Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 43, September 2000, 11. Jhrg
Gretchen Binus

Der Thyssen-Konzern
Zu konkreten Formen des SMK heute

Seit Beginn dieses Jahres beschäftigt sich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß des 14. Bundestages [1] mit der CDU-Spendenaffäre, der illegalen Finanzpraxis dieser Partei. Es geht dabei um riesige Summen, die das Großkapital an Mitglieder der ehemaligen CDU/CSU und FDP-Regierung gezahlt hat, um deren politische Entscheidungsprozesse über staatliche Aufträge, Fördergelder, Rüstungsexporte mittels „Spenden, Provisionen, andere finanzielle Zuwendungen oder Vorteile“ zu beeinflussen. Im Zusammenhang mit der Lieferung von 36 deutschen Panzerfahrzeugen an Saudi-Arabien, dem Fall Leuna/Minol und dem Bear-Head-Rüstungsprojekt in Kanada fällt immer wieder der Name des großen Industriekonzerns Thyssen, von dem für die milliardenschweren Aufträge Millionen an Politiker der CDU und an die CDU selbst geflossen sind. Indem in der Öffentlichkeit seitens der Konzernvertreter von Spenden als Mittel „politischer Landschaftspflege“ gesprochen wird, werden die korrupten Praktiken der Großkonzerne als Normalität hingestellt, der undemokratische Einfluß des „großen Geldes“, wie der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim schreibt [2] , negiert oder bagatellisiert. Konsequenzen gegenüber derartigen Korruptions- und Steuerdelikten von Politikern und Monopolvertretern sind kaum zu erwarten. Die Käuflichkeit von Politik und Politikern - wie auch bereits der Flick-Skandal 1982 deutlich machte - ist ein Ergebnis der monopolistischen Herrschaft und fester Bestandteil der Geschäftspolitik großer Konzerne. Sie ist das exzessive Kennzeichen des vielfältigen, über Jahrzehnte herausgebildeten Geflechtes zwischen Staat und Monopolen.

Angesicht dieser kriminellen Variante des Beziehungsgefüges zwischen Großkapital und Politik rückt die Frage wieder verstärkt in den Vordergrund, wie im Kapitalismus von heute das Verhältnis Staat und Wirtschaft funktioniert, welche Anforderungen das Monopolkapital aufgrund veränderter politischer und ökonomischer Bedingungen an den Staat und an staatliche Interventionen stellt, welcher Methoden es sich dabei bedient und wie der Staat als gesamtpolitisches Machtorgan, das vielen Interessengruppen unterworfen ist, dem Rechnung trägt. Die konkrete Analyse der Position des im Finanzkapital traditionell verankerten mächtigen industriellen Großkonzerns Thyssen, seine aus der Expansion erwachsenden Anforderungen an den Staat sowie sein Zusammenwirken mit dem Staat können darüber Aufschluß geben. Nicht zuletzt ließen sich auch Aussagen treffen, inwieweit die marxistischen SMK-Theorie für Kapitalismusanalyse und -kritik noch in der heutigen Zeit von Gewicht ist. Diese charakterisierte bereits den Kapitalismus der 80er Jahre als jene Entwicklungsphase des Monopolkapitalismus, „die infolge ihres erreichten hohen Niveaus der Vergesellschaftung und der Monopolisierung die Einbeziehung des Staates in alle Bereiche, Phasen und Ebenen des ökonomischen und sozialen Reproduktionsprozesses der Gesellschaft erforderlich macht und dementsprechende Strukturen der Verflechtung der Institutionen und Apparate des bürgerlichen Staates mit jenen der monopolistisch beherrschten Wirtschaft und der Monopole unmittelbar herausbildet“. [3]

Ausgangspunkt der Untersuchung eines mächtigen Industriekonzerns bildet daher der theoretische Aspekt, daß mit der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung die Möglichkeiten des privaten Monopols nicht mehr ausreichen, die Kapitalverwertung zu sichern, was die Einbeziehung von Staatsinterventionen als ständigen Faktor im monopolistischen Reproduktionsprozeß notwendig macht. Für die Einschätzung der Beziehungsgeflechts zwischen Staat und Monopolen im heutigen Kapitalismus ist jedoch von Bedeutung, daß sich die Kapitalverwertungsbedingungen für die Entfaltung des Monopols wesentlich verändert haben. Als Reaktion auf die tiefe Krise der Akkumulation  seit den 80er Jahren, begleitet von einer massiven Umverteilung der Einkommen von unten nach oben und damit sinkender Massenkaufkraft, forcieren die Monopole die Kapitalzentralisationen im nationalen und internationalen Maßstab. Daraus ergeben sich gewachsene Anforderungen an Staatsinterventionen. Hinzu kommen bedeutende politische Veränderungen und politische Konstellationen, die auf die Qualität der Wechselwirkung zwischen Staat und Wirtschaft Einfluß haben. So hat sich mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und dem Wegfall der Systemauseinandersetzung die Konkurrenz zwischen den mächtigen Großkonzernen und den entwickelten Industriestaaten im Kampf um neue Einflußsphären in der Welt sowie um die Neuaufteilung der Märkte auf das äußerste verschärft. Das Großkapital reagiert seit Mitte der 90er Jahre darauf verstärkt mit einer anschwellenden Fusionswelle und internationaler Kapitalkonzentration, um neue Monopolstrukturen zu erreichen, die ihnen Kapitalmacht, Position am Markt, Weltmarktdominanz sichern. Es vollziehen sich über diese Kapitalzentralisationen zugleich gravierende stoffliche Veränderungen innerhalb und zwischen den Monopolgebilden. Der Umbau und die strukturelle Neuordnung von Konzernbereichen zwischen den Großkonzernen auf der nationalen und internationalen Ebene zeigt, daß heute diese Monopolisierungsprozesse die entscheidenden Formen der Regulierung der materiellen und nichtmateriellen Reproduktion im Kapitalismus sind. Sie sind zugleich Formen der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit und mit ihren konkreten Richtungen und Qualitäten einschließlich spezifischer Strukturveränderungen damit Ausdruck der Vergesellschaftung im internationalen Rahmen. Dringender als je zuvor fordert das den Staat heraus - und zwar in zweierlei Richtungen. Zum einen sind, um auf der Grundlage einer breitgefächerten Produktions-, Dienstleistungs-, Handels- und Finanzbasis nationale und internationale Märkte zur Sicherung der Profite zu beherrschen, verstärkt Staatsinterventionen zur Kapitalmobilisierung notwendig. Diese beinhalten die Absicherung der Konkurrenzfähigkeit der nach wie vor noch stark im Nationalstaat verankerten Konzerne über Förderung von Technologien, Reformierung der Ausbildung, Steuererleichterungen u.a. Zum anderen muß der Staat als entscheidende Institution zur Regulierung von politischen Interessen die „soziale Kohärenz“ herstellen, auf die die Wirtschaftsträger angewiesen sind, zumal das soziale Gefüge durch die rigorosen Umverteilungsprozesse zugunsten der Mächtigen im Umbruch ist. Staatliche Interventionen gewinnen deshalb an Bedeutung, da die inneren Strukturen und Bedingungen des Reproduktionsprozesses, wie Jörg Goldberg [4] schreibt, für die Konkurrenzfähigkeit der Nationalstaaten und „ihrer“ Kapitale entscheidender werden. Es liegt daher auf der Hand, daß die staatsmonopolistische Funktionsweise im heutigen Kapitalismus an Intensität zunimmt, aber zum großen Teil anders strukturiert ist als in früheren Zeiten der Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus. Es verändert sich die Gewichtung des Einsatzes staatlicher Mittel für die monopolistsche Reproduktion und es entstehen neue Formen des Zusammenwirkens zwischen Staat und Monopolen. 

Position und Struktur des Thyssen-Konzerns

Für die einzelnen „privaten“ großen Monopolverbände, die international agierenden Konzerne in der Gegenwart, hat die Nutzung staatlicher Potentiale zur Durchsetzung ihrer langfristigen Strategien spezifische Bedeutung. Sie verschafft ihnen Vorteile im harten Konkurrenzkampf und ermöglicht Positionen, mit denen sie wiederum Einfluß auf die Gestaltung staatlicher Politik, auf deren wirtschafts- und strukturpolitische Richtungen nehmen können. Je größer ihr Gewicht in der Wirtschaft eines Landes ist, desto stärker ist der Druck auf den Staat, ökonomische und außerökonomische Gewalt für die weitere Akkumulation ihres Kapitals, die Vergrößerung ihrer Herrschaftssphäre einzusetzen. Der Thyssen-Konzern ist dafür ein prägnantes Beispiel.

Die Thyssen AG, Düsseldorf, ist von der Eigentumsstruktur her privatkapitalistisch, wobei neben den Thyssen-Erben - vertreten durch die Fritz Thyssen Stiftung, Köln - vor allem die Commerzbank AG und die Allianz AG, aber auch die Deutsche und die Dresdner Bank bedeutenden Einfluß auf die Konzernpolitik haben. Der Thyssen-Konzern ist seit Jahrzehnten im deutschen Finanzkapital fest verankert und gehört mit der Entfaltung seiner Monopolherrschaft heute zu den mächtigsten der kapitalistischen Welt. Mit einem Umsatz von 22.258 Mio. Euro und 122.359 Beschäftigten nahm er im Jahre 1998 die 94. Stelle unter den hundert größten Industriekonzernen der Welt ein. In Europa ist er nach der Fusion mit dem Krupp-Konzern seit Anfang 1999 in der Eisen- und Stahlindustrie, im Maschinen- und Anlagenbau führend und nimmt unter den 500 größten westeuropäischen Industrie- und Dienstleistungskonzernen nunmehr mit 32.378 Mio. Euro und 184.800 Beschäftigten den 25. Platz ein. [5] Seine geschichtliche Entwicklung ist besonders eng verquickt mit der Herausbildung finanzkapitalistischer Strukturen in Deutschland, mit einem frühzeitigen Streben nach Machtpositionen auf nationaler und internationaler Ebene und einer historisch gewachsenen Liierung mit politisch-militärischen Kräften des deutschen Imperialismus.

Im letzten Viertel des 20.Jahrhunderts hat der Thyssen-Konzern sein Unternehmensprofil wesentlich gewandelt: Er ist vom bedeutendsten Stahlproduzenten auf dem europäischen Kontinent - eine Position, die er seit den 60er Jahren innehat - zu einem globalen Anbieter von Industrieprodukten und Dienstleistungen geworden, indem er seine Akkumulationsstrategie den neuen Bedingungen der Kapitalverwertung angepaßt hat. Die zahlreichen Firmenaufkäufe führten zu  einem bemerkenswerten Strukturwandel dieses Konzerns. Das war nicht nur mit einer Neuaufteilung der Märkte zwischen den traditionell führenden Konzernen der Eisen- und Stahlindustrie in Deutschland verbunden, sondern lief vor allem auf eine Neuordnung des gesamten monopolistischen Reproduktionsprozesses der Eisenschaffenden Industrie einschließlich seiner nachgelagerten und davon abhängigen Phasen hinaus. Es nimmt nicht Wunder, daß deshalb in der Liste der Tochtergesellschaften von Thyssen auch die Namen von Mannesmann, Klöckner, Krupp, Hoesch, Otto Wolff auftauchen. Die Umgruppierung in der monopolistischen Herrschaftsstruktur verschaffte dem Thyssen-Konzern eine weitaus größere Machtposition als den Vereinigten Stahlwerken zur Weimarer Zeit. [6]

Anlaß der Umstrukturierung war die Ende der 60er Jahre einsetzende Stahlkrise. Die Konzernführung wollte mit verwandten industriellen Aktivitäten und Dienstleistungen weitere Schwerpunkte neben dem Stahlgeschäft schaffen. Die Strategie des Konzerns orientierte dabei zugleich auf eine verstärkte Internationalisierung und auf eine größere Eigenständigkeit in der Expansion ihrer großen Geschäftsbereiche.

Den ersten wichtigen Schritt zu einer neuen Struktur mit Konzentration auf den Investitionsgüterbereich bildete 1976 der Erwerb der Rheinstahl AG - umbenannt in Thyssen Industrie AG - mit ihrer Herstellung von Aufzügen, Maschinenbau, Schienenfahrzeugen, Guß- und Umformtechnik. Fünf Jahre später erfolgte der Aufkauf des führenden Zulieferers der nordamerikanischen Automobilindustrie The Budd Company USA. In der laufenden internationalen Ergänzung dieser Konzernsäule sind der Erwerb der Aufzugsaktivitäten von Dover Corporation (USA), Marktführer für Hydraulik-Aufzüge in Nordamerika, im Jahre 1998 und die Übernahme von Giddings & Lewis, führender Hersteller von Werkzeugmaschinen in den USA, erwähnenswert.

Insgesamt umfaßt die Produktionspalette des Bereiches Fertigerzeugnisse ein breites Spektrum industrieller Anwendungen sowie kompletter Systemlösungen, darunter auch Spezialschiffe und Marinetechnologie, Verkehrs- und Energietechnik, Transferstraßen.  

Der Handelsbereich mit der Thyssen Handelsunion AG hat sich zu einem besonderen Schwerpunkt der neuen Konzernstruktur entwickelt. Die aus der Entflechtung der Vereinigten Stahlwerke 1954 ausgegründete Handelsunion wurde ursprünglich als Absatzorganisation für Thyssenstahl erworben. Inzwischen ist sie mit nahezu 600 Gesellschaften und Stützpunkten in Deutschland und 70 weiteren Ländern zu einem der großen Handels- und Dienstleistungshäuser am Weltmarkt geworden. Mit einem breitgefächerten Programm - von Bautechnik, Brennstoffen, Industriellen Dienstleistungen über Logistik, Projektmanagement bis zu Recycling und Werkstoffen - spielt der Bereich in der Expansionsstrategie für den Konzern eine erstrangige Rolle. Zu ihm zählen die Thyssen Rheinstahl Technik GmbH mit der Aufgabe der Herstellung von schlüsselfertigen Bauprojekten und Industrieanlagen, sowie die mit dem französischen Mineralölkonzern Elf Aquitaine betriebene gemeinsame Tochtergesellschaft Thyssen-Elf Oil GmbH, Hamburg, und auch ein sich erweiternder Sektor für Immobilien.

Der Stahlbereich von Thyssen ist nach wie vor eine der großen Säulen des Konzerns. Allerdings hat sich die Struktur dieses Bereichs seit den 70er Jahren gewandelt. Mit Blick auf die rigorose Konkurrenz am Stahlmarkt entschied die Konzernführung, „die traditionelle Thyssen-Linie eines integrierten Hüttenwerks mit Vollpropramm zu verlassen“ [7] . Das Produktionsprogramm wurde auf qualitativ anspruchsvolle Flachstahlprodukte umgestellt. Bereits 1970 hatte der Thyssen-Konzern mit der Mannesmann AG einen Austausch von Produktionskapazitäten vorgenommen. Er gab die Röhrenfertigung ab und übernahm deren Walzstahlproduktion. Die Stahl- und Edelstahlbereiche wurden als Kerngeschäft konzentriert und durch Aufkauf der Produktionskapazitäten anderer Eisen- und Stahlkonzerne erweitert. Den bisherigen Höhepunkt des Ausbaus dieses Bereiches bildet die Verschmelzung der Thyssen AG mit der Fried.Krupp AG Hoesch-Krupp zur Thyssen Krupp AG Ende 1998. Die zusammengeschlossenen Konzerne werden nunmehr umstrukturiert, von 23 Geschäftsfelder auf sechs Kerngebiete. In ihren Werbeannoncen präsentiert sich die Thyssen Krupp AG als innovativer Zulieferer der internationalen Automobilindustrie, als „Global player bei Qualitätsflachstahl“.

Eingeschlossen in dieses Gesamtprofil des Thyssen-Konzerns ist die Produktion von Rüstungsgütern wie Stahl, Kriegsschiffe und Panzer. Die leistungsfähigen Rüstungsproduktionskapazitäten sind auf eine Reihe zum Konzernbereich zählende Unternehmen verteilt, wie auf Thyssen Henschel GmbH oder die Thyssen Werften GmbH. Nach DaimlerChrysler gehört Thyssen zu den größten Rüstungskonzernen Deutschlands.

Im Ergebnis der Umprofilierung auf neue Produktions- und Geschäftsbereiche wird der Thyssen-Konzern von drei Säulen getragen, die im Jahre 1997/98 folgende Anteile am Gesamtumsatz der Konzernbereiche von 46, 7 Mrd. DM aufwiesen [8] :

-      Investitionsgüter und Verarbeitung 29,5 Prozent;

-      Handel und Dienstleistungen 37,3 Prozent;

-      Stahl 33,2 Prozent.

Der Umsatz zwischen diesen Bereichen machte in dem genannten Geschäftsjahr allein schon
3,2 Mrd. DM aus. Er verdeutlicht, daß ein bedeutender Teil des Reproduktionskreislaufes innerhalb dieses mächtigen Monopolgebildes vonstatten geht, gleichzeitig aber die Reproduktionskreisläufe der Volkswirtschaften vieler Länder tangiert. Das wird vor allem in dem hohen Internationalisierungsgrad deutlich. Anfang der 60er Jahre wies der Konzern 93 Gesellschaften in Westdeutschland auf, 30 im Ausland. Ende der 90er Jahre sind 324 Gesellschaften im Weltkonzernabschluß erfaßt. Sie realisieren bereits 56 Prozent ihres Umsatzes im Ausland. Er verteilt sich zu 23 Prozent auf die Länder der EU. Mit 22 Prozent des Gesamtumsatzes ist Nordamerika ein besonderer Schwerpunkt der Auslandsexpansion. Fast jeder dritte Mitarbeiter ist bei Thyssen in einer Auslandsgesellschaft des Konzerns beschäftigt. Insgesamt drückt sich die Expansion des Thyssen-Konzern in einem von 1978/79 bis 1997/98 gestiegenen Umsatz von
25,4 auf 43,5 Mrd. DM aus.

Thyssens Forderungskatalog an den Staat

Aufgrund der erreichten Position mit der Neuprofilierung seines Konzernbereiches gehört der Thyssen-Konzern zu den wenigen großen Monopolverbänden, die nicht nur vom  Staat das „Setzen von Rahmenbedingungen“ über verschiedene Maßnahmen staatlicher Wirtschaftspolitik wie Steuerpolitik, Subventionen und Exportförderung verlangen, sondern gezielt aufgrund ihrer Position vielfältige und ganz konkrete Forderungen zur Sicherung ihrer Profitinteressen gegenüber der Konkurrenz erheben und durchsetzen können. Die Formen der geforderten Staatsinterventionen sind generell abhängig von den Bedingungen der Kapitalverwertung.

So betrifft ein Forderungsbereich in der heutigen Zeit schneller wissenschaftlich-technologischer Entwicklung die Sicherung der Konkurrenzfähigkeit durch Unterstützung bei der Finanzierung von Forschung und Entwicklung von Hochtechnologiebereichen. Der Staat wird hier als Instrument zur Durchführung kostenaufwendiger und risokoreicher Produktionen zur Absicherung und Durchsetzung von Profitinteressen genutzt. Dabei spielt für die Großkonzerne die staatliche Unterstützung bei der Finanzierung der Projektforschung auf dem Gebiet moderner Schlüsseltechnologien eine bedeutende Rolle. Gerade sie hat bei Thyssen großes Gewicht. Der Aufwand betrug dafür im Jahre 1997/98 341 Mio. DM, und der Konzern drückt auf direkte dirigistische Maßnahmen des Staates zur Unterstützung dieser kostenaufwendigen vorgelagerten Reproduktionsphase. Überwiegend wird die Projektförderung in den Großkonzernen betrieben und deren Finanzierung zu einem bedeutenden Teil durch den Staat gefördert. Im Jahre 1995 erreichte die direkte Projektförderung der Wirtschaft durch den Bund an der gesamten direkten Projektförderung 32 Prozent [9] . Zu den Nutznießern zählt auch der Thyssen-Konzern. Thyssen-Krupp ist zum Beispiel neben Siemens und Adtranz einer der großen industriellen Partner im Transrapid-Konsortium. Nach der Absage des Bundes an den Bau der ersten Magnetschnellbahn-Strecke zwischen Hamburg und Berlin fordert das Unternehmen nun in einem Brief an die Bundesregierung und die Fraktionen des Bundestages eine Milliarde Mark aus der Staatskasse, um die Technologie des Magnetschwebezuges weiterentwickeln zu können und mit dem Geld ein Technologieprogramm für den Transrapid zu finanzieren [10] . Im Interesse dieser Konzerne hat auch die gegenwärtige Bundesregierung mit Chinas Ministerpräsidenten Zhu Rongji den Vertrag über eine Machbarkeitsstudie zum Bau einer 42 Kilometer langen Transrapid-Strecke in Shanghai abgeschlossen und die Übernahme der Kosten in Höhe von 1,6 Mio. DM zu zwei Dritteln zugesichert. Für das Großprojekt selbst hatte Anfang dieses Jahres Finanzminister Eichel bereits Geld in Aussicht gestellt. [11]

Ein andererer wichtiger Bereich sind für Thyssen Staatsinterventionen zu gesetzlichen  Ausnahmeregelungen und „Empfehlungen“ für den Export von Rüstungsgütern, denn der Export von Rüstungsgütern in Krisengebiete außerhalb der NATO-Grenzen ist verboten. Eine Sondererlaubnis kann nur der Bundessicherheitsrat erteilen. Deshalb zahlt Thyssen aus seinen Profiten in Erwartung weiterer, höherer Profite Millionen an Schmiergeldern an Mittelsmänner und Politiker, um Rüstungsgeschäfte zu realisieren. Für den Verkauf von 36 Fuchs-Panzern 1991 nach Saudi-Arabien mit einem Geschäftsvolumen von 446,4 Millionen Mark sollen nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft Augsburg 220 Millionen an Schmiergeldern und Provisionen geflossen sein. [12] Angesichts des im Mai diesen Jahres veröffentlichten Berichts der Wehrstruktur-Kommission forderte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) auch im Namen des Thyssen-Konzerns mehr Freiheiten beim Rüstungsexport. Durch „deutsche Sonderregelungen“ dürfe die Beteiligung deutscher Unternehmen an NATO-Rüstungsprogrammen nicht verhindert werden. [13]

Andere Forderungen betreffen die Regulierung sozialer Prozesse und Konflikte für den Machterhalt im Innern. Anfang 1994 verlangte der Vorsitzende des Aufsichtsrates der Thyssen AG, Heinz Kriwet, von der nordrhein-westfä­lischen Landesregierung „finanzielle Mittel zum sozialverträglichen Arbeitsplatz­abbau“ [14] bei einem zusätzlichen Personalabbau von 1250 zu den geplanten von 12000 Beschäftigten, für die keine Sozialpläne erstellt würden. Ein mit Steuermitteln gespeistes Auffangbecken in Form der Stahlstiftung Saarland sollte den Konzern durch die Übernahme der Kosten von Sozialplanverpflichtungen mit mehreren hundert Millionen Mark entlasten.

Alle genannten Anforderungen stehen im Zusammenhang mit der veränderten weltpolitischen und ökonomischen Lage und deren Wirkung auf die Konkurrenzbeziehungen zwischen den Großkonzernen und den führenden Industriestaaten. Der rigorose Konkurrenzkampf um Marktanteile und Profite hat sichtbare Konsequenzen für das Verhältnis von Staat und Monopolen. Der Staat unterliegt im Globalisierungsprozeß stärker als früher dem Druck der mächtigsten nach wie vor nationalgebundenen Monopole bei der Realisierung ihrer Expansionsstrategien. Deshalb gewinnt auch die Umverteilungsfunktion des Staates als inhärenter Bestandteil der Erweiterung monopolistischer Produktionsverhältnisse gegenüber dem Einsatz anderer Formen der staatsmonopolistischen Regulierung, wie z. B. dem Staatseigentum, an Gewicht.

Der Fall Leuna/Minol und Thyssen

Im Untersuchungsausschuß des Bundestages soll geklärt werden, inwieweit finanzielle Zuwendungen an Politiker der ehemaligen CDU-geführten Bundesregierung und sonstige Personen und Institutionen die politischen Entscheidungen zur Privatisierung bzw. zum Neubau der Erdölraffinerie in Leuna und der Veräußerung des Minol-Tankstellennetzes beeinflußt haben. 1992 war die Raffinerie Leuna in Sachsen-Anhalt an den französischen Erdölkonzern Elf Aquitaine verkauft worden, der versprach, 4,8 Milliarden Mark zu investieren. Elf erhielt dafür im Gegenzug 1,5 Milliarden Mark Subventionen sowie das lukrative Minol-Tankstellennetz in den neuen Bundesländern. Im Zusammenhang mit diesem Geschäft sollen mindestens 80 Millionen Mark Schmiergelder gezahlt worden und davon bis zu 13,5 Millionen Mark an die CDU gegangen sein.

Den Hintergrund für diesen Fall bildet die Art und Weise der Wiedervereinigung Deutschlands nach dem Zusammenbruch der DDR - als kapitalistische Restauration unter der direkten Einflußnahme und mit den traditionellen Machtinstitutionen des westdeutschen Finanzkapitals. Eine besondere Rolle spielte dabei die Treuhandanstalt als staatliche Institution, deren Führungspositionen die enge Interessenverfilzung von Staat und Großkapital widerspiegelten. Für die Nominierung aller dreier Präsidenten dieser Institution - Dr. Rainer Gohlke, Detlev Karsten Rohwedder und Birgit Breuel - waren wirtschaftspolitische Erfahrungen, enge Bindungen an Großkonzerne und zur Regierungsebene ausschlaggebende Kriterien. Die Aufsichtsratsposten der Treuhandunternehmen und der Treuhandholdings wurden bereits bei Gründung der THA mit Vertretern der westdeutschen Finanzoligarchie besetzt. Die von der Treuhandanstalt favorisierte Privatisierung der ostdeutschen Betriebe in kürzester Zeit lief deshalb als „flächendeckende Landnahme“ durch das westdeutsche Finanzkapital ab. Rund 80 Prozent der 13.815 Betriebe ging an das westdeutsche, 14 Prozent an ausländisches Kapital. Ostdeutsche Interessenten erwarben nur 6 Prozent der Betriebe.

Die Privatisierung der ostdeutschen Industrie war allerdings im Vergleich zur  sofortigen Okkupation des Banksystems und der Handelsbetriebe durch westdeutsche Großkonzerne ein langwieriger Prozeß. Sie war abhängig vom Zustand, der volkswirtschaftlichen und der konkurrenzmäßigen Bedeutung dieser Unternehmen. Während sogenannte „Perlen“ der Industrie schnell einen Käufer fanden, viele Unternehmen erworben wurden, um sie als Konkurrenten auszuschalten oder  Fördergelder abzukassieren und mit deren Immobilien zu spekulieren, gab es einige wenige volkswirtschaftlich und standortpolitisch wichtige Kombinate, deren Erhalt wegen der sozialen Sprengkraft für die herrschende Klasse  als Kern eines industriellen und weitgehend monostrukturierten Gebiets politisch erkannt, deren Verkauf an das Großkapital aber schwierig war. Dazu zählte der Chemiekomplex Leuna mit fast 30.000 Beschäftigten. Er war in der Grundchemie angesiedelt, in der es weltweit Überkapazitäten gab. Die große Altlastenproblematik dieses Gebietes, der Wegfall der Ostmärkte und die bisherige Abhängigkeit vom Rohöllieferanten Sowjetunion erschwerten zudem die Privatisierung. Anders sah es mit dem Bereich der Mineralölwirtschaft von Leuna aus, der zwar ein integraler Bestandteil des Kombinats war, aber ein geschlossenes System von der Rohstoffversorgung bis zum gewerblichen und privaten Endverbraucher darstellte. Besonders das Tankstellennetz von Minol mit seiner Monopolstellung in der DDR weckte nach Wegfall der innerdeutschen Grenzen die Profiterwartungen der Konzerne.

Nachdem Bundeskanzler Kohl um die Jahreswende 1990/1991 bereits eine politische Bestandsgarantieerklärung für Leuna abgegeben hatte, was ein starker Rückhalt bei der Privatisierung war [15] , entschied sich die THA - entgegen den sonstigen Gepflogenheiten der Zerstückelung von Kombinaten - für einen kombinierten Verkauf der bereits 1990 getrennten Bereiche der Chemie- und Mineralölwirtschaft, der Raffinerie Leuna mit der Minol Mineralölhandel AG. Den Zuschlag erhielt das TED-Konsortium - Thyssen Handel Berlin GmbH, die Société Nationale Elf Aquitaine (Elf) und die Deutsche SB-Kauf-AG (DSBK). Es gab noch andere Bewerber, aber die  Begünstigung von Elf durch die Treuhand stand im engen Zusammenhang mit der auf der internationalen Ebene der Politik aufgekommenen Kritik über die Bevorzugung westdeutscher Konzerne bei der Privatisierung und der dadurch beeinträchtigten Verschiebung der Wettbewerbskonstellation auf dem Weltmarkt. Die Nutzung der seit Jahrzehnten innerhalb der europäischen Integration gepflegten politischen Achse Paris - Bonn bei der gezielten Suche nach einem Investor für Leuna lag deshalb nahe und hat, wie der Wirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt vor dem 2. Untersuchungsausschuß der 13. Wahlperiode sagte [16] , mit Sicherheit in den Verhandlungen zwischen dem Bundeskanzler und Mitterand eine Rolle gespielt. Hinzu kam, daß es äußerst enge kapitalmäßige Beziehungen zwischen der deutschen und französischen Industrie gibt und sich in internationalen Konnexionen erfahrene Verbindungsleute aus Politik und Wirtschaft für diese Verhandlungen anboten.

Das als „Jahrhundertvertrag“ gefeierte Privatisierungsabkommen wurde mit dem Hauptvertrag zwischen der THA, der Leuna Werke AG und der Minol AG sowie Elf Aquitaine und der Thyssen Handel GmbH am 23. Juli 1992 unterzeichnet. Es war ein Koppel-Geschäft zwischen der Politik der Bundesregierung und der Sicherung von Wirtschaftsinteressen. Auf der politischen Seite ging es um internationale Akzeptanz der Vereinigungs- und Privatisierungspolitik, auf der wirtschaftlichen um die Durchsetzung der Interessen des Thyssen-Konzerns. Dieser ist mit dem französischen Mineralölkonzern durch die gemeinsame Tochtergesellschaft Thyssen-Elf Oil GmbH, Hamburg, verflochten, die aus dem Handel mit Rohöl, Mineralölprodukten und petrochemischen Erzeugnissen einen jährlichen Umsatz von 1.682 Mio. DM (1997/98) erzielt. Thyssen hat die im Vertrag ausgehandelten Bedingungen weitgehend bestimmt. Die THA verkaufte das für den Neubau der Raffinerie notwendige Gelände, die LKW-Verladestation, verschiedene Nebenanlagen der Altraffinerie und 100 Prozent der Anteile von Minol an das TED-Konsortium. Außerdem wurden eine 52,5 Prozent-Betei­li­gung an der Mineralöl-Verbundleitung (MVL) an die für den Neubau der Raffinerie gegründete Mitteldeutsche Erdöl-Raffinerie GmbH (MIDER) verkauft. Das TED-Konsortium verpflichtete sich zum Bau einer neuen Raffinerie mit einer Rohölverarbeitungskapazität von ca. zehn Mio. Tonnen/Jahr, Investitionen in Höhe von 4,3 Mrd. DM und der Schaffung von 2550 Arbeitsplätzen.

Darüber hinaus legte der Thyssen-Konzern seine spezifischen Interessen am Leuna-Komplex noch in einer geheimen Konsortialvereinbarung zwischen der Thyssen Handelsunion und Elf Aquitaine fest. Von ihr sollen weder der Treuhandvorstand noch der Elf-Verwaltungsrat Kenntnis gehabt haben. Nach diesem sog. Cooperation Agreement ist Thyssen dem Konsortium nur vorübergehend beigetreten, damit seine Tochtergesellschaft Rheinstahl Technik AG den Auftrag für den Bau der Raffinerie - ohne öffentliche Ausschreibung - erhält. Sie ist mit 40 Prozent an dem Milliardenprojekt beteiligt, für das zum großen Teil die Steuerzahler aufkommen. Die Thyssen Handelsunion selbst hat für ihren Ausstieg im Jahre 1994 die Bedingung vereinbart, daß sie bei Rückgabe ihres 33prozentigen Anteils an MIDER eine Entschädigung auf Basis des aktuellen „Substanzwertes“ erhält. Es soll sich dabei um eine Einmalzahlung von 126 Mio. DM sowie eine Provision von Elf, „eine Art Gewinnbeteiligung“, in Höhe von 55 Mio. DM gehandelt haben. Den Kapitalverwertungsinteressen von Thyssen wurde mit der Privatisierungspolitik der THA voll Rechnung getragen. Die Schmiergelder der Konzerne haben sich gelohnt.

Thyssen im politischen Herrschaftsmechanismus

Staatsintervention zu Gunsten der Kapitalverwertung hat zur Voraussetzung, daß die Verflechtung zwischen Großkonzernen und staatlichen Institutionen sowie politischen Gremien effektiv funktioniert. Die im Kapitalismus herrschen­de Finanzoligarchie hat deshalb zur Durchsetzung ihrer Interessen auf dem Gebiet der staatlichen Politik und über andere Gebiete des öffentlichen Lebens ein dichtes Netz gespannt. Über die verschiedensten Arten von Verbindungen kann der Staat in seinen Entscheidungen vom Großkapital beeinflußt werden.

Eine ausgeprägte Rolle spielt nach wie vor der Verbandslobbyismus. Zwar gibt es über die Anzahl der existierenden Interessenverbände keine genauen Daten, aber in der Wirtschaft sind es nach vor die großen Verbände der Industrie, d.h. der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT), welche die Interessen des Kapitals gegenüber staatlichen Machtpotentialen vertreten und durchsetzen. Das realisiert sich über persönliche Kontakte und Druck auf Minister und Staatssekretäre, vor allem über die Ministerialbürokratie. Verbandsvertreter wirken maßgebend in beratenden Ausschüssen, Beiräten und Arbeitskreisen bei den Ministerien mit. Struktur und Organisation von Interessen folgt recht genau den Besonderheiten der politischen Zuständigkeitsstruktur, wie Erwin K. Scheuch schreibt: „Auf Bundesebene steht im Vordergrund der Versuch, auf die Gesetzgebung Einfluß zu nehmen. Bei der Interessenvertretung gegenüber den Ländern geht es vorrangig um die Umsetzung solcher Gesetze und Verordnungen im Verwaltungsvollzug. Beispiel hierfür ist neben der Bildungspolitik auch der neue Bereich der Umweltpolitik.“ [17] Viele Forderungen der Verbände weisen deshalb bereits den Charakter von Gesetzesvorlagen auf.

In diesem Verbands-Mechanismus hat der Thyssen-Konzern seit je eine große Rolle gespielt. Hans-Günter Sohl z.B., seit 1953 Generaldirektor der August Thyssen Hütte AG., Duisburg, war von 1956 bis 1969 Vorsitzender des führenden Unternehmerverbandes der Eisen- und Stahlindustrie (Wirtschafts­vereini­gung Eisen- und Stahlindustrie) und übernahm 1972 die Funktion des Präsidenten des BDI. Gegenwärtig werden im BDI durch Gerhard Cromme, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Friedrich Krupp AG, und im BDA von Claus Hendricks als Vertreter von Thyssen wichtige Positionen belegt.

Nach wie vor realisieren sich Verbindungen zwischen Staat und Großkonzernen über einen wechselseitigen Personalaustausch zwischen Eliten der Wirtschaft und des Staates. Zeitgemäß sind vor allem „Kanzlerrunden“ und „Clubs“, in denen maßgebende Vertreter des Großkapitals Verbindungslinien zur Staatsführung unterhalten. Diese Verknüpfung staatlicher und privater Funktions­träger, Institutionen und Aktivitäten hat Tradition im deutschen Finanzkapital. Der Thyssen-Konzern kann hier an historische Gepflogenheiten anknüpfen. Gerade für den Ausbau der Machtposition dieses Konzerns waren die jahrzehntelangen personellen Beziehungen zum Staat von Bedeutung.

Als August Thyssen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den Stahlkonzern gründete, besaß er nicht nur die Kapitalmehrheit an der August Thyssen Hütte AG, sondern war auch Leiter des Konzerns und arrangierte die Verbindungen zu Banken, Wirtschaftsverbänden und staatlichen Institutionen selbst. Sein Sohn, Fritz Thyssen, war Mitglied im „Industrieclub“, dem exklusiven Treffpunkt der Ruhrmagnaten, vor denen Hitler am 27. Januar 1932 die Grundzüge seiner mit großem Beifall aufgenommenen Politik darlegte. Auf seinem Schloß in Landsberg wurden bereits einen  Tag später zwischen den Konzernherren von Rhein und Ruhr und den Vertretern der NSDAP Abmachungen getroffen. Die finanzielle Unterstützung der deutschen Finanzkapitalisten stammte u.a. aus den politischen Fonds des Vereins für die bergbaulichen Interessen und der Nordwestlichen Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, dem sogenannten „Ruhrschatz“. Daran war auch Fritz Thyssen beteiligt. [18]

Im weiteren Verlauf haben sich durch die fortschreitende Trennung von Kapitaleigentum und Kapitalverfügung bei den Großkonzernen in der personellen Zusammensetzung der Finanzoligarchie Veränderungen ergeben. Die Thyssen-Erben, versammelt in der Thyssen-Gruppe als einer der wichtigsten Finanzgruppen zur Zeit des zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit, verbleiben mehr im Hintergrund und lassen sich überwiegend vom Ausland her in diesen Aktivitäten durch Manager vertreten. Je nach ökonomischen und politischen Bedingungen werden die Konstellationen im Austausch der Eliten verändert. Festzustellen ist, daß die direkten Beziehungen des Großkapitals zur Politikern innerhalb des Mechanismen an Gewicht gewinnen. Der Austausch erfolgt jetzt auch unabhängig von der politischen Konstellation.

Der Thyssen-Konzern stellt sich auf derartig veränderte Bedingungen mit neuen, adäquaten Beziehungen zu den politischen Führungsgremien und zum Staatsapparat ein. Das erfolgt über verstärkte direkte Kontakte zum Staat, häufig über Angebote von Posten in Unternehmensinstitutionen. Der ehemalige Finanzminister von Nordrhein-Westfalen Heinz Schleußer saß seit März 1991 als „Arbeitnehmervertreter“ im Aufsichtsrat der Thyssen AG. Wolfgang Clement, wiedergewählter SPD-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, ist Anfang dieses Jahres mit Sitz und Stimme in das Kuratorium der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung berufen worden. Diese Stiftung hält als größter Einzelaktionär 16,8 Prozent des Kapitals am Stahlkonzern Thyssen Krupp und bestimmt damit die Geschicke des Konzerns. Die Berufung von Clement erfolgte, obgleich ihm als Ministerpräsidenden die Rechtsaufsicht über diese Institution obliegt. [19] Dieter Spethmann, von 1973 bis 1991 Vorsitzender des Aufsichtsrates der Thyssen AG und damit langjähriger Thyssen - Chef, wurde wiederum von Wolfgang Clement in seine Ehrenkommission geholt, die prüfen soll, „ob die Kabinettsmitglieder Nebentätigkeiten oder Mandate ausüben, die den Interessen des Landes abträglich sein könnten“ [20] .

Neue Verflechtungsbeziehungen zwischen Politik und Großkapital entwickeln sich im Kontext mit der gewachsenen Notwendigkeit von Problemlösungen für die Politik, bei denen das Großkapital seine Interessen wahren und stärker beachtet wissen will. Mit dem Strukturumbau des Thyssen-Konzerns zu einem internationalen Industrie- und Handelsunternehmen und seinen weiten Expansionsinteressen hat sich der Charakter des personellen Beziehungsgeflechts zu Wirtschaftsverbänden, Banken und staatlichen Institutionen verdichtet. Es werden vielfältige personelle Linien ausgenutzt, um die Teilhabe des Großkonzerns vor allem an staatstragenden Geschäften abzusichern. Unter diesem Aspekt ist auch der Einsatz von Walther Leisler Kiep - von 1971 bis 1992 Präsidiumsmitglied und Schatzmeister der CDU, zwischendurch (1976 bis 1980) auch Finanzminister in Niedersachsen - im Deal um die Auftragsvergabe des Baus der Leuna-Raffinerie an Elf-Aquitaine und damit für die Vergabe des Großauftrags für den Bau der Raffinerie an Thyssen zu sehen. Kiep hat sich in Briefen an Bundeskanzler Kohl für den Verkauf von Leuna an Elf eingesetzt. Die Millionenzahlung der Thyssen AG für die Vermittlung soll als Spende an die CDU, nicht an Kiep persönlich gegangen sein.

Die personelle Seite im Verflechtungsmechanismus

Von Bedeutung für den Einsatz dieses „unorthodoxen Vermittlers“ war ohne Zweifel der Fakt, daß Kiep einer der maßgebenden Vertreter der deutschen Hochfinanz ist, die sowohl in der Wirtschaft als auch in Politik stark engagiert sind und das staatsmonopolistische Geflecht mitgetragen und ausgebaut haben. Für seine Rolle im Zusammenwirken von Staat und Monopolen spielt die Pflege traditioneller Beziehungen in der mit dem Entstehen des deutschen Monopolkapitals herausgebildeten Finanzoligarchie eine Rolle. Dabei ist nicht von Bedeutung, daß ein Vorfahr von Walther Leisler Kiep, Jakob Leisler, von 1689 bis 1691 Gouverneur von New York war, sondern daß Walther Leisler Kiep aus dem „Rat der Götter“, dem Kern der eng versippten und verschwägerten Gründerfamilien der I.G. Farben [21] , hervorgegangen ist. Seine Mutter, Eugenie vom Rath, entstammte einer der - auch mit Otto von Bismarck befreundeten - Gründerfamilien der I.G. Farben. Seine Frau, Charlotte ter Meer, kommt ebenfalls aus diesem Kreis. [22] Der Vater, Louis Leisler-Kiep, Direktor der Hapag, Hamburg, und zuletzt Direktor der  Hamburger Landesbank, vertrat nach der Entflechtung der I.G. Farben die Gründerfamilie von Meister als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender in der im Dezember 1951 neugegründeten Farbwerke Hoechst AG vorm. Meister Lucius & Brüning, Frankfurt/M., einer der drei Nachfolgegesellschaften dieses Chemiemonopols.

Auch wenn es für politisches Handeln keine Sippenhaftung gibt, so kann doch aus derartigen familiären Verknüpfungen das „Insider- oder Herrschaftswissen“ über maßgebende Beziehungen genutzt werden. Zudem waren die I.G. Farben mit dem Eisen- und Stahlbereich über die Vereinigte Stahlwerke AG, Düsseldorf, auch kapitalmäßig verflochten. Die I.G. Farben waren zu 16 Prozent am Aktienkapital der Vereinigten Stahlwerke AG, dem 1926 gebildeten riesigen Stahlmonopol, beteiligt und kontrollierten die Rheinischen Stahlwerke. [23] Diese unterstanden auch nach der „Entflechtung“ der I.G Farben-Gruppe. Seit der Fusion mit der ATH im Jahre 1974 ist die Rheinstahl AG - heute Thyssen Industrie AG - eine der wichtigsten Säulen des Konzerns. Die Vermittlung des Auftrages für den Bau der neuen Leuna-Raffinerie durch Leisler Kiep hat dadurch eine reale Grundlage.

Den Söhnen derartiger Gründerfamilien von Großkonzernen, die sich mit Spenden auch Ehrentitel und Adelsprädikate erkauften, standen im übrigen die Türen des Staatsapparates weit offen. Bevorzugt wurde vor allem der diplomatische Dienst - wesentliche Voraussetzung für den Aufbau eines weitverzweigten internationalen Netzes der Großkonzerne. Nach dem zweiten Weltkrieg hielten Vertreter der Finanzoligarchie stärker als je zuvor auch Einzug in den Staatsapparat. Walther Leisler Kiep ist einer von ihnen, und es verwundert nicht, daß er aufgrund seiner Herkunft in vielen wirtschaftlichen und staatlichen Ämtern und finanzkapitalistischen Vereinigungen maßgebliche Positionen bekleidet hat und noch innehat. Er ist persönlich haftender Gesellschafter des Versicherungsunternehmens Gradmann & Holler, Frankfurt/M., und hat beim Leuna-Geschäft für seine Firma die Versicherung des Baus der Raffinerie übernehmen können. Seine Gesellschaft soll mit dem Investor Elf Aquitaine Betriebsrisiken-Versicherungspolicen in Millionenhöhe abgeschlossen haben. [24] Kiep sitzt im Beirat der Deutschen Bank und ist Vorsitzender des exclusiven Clubs der 1952 gegründeten Atlantik-Brücke e.V., einer Gesellschaft zur Pflege und zum Ausbau der deutsch-amerikanischen Beziehungen. In ihr sind noch andere Großindustrielle, wie Daimler-Chef Schrempp, namhafte Banker, wie Hilmar Kopper von der Deutschen Bank und die Spitzenpolitiker Volker Rühe, Rudolf Scharping, und neuerdings auch der frisch gekürte CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz zu finden. Diese Funktion Kieps ruht zur Zeit wegen der Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Steuerhinterziehung. Außerdem ist Kiep Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Bonn, und pflegt als Mitglied des International Advisory Board of Fuji-Wolfensohn, New York, die Kontakte zur Spitze des Weltfinanzkapitals. [25]

Daß der mächtige, überwiegend international tätige Thyssen-Konzern sich dieses auf der Ebene von Wirtschaft und Politik sowie international erfahrenen Mittelsmanns in seiner Expansionsstrategie bedient, liegt in der Entwicklung des Monopolkapitals begründet. Die Austauschbarkeit der Personen zwischen Wirtschaftsverbänden und Politik gewinnt an Dynamik und Flexibilität, weil der zunehmende gesellschaftliche Charakter des Kapitals immer stärker alle Ebenen der Politik zur Sicherung des Profitsystems ergreift.

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Die Sicht auf Position und Agieren des Thyssen-Konzerns gibt Einblick in ökonomisch-politische Zusammenhänge im heutigen Kapitalismus und in die Art und Weise, wie sich der Einfluss der Wirtschaft auf die Politik zur Absicherung des gesamten Reproduktionszyklus, erweiterter Aufgabengebiete und vor allem neuer Märkte für die großen Monopole realisiert. Parteispendenaffären und das gegenwärtig beklagte fehlende Rechtsbewußtsein bei Politikern verdeutlichen, daß Rechtsstaat und politische Demokratie nicht das bestimmende Element in dieser Gesellschaft sind. Die gegenwärtige ökonomische Machtkonzentration beim Großkapital drückt dem gesamten politischen Gefüge der Gesellschaft ihren besonderen Stempel auf. Alternativvorstellungen und -strategien haben es schwer, Gehör zu finden und sich in staatlich politisches Handeln umzusetzen. Ein realistisches Gesellschaftsbild kann helfen, den Widerstand gegen die Übermacht der mächtigen Konzerne zu stärken.

[1]    Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Drucksache 14/2139, vom 23.11.1999.

[2]    Hans Herbert von Arnim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, München 1996.

[3]    Heinz Jung, Deformierte Vergesellschaftung, Berlin und Frankfurt/M. 1986, S.53.

[4]    Jörg Goldberg, Das Pendel schwingt zurück, Ohne effizienten Staat keine Entwicklung, Blätter für deutsche und internationale Politik, Köln 4/98, S. 208ff.

[5]    Vgl. Michael Bonder, Thomas Student, Wem gehört was in Europa, Düsseldorf 2000; Wirtschaftswoche, Düsseldorf, Nr. 26/22.6.2000, S. 89.

[6]    Die Vereinigte Stahlwerke AG (Vestag), Düsseldorf, war 1926 als Bündnis der bedeutendesten Kohlegesellschaften, der Hütten- und Stahlwerke - darunter die Dortmund-Hörder Hüttenunion, die August Thyssen-Hütte, die Hüttenwerke Phoenix - sowie der Verarbeitung - mit der Rheinstahl-Union Maschinen- und Stahlbau AG - und des Handels - Handelsunion AG als Riesenkonzern gebildet worden. Sie konzentrierte rund 50 Prozent der gesamten Eisen- und Stahlproduktion und 22 Prozent der Ruhrkohleförderung auf sich. Vorsitzender des Aufsichtsrates wurde Fritz August Thyssen, Sohn des Firmengründers des Thyssen-Konzerns.

[7]    Geschäftsbericht 1997/98 der Thyssen AG,  Bericht des Vorstandes, S. 12.

[8]    Ebenda, S.19.

[9]    Bundesbericht Forschung 1996, v. 08.5.1996, Bundestag, Drucksache 13/4554, S. 96.

[10] Tagesspiegel, Berlin, vom 8.4. 2000.

[11] Financial Times Deutschland, Hamburg, vom 28.6.2000.

[12] Die Woche, Hamburg, vom 17. 12. 1999.

[13] Junge Welt, Berlin, vom 24.5.2000.

[14] Wirtschaftswoche, Düsseldorf, Nr. 4/21.1.1994.

[15] Abschlußbericht des 2. Untersuchungsausschusses der 13. Wahlperiode DDR-Vermögen, Zur Sache 3/ 98 Textband, Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/ 10900, S. 453.

[16] Ebenda, S. 454.

[17] Erwin K. Scheuch, Lobbyismus und Verbandswesen in unserem politischen System; in: Wirtschaftsdienst, Hamburg 2000/III, S. 147.

[18] Monopole und Staat in Westdeutschland, in: Deutsches Wirtschaftsinstitut, Bericht 20, S.12 und 13.

[19] Wirtschaftswoche, Düsseldorf, Nr. 9 vom 24.2.2000.

[20] Die Woche, Hamburg, vom 25.2.2000.

[21] Die I.G. Farben AG war 1925 aus dem endgültigen Zusammenschluß der acht bedeutendsten deutschen Chemiegesellschaften zum mächtigsten deutschen Chemietrust hervorgegangen.

[22] Bekanntlich war Fritz ter Meer, ihr Vater, als Mitglied des Zentralausschusses des Vorstandes der I.G., Leiter der Produktion der I.G. und „Wehrwirtschaftsführer“ zur Zeit des Faschismus in Deutschland, verantwortlich für den Bau des KZ der I.G. Farben bei Ausschwitz und einer der Hauptangeklagten im Nürnberger Prozeß im Mai 1947 gegen die I.G. Farben. Er war von einem amerikanischen Militärtribunal zu 7 Jahren Haft verurteilt worden, vorfristig entlassen und bald danach im Aufsichtsrat der Farbenfarbriken Bayer AG., Leverkusen, wiederzufinden. Vgl. Berichte des Deutschen Wirtschaftsinstituts, Berlin, Nr. 20 Oktober 1952, I.G. Farbenindustrie AG; Deutsches Wirtschaftsinstitut, Berlin, Bericht 11/12 Juni 1956, Die Repräsentanten des westdeutschen Finanzkapitals; Neue Deutsche Biographie, Berlin 1977, 16. Band S. 606f.

[23] Deutsches Wirtschaftsinstitut, Bericht 13, Zur Konzentration des Kapitals in Westdeutschland, Berlin, 1955, S. S.8.

[24] Die Macht, das Geld und der Gentleman, in : Stern, Hamburg, Heft 18/2000, S. 192.

[25] Vgl. Leitende Männer und Frauen der Wirtschaft, 1998 , Hoppenstedt, Darmstadt 1998.

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