Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 42, Juni 2000, 11. Jhrg
Eugen Faude

Kapitalistische Transformation in Rußland:
Stand und Perspektiven*


1. Die „Reformpolitik“ schwächte Rußlands weltwirtschaftliche Position

Während der Gütermarkt der Welt seit 1990 jährlich um ca. 5 Prozent wächst, hat sich im Gegensatz dazu das Bruttoinlandsprodukt Rußlands seit 1990 halbiert. Der Anteil Rußlands an der Weltwirtschaftsleistung ist dadurch von 2,46 Prozent im Jahre 1989 auf 0,81 Prozent im Jahre 1998 gesunken. Sein weltwirtschaftliches Gewicht ist innerhalb von nur neun Jahren um zwei Drittel geschrumpft. Würde man bei der Umrechnung des russischen Bruttoinlandsprodukts in US-Dollar den seit Ausbruch der russischen Finanzkrise abgestürzten Rubelkurs von 24 Rubel je Dollar zugrunde legen, dann betrüge der Anteil Rußlands an der Wirtschaftsleistung der Welt sogar nur noch 0,36 Prozent [1] .               

Rußland ist nach einem langen Zerfallsprozeß als Supermacht von der Weltbühne abgetreten. Sein Absinken zu einer mittleren oder fast schon zweitrangigen Wirtschaftsmacht ist damit verbunden, daß es finanziell und auch politisch zu einem vom kapitalistischen Ausland abhängigen Staat geworden ist.

Das Ausmaß der andauernden Wirtschaftskrise hat verheerende Auswirkungen auf alle Bereiche der russischen Gesellschaft. Sie bringt aber auch für die internationale Staatenwelt Gefährdungen mit sich. Rußland ist zu einem Faktor wachsender Instabilität in der Weltwirtschaft geworden. Die inneren Widersprüche des größten Flächenstaates der Erde verkörpern zugleich ein beträchtliches weltpolitisches Krisenpotential. Dies um so mehr als Rußland nach wie vor die zweitstärkste Atomwaffenmacht der Welt ist.

Die wirtschaftliche Gesundung Rußlands ist zu einem vordringlichen Erfordernis für die stabile Entwicklung sowohl der russischen Gesellschaft als auch der internationalen Staatenwelt geworden. Eine Demütigung oder gar Isolierung Rußlands (wie z.B. im Zusammenhang mit der Osterweiterung der NATO und dem Krieg im Kosovo bereits geschehen) könnte demgegenüber zur Destabilisierung der Weltentwicklung und zur weiteren Beeinträchtigung der kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Umgestaltung Rußlands führen.

Die Dringlichkeit einer engeren wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit der entwickelten kapitalistischen Länder mit Rußland wird in jüngster Zeit durch die im August 1998 offen ausgebrochene russische Finanz- und Währungskrise unterstrichen.

2. Wachsende Liquiditätslücke im realen Wirtschaftssektor

Die Ursache der Finanz- und Währungskrise Rußlands wurde in der Presse und in der Fachliteratur zumeist mit den hohen Budgetdefiziten des Staates gesehen, die sich über viele Jahre hinweg akkumuliert haben, aber auch in der spezifischen, auf die Ausgabe von hochverzinslichen Staatsschuldpapieren beruhenden Finanzierungsmethode dieser Defizite.

Dies sind jedoch nur oberflächliche Erklärungsmuster, denn das permanent wachsende Budgetdefizit ist kein autonomes Phänomen. Es ist selbst erklärungsbedürftig. Der Kern der Finanzkrise Rußlands ist die außerordentlich hohe Liquiditätslücke in den Unternehmen des sog. realen Wirtschaftssektors. Nach offiziellen Angaben werden bereits über 75 Prozent aller Geschäfts-transaktionen im realen Sektor der Wirtschaft ohne Inanspruchnahme von Geld getätigt. Charakteristisch ist die gegenseitige Verschuldung der Unternehmen, die Anwendung des Barterhandels und z.T. auch die Nutzung von regionalen Geldsurrogaten. Diese Demonetisierung der Wirtschaft hat nicht nur gewaltige Transaktionskosten zur Folge, sondern sie hemmt das gesamte Wirtschaftswachstum und beeinträchtigt auch erheblich die Steuererhebung. Es ist für den Staat kaum möglich, Steuern auf Gewinne einzutreiben, die nur in Form von unbezahlten Rechnungen existieren.

Mit anderen Worten: Das Staatsdefizit kann nur überwunden werden, wenn die Finanzierungslücke in der realen Ökonomie beseitigt wird. Schwieriger zu erklären ist aber die Ursache der weitgehend fehlenden  Finanzliquidität der Unternehmen. Viele russische Politiker und Ökonomen meinen, daß die Ursache der Demonetisierung die unzureichende Geldzufuhr für die Wirtschaft sei. So wird zum Beispiel darauf verwiesen, daß die umlaufende Geldmenge (M2-Aggregat im Verhältnis zum BIP) in Rußland sehr viel niedriger ist als in den OECD-Ländern. Auf einem im Oktober 1998 bei der Weltbank durchgeführten Meeting über die Ursachen und Konsequenzen der russischen Finanz- und Währungskrise - hieran nahmen hochrangige russische Ökonomen sowie Rußlandexperten des IWF und der Weltbank teil - wurde z.B. von einer Gruppe von Ökonomen vorgeschlagen, den russischen Krisenkreislauf durch eine angemessene Geldzufuhr und Nachfragestimulierung zu durchbrechen. Dem wurde von anderen Ökonomen mit Recht entgegengesetzt, daß eine Geldzufuhr und Nachfragestimulierung bei der gegenwärtigen Struktur und Verfaßtheit der russischen Wirtschaft vermutlich nur zu einer höheren Inflation mit all ihren Unwägbarkeiten führen würde.

Tatsächlich kann die Demonetisierung der russischen Wirtschaft nicht einfach als Anpassungsreaktion der Unternehmen an eine unzureichende Geldzufuhr definiert werden. In Wirklichkeit resultiert sie in hohem Maße aus der völlig unzureichenden Versorgung der Unternehmen mit Krediten [2] . Dies ist aber wiederum Ergebnis des extrem hohen Niveaus der russischen Realzinsen. Speziell die erzielbaren hohen Zinsen auf dem russischen Anleihemarkt haben dazu geführt, daß das Geld aus dem realen Sektor in den Finanzsektor abfloß und daß die Banken kaum jemals Bereitschaft zeigten, Kredite für Investitionen in der Realwirtschaft bereitzustellen. Investitionen in staatliche Schuldpapiere erbrachten eine mehrfach höhere Rendite als Investitionen in der Produktionssphäre.

Eine Erhöhung der Geldzufuhr würde unter diesen Bedingungen an der Demonetisierung der Realwirtschaft nicht viel ändern, sondern lediglich die Spielräume für spekulative Wertpapiergeschäfte erweitern. Die Überwindung des überhöhten Niveaus der Realzinsen würde vermutlich für Rußland dagegen auch das Problem der sinkenden Realinvestitionen und auch das Problem des fehlenden Wirtschaftswachstums einer Lösung näher bringen. Dies aber wirft zugleich die Frage nach der Überwindung aller Anomalien der derzeitigen russischen Marktwirtschaft und vor allem die Frage nach den Voraussetzungen für eine generelle Umsatz- und Gewinnsteigerung bei den Unternehmen des realen Sektors auf. Es geht also um die Beurteilung der russischen Wirtschaftsreform insgesamt und damit auch der Politik der außenwirtschaftlichen Öffnung.

3. Neoliberale Strategien: Die Hauptursache der russischen Dauerkrise

Rußlands Wirtschaft befindet sich seit Beginn der Transformations- und Öffnungspolitik auf Abwärtskurs. Rußland ist faktisch bankrott und weitgehend auf den goodwill der hochentwickelten kapitalistischen Länder angewiesen. Bei der Analyse dieser krisenhaften Entwicklung konzentrieren sich die dazu erfolgten Publikationen fast ausschließlich auf einzelne Fehler und Versäumnisse der letzten Jahre. Dem Beginn und dem Gesamtverlauf des Übergangs von der staatssozialistischen Plan- zur kapitalistischen Marktwirtschaft in Rußland wird dabei viel zu wenig Beachtung geschenkt. In Wirklichkeit geht es nicht um einzelne Fehler  und Unzulänglichkeiten beim Transformationsprozeß. Die Ursache der inzwischen schon permanenten russischen Krise besteht darin, daß der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft völlig konzeptionslos und gleichzeitig mit großer Radikalität vollzogen wurde, wobei die in Rußland vorherrschenden Bedingungen und Voraussetzungen weitgehend unberücksichtigt blieben.

Die Oberhand gewannen die sogenannten Radikalreformer, die die Meinung vertraten, die Erfahrungen und Modelle der hochentwickelten kapitalistischen Länder könnten in kürzester Zeit auch in Rußland umgesetzt werden. Sie propagierten eine schnelle und radikale Einführung der Marktwirtschaft und versprachen eine rasche Teilhabe an den Errungenschaften der westlichen Zivilisation, darin eingeschlossen eine entsprechende Steigerung  des Wohlstands und des Konsumtionsniveaus für die Bevölkerung. Auch die entwickelten kapitalistischen Länder selbst übten massiven Einfluß in Richtung einer raschen und radikalen marktwirtschaftlichen Reform aus. Politischer Druck verband sich mit großzügigen finanziellen Hilfsangeboten, umfangreichen ungebundenen Krediten sowie mit der Entsendung einer ganzen Armee von Beratern.

Die Verfechter eines schnellen und radikalen Übergangs zur kapitalistischen Marktwirtschaft übersahen jedoch, daß gerade in der Sowjetunion, wie in keinem anderen staatssozialistischem Land, eine längere Zeitspanne benötigt wird, um eine einigermaßen erfolgreiche Marktwirtschaft aufzubauen. Statt realistischer Analysen dominierte der Glaube an die Allmacht des Marktes. Die Hoffnung, daß der Markt, wenn er Fuß gefaßt hat, sich selbst und die ganze Wirtschaft effizient regulieren werde, hat sich im Verlaufe des Transformationsprozesses jedoch sehr bald als Illusion erwiesen.

Die undurchdachten und deshalb gescheiterten marktwirtschaftlichen Umgestaltungen unter Gorbatschow, die völlig überstürzte Auflösung des RGW, der mit der putschartigen Beseitigung der UdSSR verbundene Zerfall des arbeitsteilig hochspezialisierten sowjetischen Wirtschaftsraumes [3] , die Hast der Jelzin-Administration bei der völligen Liberalisierung der Außenwirtschaftsbeziehungen sowie die chaotisch organisierte Privatisierung der Staatsunternehmen, die mit einem gigantischen Diebstahl von Staatseigentum verbunden war, führten in Rußland zu massiven volkswirtschaftlichen, sozialen und politischen Fehlentwicklungen. Daran konnten später getroffene halbherzige Korrekturen kaum noch wesentliches ändern. Es gab kein stimmiges Konzept für die per Dekret angewiesene „Einführung marktwirtschaftlicher Methoden“, und es gab auch keine ernsthaften Anstrengungen zur Schaffung eines modernen Rechtsstaates. Die Regierung ging von der eindeutigen politischen Position aus, daß keine Notwendigkeit für eine staatliche Strukturpolitik bestehe. Der Staat dürfe sich nicht in die Wirtschaft einmischen.

In Rußland wurde mangels eigener Konzeptionen letztlich eine neoliberale Strategie verfolgt, wie sie speziell von den USA weltweit propagiert wird. Danach erbringe die Wirtschaft und der Handel nur dann beste Ergebnisse, wenn diese den Eingriffen des Staates entzogen würden. Deregulierung im Innern und Liberalisierung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Staaten - dieses Modell bringe angeblich allen Ländern, allen Menschen und damit der ganzen Weltgemeinschaft den größten Nutzen.

Diese neoliberale Rhetorik steht jedoch weitgehend im Widerspruch zur eigenen Praxis der amerikanischen Wirtschaftspolitik. Tatsächlich hat sich die außenwirtschaftliche Liberalisierung  für die USA nicht ausgezahlt. In den 70er Jahren legten die USA mit ihrer Politik der offenen Tür den Grundstein für einen deutlichen Niedergang. Die Handelsbilanz verschlechterte sich stetig. Das Verhältnis zwischen dem Abfluß und dem Zufluß von Gewinnen aus internationalen Investitionen entwickelte sich zuungunsten der USA. Die Produktivitätsentwicklung verlangsamte sich im Vergleich zu anderen hochentwickelten kapitalistischen Industrieländern, und in bezug auf wissenschaftlich-technische Innovationen wurden die USA immer deutlicher von Japan übertroffen. Diese Tendenzen des Niedergangs wurden erst dadurch gestoppt, daß der Staat der USA seit Mitte der 80er Jahre sehr aktiv in das Wirtschaftsgeschehen eingreift. Die Staatsorgane vermochten der amerikanischen Wirtschaft ähnliche Wachstumsimpulse zu geben, wie sie bis dahin für die gelenkten Wettbewerbswirtschaften Japans und der sogenannten asiatischen Tiger kennzeichnend waren. Für die USA erweist sich somit die gezielte staatliche Politik zur massiven Subventionierung von Forschung und Entwicklung, zur Modernisierung der Struktur der Produktion, zur Exportsteigerung und zum Schutz der eigenen Wirtschaft als sehr effektiv. Ebenso nützlich für die überlegene amerikanische Wirtschaft ist aber auch die massive Verbreitung und aktive Durchsetzung ihrer Liberalisierungsdoktrin. Sie ist eine wirksame Waffe für die weltweite Erschließung ausländischer Märkte für die amerikanischen Unternehmen und das amerikanische Finanzkapital.

4. Die undifferenzierte Öffnungspolitik zerstörte die nationale Produktion

Die Abkapselung von der Weltwirtschaft war eine entscheidende Ursache für die Ineffizienz und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der sowjetischen Wirtschaft. Die Öffnung der Volkswirtschaft gegenüber den Weltmärkten gehörte daher zu den wichtigsten Maßnahmen bei der kapitalistischen Transformation in Rußland.

Die außenwirtschaftliche Öffnung ist nicht an privatwirtschaftliche Verhältnisse gebunden und konnte daher schon zu Beginn des Transformationsprozesses in Angriff genommen werden. Zielstellung war dabei, schrittweise den inneren Wirtschaftskreislauf des Landes mit dem Weltmarkt unmittelbar zu verbinden und die administrative, organisatorische, ökonomische und monetäre Verselbständigung der Außenwirtschaftssphäre zu überwinden.

Die Öffnung der Volkswirtschaft wurde im neuen Rußland als entscheidende Impulsgeberin für den gesamten marktwirtschaftlichen Umgestaltungsprozeß angesehen. Sie wurde - auch unter dem Druck der entwickelten kapitalistischen Länder - mit großer Konsequenz durchgesetzt. Bereits seit Mitte der 90er Jahre gehört Rußland zu jenen wenigen Ländern, die den Handels-, Geld- und Kapitalverkehr mit dem Ausland praktisch vollständig liberalisiert haben. Daß die außenwirtschaftliche Öffnung nicht nur Chancen und Vorteile, sondern auch große Gefahren und Risiken mit sich bringt, wurde weitgehend verdrängt.

Die Freigabe des Außenhandels und der Preise führte schnell zu  einem nie gekannten Angebot an Importwaren, wodurch die einheimischen Produzenten, die zumeist nicht konkurrenzfähig waren, vom Markt verdrängt wurden. In besonderem Maße betraf dies die russische Konsumgüterproduktion und den Maschinenbau. Die Erwartungen hinsichtlich einer raschen Anpassung der Produktion an die durch die Konkurrenz gesetzten Maßstäbe wurden demgegenüber jedoch nicht erfüllt.

Schwerwiegende Auswirkungen hatte auch die überstürzt eingeführte Konvertierbarkeit des Rubels. Die sehr instabile Lage des Landes veranlaßte Geschäftsleute, ihre enormen Gewinne sicherheitshalber bei ausländischen Banken zu deponieren oder in Form von Immobilien und Wertpapieren im kapitalistischen Ausland anzulegen. Durch die hohe Kapitalflucht wurde Rußland zu einem wichtigen Geldgeber für die dortigen Banken.

Die radikale Liberalisierung von Handel und Kapitalverkehr begünstigte auch die Entstehung einer außergewöhnlich spekulativen Art des Kapitalismus in Rußland. Die „neuen Russen“ bereicherten sich zum Beispiel am Staat, indem sie dessen Haushaltslöcher mit im Ausland billig geborgtem Geld finanzierten und Staatsobligationen kauften. Um die extrem hohen Zinsen für Staatsschuldpapiere zu nutzen, floß zunehmend auch ausländisches „heißes Geld“ in den russischen Kapitalmarkt. Es entwickelte sich eine Spekulationspyramide, in der der Staat seinen zunehmenden Finanzbedarf - insbesondere seine sprunghaft wachsende Schuldendienstverpflichtungen - durch immer neue, immer höher verzinste Schuldenaufnahmen finanzierte, bis er schließlich nicht mehr in der Lage war, die Schuldenpapiere ordnungsgemäß zu bedienen. Auch die russischen Banken konnten nun ihre Devisenkredite an die ausländischen Finanzinstitute nicht mehr zurückzahlen. Der drastische Fall des Rubelkurses verteuerte zudem diese Devisenkredite um ein Mehrfaches, so daß zahlreiche russische Banken zahlungsunfähig wurden. Der Staat mußte hinsichtlich des Rückkaufs seiner Schuldpapiere ein Moratorium aussprechen. Sein Kreditstanding verschlechterte sich radikal, und das ausländische Kapital zog sich noch stärker aus Rußland zurück.

Hintergrund dieser Entwicklung war dabei die Ende 1997 ausgebrochene asiatische Finanzkrise. Die Weltnachfrage nach Erdöl und anderen Energieträgern und damit auch die russischen Erlöse aus dem Energieträgerexport ging drastisch zurück und auch das „heiße Geld“ floß panikartig aus den Emerging Markets ab.

Eine neue Lage entstand für den russischen Binnenmarkt. Durch den raschen Verfall des Rubelkurses trat eine starke Verteuerung der Importwaren ein. Inländische Anbieter erlangten wieder größere Absatzchancen. Das Importvolumen Rußlands ging seit Oktober 1998 drastisch zurück.

Die Erfahrungen Rußlands mit der Öffnung der Wirtschaft bestätigen die auch in Asien und Lateinamerika gewonnene Erkenntnis, daß das Modell einer uneingeschränkten Öffnung des Marktes als Instrument der Entwicklung ungeeignet ist. Wer nur über wettbewerbsschwache Unternehmen verfügt und diese dennoch der Weltkonkurrenz völlig ungeschützt gegenüberstellt, bewirkt letztlich ihren möglichen Untergang. Genau dies geschah in Rußland. Die russischen Betriebe wurden einem Wettbewerb ausgesetzt, in dem sie in der Regel von vornherein wenig Chancen hatten. Die rückständige Wirtschaft, die durch den Systemzusammenbruch zusätzlich sehr geschwächt war, das Fehlen jeglicher marktwirtschaftlicher Erfahrungen, usw. boten im harten internationalen Konkurrenzkampf kaum einen Rückhalt. Hinzu kam, daß sich in Rußland der Staat anstandslos aus der Verantwortung für das Wirtschaftsgeschehen zurückzog, während sich die kapitalistischen Staaten einer sehr massiven Industriepolitik zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft bedienen.

Eine Öffnungspolitik kann nur dann erfolgreich sein, wenn das betreffende Land Voraussetzungen schaffen kann, um den internationalen Wettbewerb weitgehend unbeschadet zu bestehen. Entscheidend ist dabei die Bereitschaft und Fähigkeit des Staates, ausländischen Geschäftspartnern und Investoren bestimmte Bedingungen vorzuschreiben, an die sie sich zur Wahrung der nationalen Interessen und zur Sicherung eines fairen Wettbewerbs zu halten haben. Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß eine zurückgebliebene Volkswirtschaft eine Öffnungspolitik betreiben müsste, die den Export maximal fördert, die inneren Akkumulationsquellen und Investitionsmöglichkeiten optimal entwickelt und zugleich ausreichenden Schutz für die eigene Industrie und Landwirtschaft gewährleistet.

Die krisenhafte Entwicklung in Rußland zwingt offensichtlich dazu, bestimmte schädliche Liberalisierungen zurückzunehmen und endlich eine wirksame staatliche Wirtschaftspolitik zu betreiben.

5. Die staatlichen Machtstrukturen wurden faktisch privatisiert

Die Wirtschaftswissenschaft hat die Bedeutung des Staates im Prozeß der Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft sehr lange vernachlässigt. Für Rußland, wo die herausragende und paternalistische Rolle des Staates, sein unbegrenzter Machtanspruch ein geschichtliches Kontinuum darstellte, hatte diese Vernachlässigung besonders negative Konsequenzen. In den anhand der neoklassischen Wirtschaftstheorie konstruierten makroökonomischen Modellen der Transformation spielte der Staat zumeist nur eine Rolle in seiner Eigenschaft als Fiskus, und wenn es hochkam, auch noch als Rahmensetzer für das Handeln der Unternehmen. Erst in jüngster Zeit wird in der Wirtschaftstheorie zunehmend akzeptiert, daß von der Funktionsfähigkeit und Handlungsbereitschaft des Staates der Erfolg des Transformationsprozesses in ausschlaggebender Weise abhängt.

Besonders der Vergleich des Verlaufs der Wirtschaftsreformen in China und Rußland macht die mögliche gegensätzliche Rolle staatlicher Strukturen offensichtlich. In China ist es der starke und aktive Staat, der für den großen Erfolg der Reform- und Öffnungspolitik maßgebend ist. Im Gegensatz dazu ist in Rußland ein Zerfall politischer Autorität und staatlicher Ordnung festzustellen, was mit der Unfähigkeit und Unwilligkeit der Staatsmacht verbunden ist, die Geschicke der Wirtschaft zum Positiven zu wenden.

Während die Schwäche der russischen Staatsmacht zu einem diffusen und unberechenbaren Risikofaktor für die Außenwelt geworden ist, bewirkt diese Schwäche im Innern Chaos und Niedergang. Da der Staat beispielsweise kaum noch für die Rechtssicherheit seiner Bürger sorgt, übernimmt zunehmend die Mafia eine Ordnungsfunktion. Die sogenannten Radikalreformer in Rußland meinten, daß sie mit der bloßen Privatisierung schon ausreichende Voraussetzungen für die Marktwirtschaft geschaffen hätten und nun auf jegliche Einmischung des Staates in die Wirtschaft verzichten könnten. Mit dem Abbau von staatlicher Ordnung und Einflußnahme entwickelten sich aber alternative Machtstrukturen. Sie haben zwar teilweise für die Durchsetzung des Haftungsprinzips in der Wirtschaft gesorgt, aber gleichzeitig eine breite Kriminalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft bewirkt. Der Staat ist dabei in Wirklichkeit keineswegs aus dem Wirtschaftsleben herausgetreten, aber er hat seine positiven volkswirtschaftlichen Lenkungsmöglichkeiten weitgehend eingebüßt. Hauptursache hierfür ist die faktische Privatisierung des Staates durch Teile der Bürokratie, die auf das engste mit der aus der wilden Privatisierung hervorgegangenen Wirtschaftsoligarchie verflochten ist. Staatliche Entscheidungen zur Privatisierung, zur Preisregulierung, zur Verteilung von Export- und Importkontingenten, zur außenwirtschaftlichen Lizensierung, zum Zugang zu Devisen, zu staatlichen Geldflüssen usw. usf. wurden zunehmend zu Beschlüssen darüber, wer sich in Rußland staatlich sanktioniert bereichern kann. Der russische Staat spielte in diesem Zusammenhang nicht nur schlechthin eine passive Rolle in der Wirtschaft, sondern viele seiner Strukturen übten eine ausgesprochen disfunktionale Wirkung auf das Wirtschaftsgeschehen aus. Der Staat war nicht in der Lage, wirkliche Rechtssicherheit zu schaffen, er trug auch kaum dazu bei, die kleinen und mittleren Unternehmen als die tragenden Kräfte des wirtschaftlichen Wachstums wirksam zu fördern und noch weniger war er imstande, einen konstruktiven industriepolitischen Einfluß auf die Produktion und den Außenhandel zu nehmen.

Die Erfahrungen Chinas und Rußlands beweisen, daß für eine geordnete Transformations- und und Öffnungspolitik ein starker Staat erforderlich ist. Stark kann aber nur ein Staat sein, der Autorität erwirbt, Korruption bekämpft, Rechtssicherheit umfassend durchsetzt und vor allem für die wirtschaftliche Gesundung des Landes sorgt. Er muß als Ordnungsmacht und Gesetzgeber günstige Rahmenbedingungen für die Investitions- und Wirtschaftstätigkeit schaffen, er muß als Eigentümer gewaltiger staatlicher Vermögenswerte eine strenge Kontrolle über die Effizienz ihrer wirtschaftlichen Nutzung ausüben, und er muß als Wahrer gesamtgesellschaftlicher Interessen für den sozialen Zusammenhalt Sorge tragen. Es muß ein starker Staat sein, der aber auch hinsichtlich seiner Einflußnahme und Interventionsbereitschaft rückzugsbereit ist, sobald die Bedingungen hierfür herangereift sind.

6. Die extensive Ausweitung des Rohstoffexports verstärkt die Strukturmängel

Während fast alle Transformationsländer frühzeitig durch die Konkurrenz gezwungen waren, Strukturanpassungen in der Wirtschaft und im Außenhandel vorzunehmen, ging Rußland den „bequemen“ Weg einer extensiven Ausweitung der Rohstoffexporte. In diesem Bereich besaß Rußland komparative Kostenvorteile und große Ressourcen, so daß es Weltmarktkonkurrenz nicht zu fürchten brauchte. Das funktionierte zeitweilig ganz gut, und Rußland konnte auf diese Weise erhebliche Handelsbilanzüberschüsse erwirtschaften, mit deren Hilfe Staat und Wirtschaft trotz der russischen Dauerkrise mehr schlecht als recht überleben konnten. Die Modernisierung und der strukturelle Umbau der Wirtschaft blieben dabei jedoch weitgehend auf der Strecke. Resultat dieser Politik ist eine enorme Abhängigkeit des Landes vom Roh- und Brenn-
stoffexport. Der Anteil von Roh- und Brennstoffen am russischen Export hat inzwischen rund 50 Prozent erreicht. Rechnet man Rohwaren (Metalle und andere Erzeugnisse der ersten Verarbeitungsstufe) hinzu, dann sind es sogar über 70 Prozent.

Damit ist jedoch eine dynamische Ausweitung des Exports künftig kaum noch weiter möglich. Die Erweiterung der Rohstoffgewinnung stößt zunehmend auf natürliche und ökonomische Grenzen, und auch die dafür erforderlichen gewaltigen Investitionen sind kaum zu finanzieren. Hinzu kommen ökologische Probleme. Die bisherige Ausdehnung des Exports bei gleichzeitiger rückläufiger Produktion bewirkt zudem speziell bei Energierohstoffen eine zunehmende Unterversorgung des Binnenmarktes. Selbst bei effektiverem Energieeinsatz in der Volkswirtschaft dürfte die angestrebte Dynamisierung der Wirtschaft mit einem deutlichen Bedarfsanstieg bei den Energierohstoffen verbunden sein. Eher früher als später wird zugunsten des Inlandbedarfs sogar eine Reduzierung der Brennstoffexporte erfolgen müssen. Damit dürften auch die Bedienung des Schuldendienstes und die Sicherstellung der nötigsten Importe künftig schwieriger werden. Rußlands Dilemma lautet: Produktionswachstum ist dringend notwendig, aber dies bedeutet Schwächung der Exportbasis und damit der wichtigsten Finanzierungsquelle des Landes.

Insgesamt gesehen ist der Rohstoffreichtum Rußlands dem Lande kaum zum Segen geworden. Er hat das Land zu einem extensiven Typ des Wirtschaftens verführt und die Regierenden von einer energischen Modernisierungs-, Innovations- und Investitionspolitik abgehalten. Statt dessen wurde in der Hoffnung auf hohe Exportüberschüsse eine ausufernde Verschuldung nach außen und innen betrieben. Die Finanzierungslücken trieben dabei die Rohwarenexporte trotz deren sinkender Produktion immer mehr in die Höhe. Dies um so mehr, je ungünstiger sich die Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt entwickelten. Auf diese Weise wurde die traditionelle Rohstofflastigkeit von Produktion und Export im Rahmen der Transformations- und Öffnungspolitik der russischen Führung immer weiter verschärft. Die Wirtschaftspolitik konzentrierte sich immer mehr auf den Rohstoff-Brennstoff-Komplex, während die Rückstände in bezug auf die Wettbewerbs- und Absatzfähigkeit der Produktion in den verarbeitenden Zweigen der Industrie und der Nahrungsgüterwirtschaft immer größer wurden. Gleichzeitig nahm die Importabhängigkeit bei Fertigerzeugnissen und Nahrungsmitteln kolossal zu.

Das Beispiel Rußland verdeutlicht, daß sich eine Volkswirtschaft, die sich auf die Produktion und den Export von Rohstoffen stützt, kaum auf Dauer dynamisch entwickeln kann. Voraussetzung für eine langfristige dynamische Entwicklung ist unter den heutigen Bedingungen die zielgerichtete Schaffung von komparativen Vorteilen im intraindustriellen Handel - oder noch besser - in der High-tech-Produktion und im Dienstleistungshandel. Einen solchen Weg beschreitet zum Beispiel China. Sicher hätten durch eine kluge Wirtschaftspolitik die oben dargestellten Fehlentwicklungen einer einseitig auf den Roh- und Brennstoffexport orientierten Wirtschaft in Rußland durchaus vermieden werden können. Das hätte aber erfordert, die hohen Exporteinnahmen aus dem Roh- und Brennstoffexport - wie dies zum Beispiel in Norwegen geschieht - gezielt für eine umfassende Modernisierung und strukturelle Umgestaltung der Produktion, nicht aber, wie in Rußland geschehen, für den Fiskus zu verwenden. Tatsächlich ist in Rußland durch den Roh- und Brennstoffexport eine Modernisierung der Wirtschaft in keiner Weise induziert worden. Die hohen Devisenerlöse aus dem Roh- und Brennstoffexport wurden vorwiegend für die Haushaltsfinanzierung eingesetzt. Ein großer Teil der Exporterlöse floß außerdem auf Konten westlicher Banken, weil das schlechte Investitionsklima in Rußland zur Kapitalflucht veranlaßte. Zur Überwindung seiner Probleme braucht Rußland dringend eine strategisch angelegte Industrie- und Handelspolitik.

7. Die Rubelabwertung führte erstmals zu realer Produktionsbelebung

Die zukünftige Entwicklung der russischen Wirtschaft ist nur schwer zu prognostizieren. Unter der Voraussetzung, daß es in Rußland nicht zu einer in Moskau als sog. Mobilisierungsvariante bezeichneten Machtergreifung nationalistischer und diktatorischer Kräfte kommt, läuft die Entwicklung auf eine langsame Stabilisierung der ökonomischen Lage hinaus. Kurzfristige spektakuläre Erfolge wird es dabei kaum geben.

Die russische Finanz- und Währungskrise hat schwerwiegende Konsequenzen mit sich gebracht. Der Rubel verlor seit 1998 drei Viertel seines nominellen Wertes (äußere Kaufkraft). Unter Einrechnung der im Zeitraum August 1998 bis April 1999 um 100 Prozent gestiegenen Verbraucherpreise verlor der Rubel zugleich über die Hälfte seiner inneren Kaufkraft. Im ersten Quartal 1999 lag die Zahl der Arbeitslosen um 23,5 Prozent über dem Vorjahresstand. Die realen Geldeinnahmen der Bevölkerung sanken in gleicher Zeit um 26,2 Prozent. Der beschleunigte Inflationsprozeß war von einem realen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts für 1998 um 4,6 Prozent begleitet. Das internationale Kreditstanding Rußlands nahm eine extrem negative Entwicklung. Die Verschlechterung des Bonitätsindex für Rußland betrug im Zeitraum September 1998 bis März 1999 10,1 Punkte. Dies ist die größte Bonitätsverschlechterung, die je in der 20jährigen Geschichte der Institutional-Investor-Umfrage für ein Land ermittelt wurde. Rußland fiel in der Länderbonität vom 81. auf den 104. Platz zurück. Seine internationalen Zahlungsschwierigkeiten nahmen enorm zu.

Die Währungskrise schuf für die russischen Unternehmen aber zugleich auch wesentlich verbesserte Möglichkeiten, Importgüter mit eigenen Produkten vom Markt zu verdrängen. Das Importvolumen sank für den Zeitraum Januar bis Mai 1999 im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum um 46,9 Prozent. Gleichzeitig begünstigte die Rubelabwertung die exportierenden Unternehmen. Durch die starke Rubelabwertung erhöhte sich auch die Attraktivität ausländischer Investitionen in Rußland. Die russische Industrieproduktion stieg im Zeitraum Januar bis Mai 1999 im Vergleich zu entsprechenden Vorjahreszeitraum immerhin wieder um 1,5 Prozent.

Berücksichtigt man die in jüngster Zeit erneut sehr deutlich ansteigenden Erdölpreise im russischen Export sowie auch die wachsenden Gewinne der Unternehmen und auch die erstmals seit Jahren leicht zunehmenden Investitionen, so könnte man annehmen, daß sich eine leichte Aufwärtsentwicklung allmählich verfestigen wird. Das beginnende Wirtschaftswachstum ist jedoch noch sehr schwach. Als besonders problematisch erweist sich dabei die anhaltende Ausweitung der gegenseitigen Verschuldung und des Barterhandels zwischen den Unternehmen. Die Kreditschulden der Betriebe und Organisationen der Industrie (ohne Berücksichtigung des Kleinunternehmertums) erhöhten sich per 1. April 1999 auf einen Betrag, der die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Sie ist somit größer als die Jahresproduktion der gesamten russischen Industrie. Eine radikale Unterbindung des Systems der gegenseitigen Nichtbezahlung bzw. des Barterhandels und ein erzwungener Übergang zur sofortigen Geldverrechnung würde die Industrieproduktion um 60 bis 70 Prozent reduzieren und die Mehrzahl der Unternehmen zum Bankrott führen. Dies würde für Rußland eine Katastrophe bedeuten und ist daher indiskutabel.

Viel hängt von der Fähigkeit der Regierung ab, eine gegenseitige Entschuldung der Unternehmen in die Wege zu leiten, ihre Kreditversorgung wesentlich zu erleichtern, die Binnennachfrage zu fördern und die Investitionstätigkeit stark anzuregen. Die Tatsache, daß der Staat im Jahre 1998 seine Pacht- und Dividendeneinnahmen aus dem staatlichen Wirtschaftsvermögen im Vergleich zum Vorjahr von 0,58 Mrd. Rubel auf 3,1 Mrd. Rubel erhöhen konnte, weist darauf hin, daß die Regierung begonnen hat, für eine aktivere Kontrolle und Einflußnahme bezüglich der effektiveren Nutzung des staatlichen Eigentums Sorge zu tragen. Die bisher weitgehend versäumte Restrukturierung der im staatlichen oder gemischten Eigentum befindlichen Unternehmen steht nun mit größter Dringlichkeit auf der Tagesordnung.

8. Ein neuer Ansatz für die Wirtschaftsreform ist unumgänglich

Nachdem die bisherige Transformationsstrategie in Rußland gescheitert ist, geht es, da die Einleitung einer wie auch immer gearteten demokratisch-sozialistischen Alternative zur kapitalistischen Transformation nicht in Sicht ist, im Grunde genommen um einen Neubeginn. Es geht - der Logik der Sache nach - um eine marktwirtschaftliche Reform mit gradualistischem Muster, bei der sich die Politik vor allem auf die Nutzung der eigenen Kräfte und Ressourcen des Landes, auf die Stabilisierung und strukturelle Erneuerung der Produktionsbasis, auf die Stärkung der regulierenden Rolle des Staates im Sinne der technologischen Erneuerung der Wirtschaft sowie auf die Schaffung arbeitsfähiger marktwirtschaftlicher Institutionen und stabiler Rahmenbedingungen für die Tätigkeit der Unternehmen orientiert.

In diese Richtung deutet der im Dezember 1998 von der russischen Regierung ausgearbeitete „Plan der vorrangigen Aufgaben zur Stabilisierung der sozialökonomischen Lage“. Vorausgesetzt, daß die hochentwickelten kapitalistischen Länder Rußland nicht in der entstandenen Schuldenfalle versinken lassen und die gezielte Modernisierung und strukturelle Erneuerung der Produktion durch geeignete Investitionen und Projektfinanzierungen wirksam unterstützt, könnte so ein Anfang für einen neuen russischen Aufbruch gesetzt werden.

Grundelemente eines solchen „zweiten“ Reformprogramms müßten vor allem sein:

-      die Schaffung einer klaren Verantwortung und öffentlichen Informationspflicht für alle Ebenen der staatlichen Führungstätigkeit sowie für die Zentralbank;

-      die Durchsetzung des Rechtsstaates - insbesondere die verläßliche Durchsetzung der materiellen Verantwortlichkeit für Vertragsverletzungen, die Verwirklichung eines klaren Wettbewerbsrechts und die Schaffung stabiler Rechtsverhältnisse insgesamt - sowie die entschiedene Bekämpfung von Korruption und Mafiaaktivitäten;

-      die staatliche Förderung der Wirtschaft sowohl durch angebotspolitische als auch durch nachfrageschaffende Maßnahmen. Hierzu zählen vor allem verstärkte öffentliche Investitionen, wachsende Forschungs- und Entwicklungsaufträge, Modernisierung der Aus- und Weiterbildung und die wirksame Unterstützung von Unternehmensgründungen;

-      die Schaffung eines nach dem Standard der hochentwickelten kapitalistischen Länder gestalteten arbeitsfähigen Banksystems sowie einer entsprechenden staatlichen Bankenaufsicht. Ziel muß es sein, das zerstörte Vertrauen in das Bankensystem wiederherzustellen, die Banksicherheiten wesentlich zu erhöhen und die Verantwortung der Banken für den realen Sektor der Wirtschaft deutlich zu stärken;

-      die Restrukturierung aller unter Staatsbeteiligung geführten Unternehmen mit dem Ziel einer energischen Anpassung an die Marktentwicklung und die Herbeiführung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Erzeugnisse und Leistungen. Dabei könnten unter Umständen relativ unabhängige staatliche Holdinggesellschaften die staatlichen Eigentümerinteressen gegenüber den Unternehmen durchsetzen und eine maximal wirksame Finanzkontrolle zur Erhöhung der Renditen und Gewinnabführungen ausüben;

-      die rasche Überwindung der Demonetisierung der Wirtschaft, die dazu geführt hat, daß in Rußland eine absurde Marktwirtschaft ohne Geldwirtschaft entstanden ist. Die Kategorien der Marktwirtschaft wie Preis, Selbstkosten, Lohn, Erlös und Gewinn müssen real wirksam gemacht werden und nicht nur virtuell existieren;

-      die Verbindung der außenwirtschaftlichen Öffnung mit einer wirksamen staatlichen Regulierung der Außenwirtschaftsbeziehungen, die der nationalen Wirtschaft ausreichende Entwicklungsmöglichkeiten sichert, Finanzspekulationen einschränkt und Kapitalflucht unterbindet;

-      Die maximale Förderung des Zuflusses ausländischer Direktinvestitionen mit dem Ziel der strukturellen Modernisierung der Wirtschaft sowie des Aufbaus international wettbewerbsfähiger Unternehmen;

-      der Aufbau einer Sozialpolitik auf lokaler und regionaler Ebene und die Entlastung der Unternehmen von ihrer umfassenden sozialpolitischen Verantwortung für die Familien ihrer Mitarbeiter und für das Territorium;

-      die Sicherung eines ausgeglichenen Staatsbudgets einschließlich einer gerechten und zuverlässigen Steuererhebung.

Das Hauptproblem der russischen Wirtschaft ist die Tatsache, daß faktisch die gesamte zivile Produktion - mit Ausnahme der exportfähigen Brenn- und Rohstoffe - nicht international wettbewerbsfähig ist. Die Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit wird daher zum Hauptkriterium für den Erfolg der Wirtschaftsreformen werden müssen. Der Prozeß der betrieblichen Restrukturierung zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen steht auch im achten Jahr der russischen Wirtschaftstransformation noch weitgehend am Anfang.

9. Der Staat muß endlich ein aktiver Faktor der Stabilisierung werden

Zweifellos muß die russische Krise vor allem aus eigener Anstrengung überwunden werden. Wenn es richtig ist, daß die russische Krise im Kern eine Investitionskrise ist, die dadurch entsteht, daß die Risiken wirtschaftlicher Tätigkeit derartig hoch sind, daß auf legale Weise Renditen kaum zu erzielen sind, die ihre Übernahme rechtfertigen, dann müssen in erster Linie diese Risiken abgebaut werden. Hier zeigt sich aber, daß der russische Staat nicht nur ein sehr niedriges institutionelles Niveau bei der Bewältigung von Unsicherheit und Risiko verkörpert, sondern daß er selbst eine der bedeutendsten Quellen des Anwachsens von Unsicherheit ist. Die für die Wirtschaft entscheidenden öffentlichen Güter wie Rechtssicherheit, soziale Fürsorge, Förderung von Wissenschaft und Infrastruktur werden nicht bereitgestellt. Im Gegenteil produziert der Staat selbst durch Schaffung von rechtlicher Unsicherheit, Zahlungsunfähigkeit der Staatsorgane, Korruption der Beamten als Massenerscheinung usw. ein außerordentlich hohes wirtschaftliches Risikopotential. Dazu gehörte zum Beispiel auch die enorme Inanspruchnahme von volkswirtschaftlichen Ressourcen zur Abdeckung des Staatsdefizits mit Hilfe hochverzinster Staatsschuldpapiere, so daß der Staat auf dem Kapitalmarkt für die Kreditfinanzierung der Unternehmen kaum noch Mittel übrig ließ und somit Investitionen verhinderte. Die Bewältigung der russischen Krise wird gegenwärtig auch durch Mängel in der Verfassung des Landes erschwert. Hierzu gehört die verfassungsmäßig angelegte gegenseitige Blockade von Staatsduma, Regierung und Präsident ebenso wie die extensive Möglichkeit des Präsidenten, subjektivistische Entscheidungen zu treffen und ein autokratisches Regime zu praktizieren, in dem die guten Beziehungen zum Präsidenten stets den Ausschlag geben.

Die Verabsolutierung des Kampfes um den Machterhalt ist in Rußland gepaart mit der Verantwortungslosigkeit für die Wohlfahrt des Landes und seiner Bevölkerung. So wurde die Tatsache völlig ignoriert, daß die russischen Wirtschaftsubjekte bisher zumeist keine wirksamen Anpassungsschritte zur erfolgreichen Meisterung der veränderten Umstände seit 1990 unternommen haben. Der Staat hat sich auf den Rohstoffexport gestützt und es versäumt, die Unternehmen durch geeignete Rahmenbedingungen zu dieser Anpassungsleistung zu zwingen und zu befähigen. Dies hat Tradition in der russischen Geschichte. So lange es andere Möglichkeiten gibt, den Problemen auszuweichen, werden innovative Veränderungen des hergebrachten Handelns möglichst vermieden. Dies gilt übrigens ebenso bezüglich des Schuldenmachens.

Auch die bisherige umfangreiche Finanzhilfe des Auslands hatte kaum positive Effekte für den marktwirtschaftlichen Transformationsprozeß in Rußland. Die russischen Akteure kamen eher zu der Auffassung, daß internationales Geld dann verfügbar ist, wenn es gebraucht wird. Künftig sollte von ausländischen Geldgebern nicht schlechthin der Devisenhunger des russischen Staates immer neu befriedigt werden, sondern eine sehr sorgfältig gestaltete Ausweitung der technischen Hilfe sowie eine auf einen Investitionsboom ausgerichtete Kapitalhilfe organisiert werden. Hierzu gehört auch die weitere Einbindung Rußlands in die Strukturen und Mechanismen der Weltwirtschaft und speziell auch der Europäischen Union. Das 1997 unterzeichnete Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Rußland muß im Zusammenhang mit der Osterweiterung der EU weiter ausgebaut und mit neuen konkreten Projekten ausgefüllt werden. Hierzu könnte zum Beispiel ein Mandat für die Europäische Investitionsbank (EIB) gehören, sich für ein aktives Rußlandengagement zu öffnen. Außerdem sollten als erster Schritt zur Errichtung der vorgesehenen Freihandelszone die Chancen für russische Produkte verbessert werden, Zutritt zum europäischen Binnenmarkt zu erhalten. Auch eine Aufnahme Rußlands in einen erweiterten Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) wäre denkbar.

* Die vorliegenden Thesen fassen die Schlussfolgerungen einer vom Autor maßgeblich ausgearbeiteten Forschungsstudie zum Thema „Die Gestaltung der Offenheit - Wirtschaftliche Handlungsspielräume zur Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Russischen Föderation“ zusammen. Diese Studie ist zum Preis von 35,- DM zuzüglich Versandkosten zu erwerben beim Institut für Internationale Bildung Berlin Johann Heinrich von Thünen e.V., Großbeerenstraße 89, 10963 Berlin, Fax: 030/279 34 25.

[1]    Der internationale Vergleich des russischen Bruttoinlandsprodukts ist infolge der starken Abweichung zwischen der inneren und äußeren Kaufkraft des Rubels (Unterbewertung des Rubels im Rahmen des im kommerziellen Verkehr angewandten Wechselkurses zum Dollar im Vergleich zur Kaufkraftparität zwischen Rubel und Dollar) schwierig. Es kommt hinzu, daß die statistische Erfassung des Bruttoinlandsprodukts in Rußland mit großen Unwägbarkeiten verbunden ist. Obwohl z.B. der Anteil der Schattenwirtschaft von Experten mit 40 bis 50 Prozent eingeschätzt wird, wurde seitens der Statistischen Kommission Rußlands nur ein Anteil von 20 Prozent geschätzt und eingerechnet. Andererseits wird durch den extrem hohen Anteil von Bartergeschäften am Gesamtumsatz von Industrie, Handel und Landwirtschaft ein zu hoch bewerteter Umsatz erfaßt. Noch schwieriger wurde der internationale Vergleich nach der russischen Finanz- und Währungskrise vom August 1998. Im Zeitraum September bis November 1998 stieg der Rubelpreis des Dollars zweimal schneller als die inländische Inflation. Seitens der russischen Statistischen Kommission wurde für das Jahr 1996 das russische Bruttoinlandsprodukt umgerechnet zum offiziell gültigen Wechselkurs mit 406,2 Mrd. US-Dollar angegeben, jedoch bei Umrechnung nach Kaufkraftparitäten mit einer Billion US-Dollar. Nach Berechnungen der Weltbank betrug das russische Bruttoinlandsprodukt zu Kaufkraftparitäten 1996 jedoch nur 620 Mrd. US-Dollar. Es lag damit nach Brasilien und Mexiko an 11. Stelle in der Welt. Zum offiziellen Kurs berechnet ergab sich für 1996 ein Bruttoinlandsprodukt von nur 286 Mrd. US-Dollar. Das Verhältnis des Rubels zum Dollar bewertet zu Kaufkraftparitäten wurde von der Satistischen Kommission Rußlands seit dem offenen Ausbruch der Finanzkrise wie folgt angegeben: Für Dezember 1998: 4,6 Rubel je Dollar, für November: 4,1 Rubel je Dollar und für Oktober 3,9 Rubel je Dollar. Der gültige Wechselkurs bewegte sich dagegen um ein Austauschverhältnis von ca. 24 Rubel je Dollar (vgl. Ekonomika i zhisn, Nr. 21/1999).

[2]    Natürlich gibt es noch weitere Gründe. So verlor der russische Staat infolge der chaotisch verlaufenen Privatisierung des „Volkseigentums“ entscheidende Einnahmequellen, die auch nicht annähernd durch entsprechende Privatisierungserlöse ausgeglichen wurden. Vielmehr führte die Privatisierung faktisch zu einer unverdienten sozialen Rente für eine kleine Personengruppe, während der Staat sich zur Erfüllung seiner obligatorischen Funktionen sowohl im Inland als auch im Ausland massiv verschuldete. Die durch die Privatisierung Begünstigten konnten die Resultate der erfolgten Vermögensumverteilung für den Luxuskonsum, für Spekulationen oder die Kapitalflucht nutzen. Die durch Kapitalflucht bei ausländischen Finanzinstitutionen deponierten russischen Devisen übersteigen vermutlich um ein Mehrfaches die im Ausland aufgenommenen Devisenkredite des russischen Staates. Auf der anderen Seite ergab sich zugleich eine chronische Unterfinanzierung des Staatshaushaltes. Um diese äußerst negative Entwicklung in bestimmten Maße zu korrigieren, wäre es zweifellos angebracht, die übermäßigen Einkommen der neuen Eigentümer durch eine Art „Rentensteuer“ teiweise abzuschöpfen.
Ein anderer Aspekt des Problems ist auch die fehlende straffe Kontrolle des Staates über die effiziente Nutzung der ihm verbliebenen großen Staatsanteile in der Wirtschaft. Die fehlende Wahrnehmung der Eigentümerfunktion hat in den meisten großen Betrieben Rußlands entscheidend zur Beibehaltung einer verantwortungslosen, verlustbringenden  und am Alten ausgerichteten Arbeitsweise beigetragen. Eine weitere Ursache der Liquiditätslücke sind zweifellos auch die monopolistischen Produktionsstrukturen. Die Beibehaltung hoher monopolistischer Preise führte zu starken Einbußen beim Absatz und bei der Liquidität der betreffenden Unternehmen.

[3]    Die Auflösung des RGW führte zwischen 1990 und 1993 zu einem Rückgang des russischen Handels mit der ehemaligen RGW-Region (ohne Ostdeutschland) von ca. 70 Mrd. US-Dollar auf ca. 11 Mrd. Dollar. Durch die Auflösung der UdSSR sanken die Handelsumsätze Rußlands mit den anderen Republiken der ehemaligen UdSSR zwischen 1990 und 1992 von ca. 76 Mrd. Dollar auf nur noch 17 Mrd. Dollar.

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