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Heft 44, Dezember 2000, 11. Jhrg
Gerd Wiegel

Verordneter Antifaschismus?
Zur aktuellen Debatte um die extreme Rechte

Sommerloch und Sommertheater liegen längst hinter uns, und dennoch ist das beherrschende Thema aus dieser Zeit, entgegen den Befürchtungen und Erwartungen mancher Linker, nicht gänzlich aus der Öffentlichkeit und aus den Reden der etablierten Politik verschwunden. Nach wie vor wird an einem Verbot der NPD gearbeitet, nach wie vor gibt es zumindest verbale Äußerungen von Politikern aus Regierung und Opposition, die den grassierenden Rassismus im Lande und den stetigen Zuspruch für die extreme Rechte problematisieren. Daß in der CDU, zwei Jahre vor der nächsten Wahl, überhaupt darüber gestritten wird, ob das Thema Einwanderung als Wahlkampfthema taugt, ist zumindest insofern verwunderlich, als daß es hier noch in fast allen Wahlkämpfen in einer Weise genutzt wurde, die nur als Wasser auf die Mühlen der extremen Rechten gewertet werden kann. Noch ist keineswegs ausgemacht, daß dies nicht auch bei anstehenden Wahlen geschieht, allein daß darüber öffentlich diskutiert wird, zeigt eine Verunsicherung derer, die mit rassistischen Parolen bisher nur wenig Schwierigkeiten hatten. Hat die Debatte des Sommers also tatsächlich einen Klimawandel im Lande eingeleitet? Blickt man von der verbalen auf die realpolitische Ebene, dann läßt sich nur schwer von einem solchen Klimawandel sprechen. Der sozialdemokratische Innenminister hält an allen diskriminierenden Sonderregelungen wie Abschiebehaft, Flughafenverfahren usw. fest, seine Kollegen in den Ländern sanktionieren die gleichen menschenverachtenden Abschiebepraktiken wie immer, und auch von einer realen Besserstellung der hier lebenden MigrantInnnen und politisch Verfolgten hat man bisher nichts gehört. Alles also nur eine Medien- und Politikkampagne zur Verbesserung des deutschen Ansehens im Ausland anläßlich des rechten Terrors? Vielleicht wäre auch ein solches Urteil vorschnell, wenngleich diese Funktion der Debatte sicherlich eine wichtige Rolle spielt. Aus linker Sicht wären meiner Ansicht nach drei Fragen zu klären: (1) Hat sich die extreme Rechte in bezug auf ihre Zusammensetzung, Handlungsfähigkeit und Gewaltbereitschaft in den letzten Jahren tatsächlich stark gewandelt? (2) Wo liegen die Gründe für die zunehmende Akzeptanz neofaschistischer Ideologiemomente in breiteren Kreisen der Bevölkerung? (3) Was sind die Gründe für den momentanen staatlichen „Antifaschismus“?

1. Die extreme Rechte

Ein Auslöser der Debatte des vergangenen Sommers war sicherlich der Bombenanschlag auf eine S-Bahnstation in Düsseldorf, bei dem vor allem jüdische Menschen getroffen wurden. Auch wenn bis heute die Täter unbekannt sind und eine politische Motivation nicht feststeht, so ließ sich doch eine solche antisemitisch motivierte Tat nicht ausschließen. Anschläge auf Synagogen und jüdische Friedhöfe sind in diesem Land leider wieder eine fast alltägliche Realität, ein Attentat jedoch auf hier lebende Juden wäre eine neue Qualität des faschistischen Terrors, und nicht zuletzt deshalb löste dieser Anschlag eine wesentlich stärkere Reaktion aus, als es die Überfälle und Morde an Schwarzen, Menschen ohne deutschen Paß, Obdachlosen oder Linken taten und tun. Antisemitismus und Angriffe auf Juden sind immer noch eines der größten Tabus, ist sich die politische Klasse des Landes doch bewußt, daß damit sofort die Geister der Vergangenheit, die mit soviel Mühe aus dem politischen Tagesgeschäft verbannt wurden, ins Rampenlicht zumindest der ausländischen Öffentlichkeit rücken. Mindestens hier ist die Frage des Ansehens Deutschlands von zentraler Bedeutung. Aber nicht nur die jüdischen Opfer des Anschlages, sondern auch die Frage nach einer zunehmenden terroristischen Militanz der extremen Rechten trugen zur Debatte bei.

Fraglich ist jedoch, ob von einer tatsächlichen Zunahme des rechten Terrors gesprochen werden kann. Nimmt man die offiziellen Zahlen des Verfassungsschutzes (VS) für die letzten zehn Jahre, die, wie man weiß, nur mit Vorsicht zu behandeln sind, dann läßt sich die Debatte des Sommers nicht mit einem extremen Anstieg rechter Gewalt erklären. Im VS-Bericht von 1999 wird von einem rechtsextremistischen Personenpotential von 53.000 für 1998 ausgegangen. Darin enthalten sind alle Mitglieder rechtsextremer Parteien (also REP, DVU und NPD). Als gewaltbereit gelten hiervon 8.200 Personen. Sieht man sich die Entwicklung für die gesamten 90er Jahre an, dann lassen sich hier zwei Tendenzen ausmachen: Direkt nach 1990 läßt sich eine explosionsartige Zunahme rechtsextremer Gewalttaten verzeichnen, und zwar von 178 in 1990 auf 849 in 1991 und schließlich 1.485 in 1992. Danach sinkt die Kurve bis 1995 deutlich ab, um seitdem wieder kontinuierlich zu steigen, ohne jedoch das Niveau von 1992 zu erreichen. Einen deutlichen und auffallenden Unterschied in der Verteilung der Gewalt von rechts gibt es zwischen Ost und West. Der Gewaltanteil im Osten ist eindeutig höher als im Westen, d.h. die Gefahren für MigrantInnen und andere potentielle Opfer der extremen Rechten sind im Osten wesentlich größer.

Sieht man sich jetzt noch die Erfolge der Parteien der extremen Rechten bei Wahlen an, dann ergibt sich wieder ein modifiziertes Bild: Während in der ersten Hälfte der 90er Jahre diese Parteien im Osten weitaus weniger Erfolg haben als im Westen, kehrt sich das Verhältnis für die zweite Hälfte der 90er Jahre um. Alle angetretenen Parteien der extremen Rechten erreichten bei der Bundestagswahl 1990 im Westen 2,6 %, im Osten 1,6 %, bei der Europawahl 1994 4,4 % im Westen und 3,3 % im Osten, bei der Bundestagswahl im selben Jahr 2 % im Westen und 1,3 % im Osten, bei der Bundestagswahl 1998 allerdings 2,9 % im Westen und 5,0 % im Osten und bei der Europawahl 1999 1,9 % im Westen und 2,8 % im Osten. Die Wahl einer Partei der extremen Rechten und die potentielle Gewaltbereitschaft müssen also keineswegs korrelieren. Gerade in der ersten Hälfte der 90er Jahre ist die Wahlbereitschaft für eine Partei der extremen Rechten im Westen höher als im Osten, das hat sich mittlerweile umgekehrt. Es könnte also sein, daß ein bisher parteimäßig nicht organisiertes oder gebundenes Potential an rechter Gewalt sich verstärkt organisiert und in Parteien wie der NPD engagiert.

Da sich die Debatte zur extremen Rechten vor allem auf die NPD konzentriert hat, möchte ich auf diese Partei hier etwas genauer eingehen. Von den drei Parteien der extremen Rechten, die in den letzten Jahrzehnten nennenswerte Erfolge bei Wahlen erzielen konnten, ist die NPD die älteste. Gegründet 1964, gelang es der NPD zwischen 1966 und 1969 in sieben Länderparlamente einzuziehen und dabei zwischen 5,8 und 9,8 Prozent der Stimmen zu erzielen. Bei den Bundestagswahlen 1969 scheiterte sie knapp mit 4,3 Prozent. In den 60er Jahren hatte die Partei bis zu 28.000 Mitglieder, dieser Bestand sank bis auf 2.800 und stieg in den 90er Jahren auf aktuell ca. 6.000 Mitglieder an. Zum Vergleich: DVU und REP werden vom Verfassungsschutz mit 18.000 bzw. 15.000 Mitgliedern angegeben. Seit den 60er Jahren ist es der NPD bis auf kleinere Ausnahmen nicht mehr gelungen, größere Wahlerfolge zu erzielen. Trotzdem spielt sie eine wichtige Rolle im Zusammenhang der extremen Rechten. Wenn man REP, DVU und NPD miteinander vergleicht, dann lassen sich hier deutliche Abstufungen feststellen. Während die REP darum bemüht sind, sich einen seriösen Anstrich zu geben und sich deutlich von der NPD und auch von der DVU distanzieren, lassen sich die inhaltlichen und ideologischen Ausrichtungen von DVU und NPD sehr wohl vergleichen. Die REP sind im Übergangsfeld von rechtskonservativ zu rechtsextrem anzusiedeln, wohingegen DVU und NPD deutlich zum neofaschistischen Spektrum zu zählen sind. Während die DVU jedoch eindeutig von ihrem Vorsitzenden Frey und der Münchner Parteizentrale dominiert wird und in vielen Ländern keine wirklichen Parteistrukturen aufgebaut hat, ist dies bei der NPD anders. Sie ist relativ gut und flächendeckend organisiert, mit einem Schwerpunkt eindeutig in den neuen Bundesländern und hier besonders in Sachsen. War die NPD in den 60er Jahren vor allem eine Partei der alten Nazis, der ewig gestrigen, so läßt sich dieser Befund für heute nicht mehr halten. Vor allem personell hat sich die NPD weitgehend gewandelt und kann heute weit eher als Jugendpartei gelten. Seit 1995 hat es eine vermehrte Aufnahme von militanten Neofaschisten in die Partei gegeben, womit die NPD eine deutliche Annäherung an dieses Spektrum vollzog.

Stand unter dem Vorsitzenden Deckert der Geschichtsrevisionismus im Mittelpunkt der Agitation, weshalb Deckert auch wegen der Leugnung von Auschwitz verurteilt wurde, so stehen unter dem aktuellen Vorsitzenden Voigt andere Themen im Zentrum. Neben Rassismus und Antisemitismus als gängige Topoi ist dies vor allem die „soziale Frage“, die von der NPD in den Mittelpunkt gestellt wird. Damit greift die Partei genau den Punkt auf, der für den Osten der Republik zu einem wichtigen Kristallisationspunkt der Politik geworden ist. Der Politikwissenschaftler Richard Stöss verweist darauf, daß für den Osten die Frage der sozialen Gerechtigkeit verbunden mit autoritären Einstellungsmustern kennzeichnend sei. Genau diese Mischung wird von der NPD angeboten. Reale soziale Mißstände werden aufgegriffen und biologisiert, d.h. „Ausländer“, „Volksfremde“, „soziale Schädlinge“ werden für die herrschende Misere verantwortlich gemacht. Daneben propagiert die NPD im Osten einen nationalen Sozialismus, der bewußt an aus der DDR überkommene Einstellungsmuster anknüpft. Die Enttäuschungen über den Vereinigungsprozeß werden aufgegriffen und gegen die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft gewandt. Im Prinzip verfolgt die NPD damit die gleiche Strategie wie die NSDAP zu Beginn der dreißiger Jahre. War es historisch die „Befreiung“ von den Juden, so sind es heute die Ausländer, deren Beseitigung das Problem lösen würde. Aber auch der Antisemitismus wird immer stärker, wie sich nicht zuletzt an den zunehmenden antisemitisch motivierten Straftaten ablesen läßt. Die Feindbilder sind geblieben: „Linke“ und „Antifaschisten“, ebenso die Homosexuellen.

Welche Erklärungen lassen sich nun für die hier skizzierten Entwicklungen geben? Aus der Vielzahl der Erklärungsmuster möchte ich mich hier nur mit der Frage der zunehmenden Gewaltbereitschaft und der nach den immer jüngeren Gewalttätern befassen. Zumeist wird, bezogen auf die rechte Gewalt von einem Jugendphänomen gesprochen, womit zugleich eine Relativierung des Problems verbunden ist, weil man davon ausgeht, daß sich diese Jugedlichen die „Hörner“ schon abstoßen werden und das Problem so verschwindet. Dies ist jedoch eine Täuschung, ist das Gewaltproblem doch keineswegs auf Jugendliche beschränkt, auch wenn diese sehr oft an solchen Taten beteiligt sind. Der Kriminologe Bernd Wagner unterscheidet ganz verschiedene gewaltbereite Gruppen: von nichtorganisierten losen Nachbarschaftscliquen über autonome Kameradschaften bis hin zu paramilitärischen Gruppen und Terrorkommandos. Die Einbindung in rechtsextreme Organisationen und die dazugehörige Ideologie sind sicherlich unterschiedlich, allen gemeinsam ist jedoch ein Feindbild, das eben aus vermeintlichen Nicht-Deutschen, allen nicht angepaßten und abweichenden besteht. Die zunehmende Gewaltbereitschaft und die viel zu lange Tolerierung dieser Gewalt durch die Politik haben zu einer Veralltäglichung der Gewalt geführt, die für Jugendliche mittlerweile zum normalen Sozialisationsmuster wird und sich somit perpetuiert. Bei Bernd Wagner heißt es dazu: „Gewalt gehört zum Verhaltensinventar. Sie ist jedoch infolge der schwächeren Gruppenkohärenz (eher sind es offene Szenen in Klubs, Diskotheken usw.) in geringerem Maße militant und folgt der Logik des Augenblicks. In diesen Szenen finden in neuer Weise Sozialisationsprozesse statt, die tendenziell eine höhere Gewaltakzeptanz und -ausübungsbereitschaft als in der Elterngeneration erzeugen dürften. Rechtsextrem orientierte Gewaltbereitschaft bedarf nunmehr nicht mehr der marginalen Existenz von Gruppierungen, sie ist in die Normalität des Lebensalltags durchschnittlicher Milieus eingeflossen und ist Bestandteil der gegenwärtigen Tendenz des Nationalpopulistischen als soziale Bewegung.“ [1]

Gewalt wird also zur alltäglichen Erfahrung und findet allgemeine Akzeptanz. Deshalb läßt sich auch nur schwer ein bestimmtes Täterprofil ausmachen, etwa entlang der sozialen Lage. Es sind eben nicht nur arbeitslose, sozial depravierte Jugendliche, die Gewalt ausüben. In einem Artikel der Frankfurter Rundschau (28.6.00) wurde von einer sächsischen Neonazigruppe berichtet, deren Mitglieder u.a. Sozialpädagogen, Sparkassenangestellte oder Kinder von Polizisten und Justizangehörigen sind.

Die stillschweigende Tolerierung der Politik und die z.T. offene Akzeptanz der Bevölkerung für diese rechte Gewalt haben wesentlich zu ihrer Verstetigung beigetragen. Auch die lange Jahre favorisierte akzeptierende Jugendarbeit mit rechten Jugendlichen hat diese Potentiale eher verfestigt. Die Existenz von sogenannten „national befreiten Zonen“ im Osten wird von den Akteuren der extremen Rechten als eindeutiger Erfolg gefeiert.

Für den Jugend- und Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer sind diese Erfolge der extremen Rechten gerade die bedrohlichste Hypothek für die Zukunft, denn sie tragen zur Verstetigung des Problems und zur Sozialisation von Jugendlichen im Sinne der extremen Rechten bei: „Die ‚erfolgreichste‘ politische Sozialisation und das effektivste Handeln von Jugendlichen läuft m.E. derzeit in Dörfern und Kleinstädten Ostdeutschlands, insbesondere Brandenburgs ab, in denen rechtsextremistische Jugendgruppen mit dem ‚Konzept‘ der ‚National befreiten Zonen‘ operieren, vielfach auch nur darüber faseln. Effektiv ist dieses Handeln deshalb, weil die Jugendlichen Macht über Sozialräume gewinnen und dabei ihre Situationsdefinition über deren Nutzung anderen gegen ihren Willen aufzwingen können; weil das politische Agieren auf kurzen Handlungsketten basiert, die übersichtlich sind; drittens, weil sichtbare und überprüfbare Erfolge vorliegen, d.h. das Gefühl der Selbstwirksamkeit hoch ist und sie durch entsprechende Musikangebote euphorisiert werden; und schließlich, weil die Aktivitäten eingebettet sind in Mehrheitsstimmungen der Bevölkerung, so daß Avantgarde-Bewußtsein ebenso entsteht wie selbsttragende Motivation zur Grenzüberschreitung in Richtung Gewalt.“ [2]

Gerade der letzte Punkt, die Einbettung dieser Gewalt in die Mehrheitsstimmung der Bevölkerung, scheint mir ein entscheidender Punkt bei der Frage nach Ursachen und Gegenstrategien zu sein.

2. Die Mitte der Gesellschaft

Die Forderung nach einem Verbot der NPD beinhaltet teilweise die fatale Vorstellung, mit solch administrativen Maßnahmen ließe sich das Problem des Neofaschismus entscheidend bekämpfen. Verkannt und von etablierter politischer Seite bewußt verdrängt wird dabei die tatsächliche Ursache für den Aufschwung der extremen Rechten in den letzten fünfzehn Jahren. Denn es war nicht die extreme Rechte, die eine Verschiebung des gesellschaftlichen Konsenses nach rechts bewirkte, sondern dieser Vorstoß kam aus der Mitte der Gesellschaft. Spätestens seit dem Beginn der achtziger Jahre läßt sich eine Re-Etablierung konservativer und rechter Ideologiemomente in der Bundesrepublik ausmachen, und die konservative Wende von 1982 trieb diesen Vorstoß des Neokonservatismus mit aller Kraft voran. Nation und nationale Identität wurden jetzt zu Werten, die es wiederzuentdecken gelte; das diesem Ansinnen entgegenstehende Bild der deutschen Vergangenheit, geprägt durch die Erfahrung des Faschismus, wurde im Historikerstreit von 1986 einer ersten Revision unterzogen. Bedient wurden hier Vorstellungen und Forderungen, wie sie in rechtskonservativen Denkfabriken und den sich herausbildenden Zirkeln einer sogenannten „Neuen Rechten“ vehement gefordert wurden. Der Aufstieg und zeitweilige Erfolg der REP in diesen Jahren ist kein Zufall, sondern die logische Folge einer ideologischen Umorientierung der politischen Eliten. Ließ sich bis 1989/90 noch ein breiter linksliberaler Widerstand gegen diese neokonservativen Vorstöße verzeichnen, wie er sich vor allem im Historikerstreit zeigte, so verschwand dieser Widerstand mit der deutsch-deutschen Vereinigung 1990 fast vollständig. Die Nation mit all ihren ideologischen Mythen wurde jetzt zum einigenden Band der zusammengefügten deutschen Teilstaaten. Fehlende nationale Begeisterung, womöglich der kritische Verweis auf die fatale nationale Geschichte Deutschlands seit 1871 wurden jetzt negativ belegt: als Ausweis eines deutschen Sonderwegs, einer Art Krankheit. Der Historiker Thomas Nipperdey wurde in der Frankfurter Rundschau mit einer Aussage aus dem Jahre 1990 zitiert: „Wer nationale Identität nicht sozusagen selbstverständlich hat, hat ein Identitätsproblem, leidet an Identitätsverlust oder einer Störung.“ [3]

Wo die Nation und die Zugehörigkeit zu ihr als Werte an sich erkoren werden, ist auch die Frage nach denen, die nicht zu dieser imaginären Gemeinschaft gehören, nicht weit. Auf politischer Seite rückte diese Frage spätestens seit der Mitte der achtziger Jahre verstärkt ins Zentrum der Agitation. Schon der damalige Innenminister Zimmermann machte das Thema „Ausländer“ und Asyl zum Wahlkampfthema, womit schon damals nicht den von den REP verbreiteten rassistischen Stereotypen entgegengetreten wurde, sondern sie aufgenommen und bedient wurden. Den funktionalen Einsatz rassistischer Ideologien konnte man dann im Rahmen der ersten Vereinigungskrise 1992 beobachten. Um von den realen Gegensätzen und Interessendivergenzen zwischen Ost und West abzulenken, wurde die sogenannte „Asyldebatte“ entfacht, die 1993 schließlich zur faktischen Abschaffung des Asylrechts führte [4] . Das Ziel dieser Debatte lag in der nach ethnischen Kriterien vorgenommenen Inklusion bzw. Exklusion verschiedener Gruppen der Bevölkerung. Der Homogenisierung der Nation anhand der völkisch definierten Zugehörigkeit zu dieser stand der Ausschluß all derer gegenüber, die diesen völkischen Kriterien nicht entsprachen. Reale soziale Gegensätze wurden so zugunsten vermeintlich ethnischer Gegensätze überdeckt. Die soziale Frage wurde damit ethnisiert. Schuld an der sozialen Misere waren jetzt die „Asylanten“, gegen die sich der organisierte Volkszorn wandte. Der im ersten Abschnitt aufgezeigte Anstieg rechtsextremer Straftaten im Jahre 1992 trifft genau mit der hier skizzierten Debatte zusammen und war für die angestrebte Ethnisierung der sozialen Frage äußerst funktional. Ob hier auch die Gründe für die offensichtliche Zurückhaltung der staatlichen Ordnungskräfte bei den Pogromen beispielsweise in Rostock liegen, bleibt dahingestellt.

Deutlich wird an diesen Beispielen meiner Ansicht nach, daß die heute von manchen Politikern beklagte rassistische und „fremdenfeindliche“ Grundeinstellung bei größeren Teilen der Bevölkerung aktiv von der Politik gefördert wurde. Gefördert und nicht erzeugt, weil es meiner Meinung nach ein Fehler wäre, Rassismus und Ideologien der Ungleichheit als nur von oben manipulierte Einstellungen zu bewerten. In Latenz müssen diese Einstellungsmuster vorhanden sein, um bei Bedarf von der Politik abrufbar zu sein. Auch wenn sich von den hier skizzierten politischen Entwicklungen keine bruchlose Linie zur Gewaltbereitschaft immer jüngerer Teile der Gesellschaft ziehen läßt, so wurde der ideologische Boden, auf dem heute u.a. die NPD erntet, unzweifelhaft in der Mitte der Gesellschaft gedüngt. Die von der Politik verbreiteten Parolen von der „durchrassten Gesellschaft“ (Stoiber), die unmißverständliche Metapher vom Boot, das voll sei, dienen der extremen Rechten als konkrete Handlungsanleitung. Nur folgerichtig fragen sich Jugendliche und solche Menschen, denen diese Parolen aus dem Herzen sprechen, warum den markigen Worten nicht eben solche Taten folgen. Die extreme Rechte verspricht hier, genau das in die Tat umzusetzen, was ihrer Ansicht nach von der gemäßigten Rechten und der Mitte nur gefordert wird. Politik, wie sie von Schily bis Schönbohm betrieben wird, kann nur als Zuarbeit und Erfüllung der Forderungen der extremen Rechten gewertet werden. So läßt der brandenburgische Innenminister Schönbohm zwei Algerier, die 1999 Opfer neofaschistischer Gewalt wurden, mit dem Argument ausweisen, die durch den Überfall erlittene Traumatisierung stehe einer positiven Integration in Deutschland im Wege. Für die Faschisten muß dies geradezu wie eine Aufforderung zu weiterer Gewalt wirken, erreichen sie doch damit genau ihre Ziele.

Warum, so ließe sich fragen, greift die hier beschriebene Ethnisierung der Politik in den letzten fünfzehn Jahren immer weiter um sich, bedenkt man vor allem, daß sich diese Entwicklung nicht allein auf Deutschland beschränken läßt? In einem größeren Rahmen wären hier die neoliberalen Veränderungen zu berücksichtigen, die zu tiefgreifenden Verunsicherungen in der Bevölkerung geführt haben. Die zunehmende Auflösung traditioneller Lebenswelten, die bewußt vorangetriebene Deregulierung der Arbeitswelt und die ständig an die Individuen gerichtete Forderung nach der Flexibilität lösen eine Suche nach Sicherheiten, nach Haltepunkten im rasenden Strom des Kapitalismus aus. Da die Politik nicht länger bereit ist, diese Sicherheiten staatlich zu garantieren, bekommen solche Haltepunkte eine besondere Bedeutung, die den Individuen scheinbar naturwüchsig zufallen. Nation und ethnische Herkunft bieten solche vermeintlichen Sicherheiten, und das aggressive Klammern an sie korrespondiert mit den zu verzeichnenden gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen. Dies ist jedoch keine schicksalhafte Entwicklung einer unbeeinflußbaren Kapitallogik, sondern ein politisch bewußt vorangetriebenes Projekt. [5] Das selbstgeschaffene Dilemma vor allem des Konservatismus, einerseits die traditionellen Werte wie Familie, Gemeinschaft, Sicherheit etc. hochzuhalten, auf der anderen Seite aber durch die eigene neoliberale Politik gerade diese Werte zu unterminieren, wurde und wird hier mit einem ideologischen Vorstoß beantwortet, der der realen Entwicklung des globalisierten Kapitalismus entgegensteht. Nation und Abstammung sollen den ideologischen Kitt der Gesellschaft bilden, für den im fordistischen Kapitalismus die soziale Absicherung und relative ökonomische Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum stand. Während für den Kapitalismus die Bedeutung von Nation und Herkunft abnimmt, erhalten diese Ideologien auf politischer Seite eine neue Bedeutung und dienen zur Ruhigstellung der sozialen Frage.

Warum dann also jetzt die Debatte über den grassierenden Neofaschismus? Ist es die Angst, die Geister, die man rief, nicht mehr beherrschen zu können, oder läßt sich vielleicht eine neue Interessenlage ausmachen?

3. Klimawandel?

Anfang September kam es im Hessischen Landtag zu einem Skandal als der CDU-Abgeordnete Reif dem Fraktionschef der Grünen, Al-Wazir, zurief, „geh doch zurück nach Sanaa“, womit auf die Herkunft von Al-Wazirs’ Vater aus dem Jemen angespielt wurde. Reif wollte „ein Student aus Sanaa“ gerufen haben, ein offensichtlich völlig unsinniger Satz. Was Al-Wazir, der in Offenbach geboren wurde und einen deutschen Paß besitzt, mit Sanaa zu tun hat, blieb das Geheimnis des CDU-Mannes. Offensichtlich entspricht Al-Wazir nicht der ethnisch geleiteten Vorstellung, die der CDU-Abgeordnete Reif von einem deutschen Menschen hat. Nicht die Tatsache dieses Eklats ist hier besonders interessant, sondern die überregionale Aufmerksamkeit, die dieser Vorfall erzeugte. Erklären läßt sich dies nur mit der verstärkten Sensibilisierung für das Thema angesichts der Debatte um NPD, Neofaschismus und Rassismus. So zeigen auch die Äußerungen des hessischen Ministerpräsidenten Koch, dem Thema Rechtsextremismus werde zu viel Aufmerksamkeit geschenkt, die Sorge, nicht mehr in bekannter Weise die rassistische Klaviatur spielen zu können, wenn diese Sensibilität länger anhält [6] . Die eingangs aufgezeigte Diskussion innerhalb der CDU, ob das Thema Einwanderung zum Wahlkampfthema zu machen sei, ist ein weiteres Indiz für diese Verunsicherung. Läßt sich tatsächlich von einem Gegensteuern der Politik gegen einen weit verbreiteten rassistischen Konsens in der Gesellschaft sprechen, und wo liegen die Gründe für dieses vermutete Gegensteuern? Neben den genannten Aspekten scheint mir eine These Rainer Bohns recht aufschlußreich zu sein, die dieser in der Oktoberausgabe der Zeitschrift „konkret“ äußerte. [7] Bohn fragt, in welchem Kontext die Debatte über den Neofaschismus stattfindet und nennt als Themen die sogenannte Green-Card, also die Frage der geregelten Arbeitsmigration und die im Zusammenhang mit der Rentendebatte geführte Diskussion um die Überalterung der deutschen Gesellschaft. Beide Debatten zeigen den herrschenden Eliten, daß Zuwanderung auf Dauer nicht vermieden werden kann (außerdem ist sie längst real), daß sie für die Sicherung des Arbeitskräftereservoirs zukünftig geradezu unerläßlich werden kann. Wie die Green-Card-Debatte zeigte, können Facharbeiter und Spezialisten zu einem international umkämpften Gut werden. Eine in weiten Teilen rassistisch eingestellte Bevölkerung steht einem solchen Projekt natürlich entgegen, denn zumindest diesem Arbeitskräftesegment steht ein internationaler Arbeitsmarkt offen, auf dem die Bundesrepublik in starker Konkurrenz zu anderen Ländern steht. Eine plakative Weltoffenheit könnte hier zum Standortvorteil werden. In den letzten Wochen lassen sich vermehrt Artikel in den großen Zeitungen des Landes finden, in denen darauf verwiesen wird, daß sich die Bundesrepublik in einem internationalen Konkurrenzkampf um die besten Fachkräfte befindet, und daß man gegenüber den angloamerikanischen Konkurrenten dabei weit im Hintertreffen sei. [8] Nicht zuletzt das rassistische Klima im Land ist ein Hindernis in diesem Konkurrenzkampf. Es ließe sich also vermuten, daß die Eliten in Wirtschaft und Politik ein ganz handfestes Interesse an einem Klimawandel haben, um so die aus ihrer Sicht notwendige Einwanderung auch innerhalb der Bevölkerung abzusichern. [9] Wären somit die dem grenzenlosen Kapital verpflichteten Eliten aus Politik und Wirtschaft die neuen Bündnispartner eines antirassistisch ausgerichteten Antifaschismus? Die Richtung der herrschenden Politik dürfte der bayrische Innenminister Beckstein formuliert haben, der mehr Einwanderung forderte, die „uns nützt“ und weniger, die „uns ausnutzt“. Letzteres soll momentan weniger deutlich formuliert werden, weil es den Kern des Projektes gefährden könnte. Klar ist aber, daß der BDI und die weiteren Kapitalvertreter, die jetzt so vehement gegen die extreme Rechte auftreten, nicht ihr Herz für die politisch Verfolgten und die von Armut betroffenen Flüchtlinge entdeckt haben. Mit einer „geregelten“ Einwanderung, ausgerichtet an den Interessen der Wirtschaft, wird der Druck auf die letzten Reste des ausgehöhlten Asylrechts noch größer werden, so wie es sich schon jetzt an den Äußerungen Schilys ablesen läßt.

Was bedeutet, so soll abschließend gefragt werden, eine solche angestrebte Veränderung für die Linke? Wird, wenn die den Eliten unterstellte Absicht zutrifft, diese Elite zu einem Bündnispartner für AntifaschistInnen und AntirassistInnen? Letzteres geht sicherlich zu weit, ist die Motivation für diese Politik doch eine fundamental unterschiedene. Aber die Möglichkeit, in der gegenwärtigen Debatte eigene antifaschistische und antirassistische Positionen zu plazieren, sollte nicht deshalb vergeben werden, weil man mit Leuten in einer Front steht, die man sonst jenseits der Barrikaden verortet. [10] Selbst ein nur plakativer Klimawechsel, der die rassistischen Praktiken und Gesetze des Staates unberührt läßt, wäre für die hier lebenden Menschen ohne deutschen Paß schon eine kleine Verbesserung ihrer Lebenssituation.

Auf der anderen Seite scheint es mir zweifelhaft, daß ein solcher Klimawandel sich ohne weiteres erreichen läßt, können doch Einstellungen, die über Jahre hinweg von oben legitimiert und gefördert wurden, nicht einfach nach Wunsch verändert werden. Die zu erwartenden Auswirkungen einer angestrebten Zuwanderungspolitik könnten den grassierenden Rassismus eher verstärken. Diese Auswirkungen werden sich vor allem auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar machen, auf dem sich mit der geplanten Einwanderung von Fachkräften ein verschärfter Konkurrenzkampf einstellen wird. Sorgte die Arbeitsmigration in den sechziger Jahren noch für einen positiven „Fahrstuhleffekt“ für die deutschen Beschäftigen, deren Aufstieg mit der Vergabe der schlechten Arbeitsplätze an die MigrantInnen verbunden war, so könnte sich mit der Anwerbung von Fachkräften ein negativer „Fahrstuhleffekt“ einstellen. Die Kompensation solcher Erfahrungen mittels rassistischer Abgrenzung läßt sich leicht vermuten. Verstärkter Rassismus könnte also ein Ergebnis dieser weiteren Internationalisierung des Arbeitsmarktes sein, zumal dann, wenn diesem ohnehin schon verbreiteten Klima nicht entscheidendes entgegengesetzt wird. Aufgabe der Linken müßte es also sein, die soziale Frage ins Zentrum zu rücken und Antworten jenseits der Ethnisierung dieser Frage, wie sie von rechts und in der Mitte betrieben wird, zu formulieren.

[1]    Bernd Wagner: Bei Erichs Enkeln gehört „rechts“ zum Zeitgeist, in : Frankfurter Rundschau, 6.3.1999.

[2]    Wilhelm Heitmeyer: Wenn junge Deutsche Ehre und Tradition mit Gewalt zurückholen, in: Frankfurter Rundschau, 18.12.1998.

[3]    Zitiert nach Frankfurter Rundschau, 16.4.1996.

[4]    Der damalige Generalsekretär der CDU, Volker Rühe, forderte in einem Brief an alle Parteigliederungen diese dazu auf, das Thema Asyl offensiv gegen den politischen Gegner zu nutzen.

[5]    Vgl. Joachim Hirsch: Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus, Berlin/Amsterdam 1995.

[6]    Nur folgerichtig ist es, daß die hessische Landesregierung unter Roland Koch dem Antrag auf ein Verbot der NPD nicht zustimmen wollte. Liberale Grundsätze lassen sich bei Koch nicht vermuten, und so dürften es mehr die Vorbehalte gegen ein zu starkes Vorgehen gegen rechte Positionen generell sein, die Koch zu seiner Haltung motivieren. In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung  (26.10.00) lobt Koch die eigene Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft: damit sei den Parteien der extremen Rechten das Wasser abgegraben worden. Eingestanden wird somit von ihm, daß es sich um eine für die extreme Rechte kompatible Kampagne handelte. Für Koch scheinen rassistische Positionen dann kein Problem zu sein, wenn sie von einer Volkspartei wie der CDU vertreten werden.

[7]    Vgl. Rainer Bohn: Afghanen statt Veteranen, in : konkret 10/2000.

[8]    Vgl. exemplarisch das Interview mit dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Klaus F. Zimmermann: „Zuwanderung sichert den Anschluss an die Zukunft“, in: Frankfurter Rundschau, 23.10.2000.

[9]    Die Forderung nach vermehrter Einwanderung von Seiten der Wirtschaft ist im übrigen so neu nicht. Schon 1990 hatte der Wirtschaftsjournalist Roland Tichy ein Buch mit dem Titel: Ausländer rein. Warum es kein „Ausländerproblem“ gibt, München 1990, verfaßt, in dem er aus wirtschaftsliberaler Sicht für eine grenzenlose Öffnung des Arbeitsmarktes plädierte. Vermutlich brach diese Debatte 1990 ab, da mit der Vereinigung das Angebot an billigen, aber gut ausgebildeten Arbeitskräften ein riesiges Ausmaß annahm.

[10] Auf der Gegenseite werden die Gefahren der Etablierung antifaschistischer Positionen sehr wohl gesehen. So warnt der „Extremismusforscher“ Eckhard Jesse in einem Artikel in der FAZ (Mit links gegen rechts?, 26.10.2000) vor der Zusammenarbeit mit „linksextremen“ Kräften im Kampf gegen die extreme Rechte. Jesse Artikel vereint alle Schwachpunkte der Extremismustheorie und zeigt die eindeutig politisch reaktionäre Funktion dieses Ansatzes.

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