen Harrer an den kürzlich verstorbenen israelischen Historiker Walter Grab, dem wir Hervorragendes zur Erforschung der demokratischen Bewegungen von 1848 verdanken. FriedrichMartin Balzer würdigt das Lebenswerk Wolfgang Abendroths mit Anmerkungen zu seiner Gesamtbibliografie, die zum 50. Jahrestag der Gründung des Marburger Instituts für wissenschaftliche Politik im Mai dieses Jahres erscheinen wird. Anlässlich einer Vorauspublikation zum MEGA2 -Band IV/32 gibt Jürgen Stroech einen Einblick in die Bibliotheken von Karl Marx und Friedrich Engels. Unter der Rubrik Berichte stellen Martin Beckmann und Sven Gronau die auf dem Marburger Workshop "Neue Formation des Kapitalismus?" vorgetragenen Positionen zu der Frage vor, ob wir es gegenwärtig mit einer neuen Phase der kapitalistischen Produktionsweise zu tun haben. Werner Röhr fasst die ins Deutsche übersetzten Forschungsergebnisse des russischen Historikers Wadim Rogowin zusammen, denen zu Folge die stalinistischen Verbrechen nicht etwa, wie häufig behauptet, die logische Konsequenz des Bolschewismus waren, sondern umgekehrt die völlige Ausschaltung der bolschewistischen Kader zu einer Voraussetzung des Stalinismus wurde.

Abschließend bleibt uns noch die erfreuliche Mitteilung, dass wir Gerd Wiegel, Politikwissenschaftler aus Marburg, für die Mitarbeit in der Redaktion gewinnen konnten. Von diesem Heft an wird er das Redaktionsteam verstärken.

 
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