|
Heft 42,
Juni 2000,
11. Jhrg
Editorial
Russland vollzieht gegenwärtig eine weltgeschichtliche Rolle rückwärts:
vom sozialistischen Gemeineigentum und der Planwirtschaft der Sowjetunion zurück
zu einer auf Privateigentum beruhenden kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft.
Dieser Fragenkomplex stellt den ersten Schwerpunkt im vorliegenden Heft dar, ein
Thema, das in unserer Zeitschrift bisher vernachlässigt wurde. In den Beiträgen
von Lutz Maier, Eugen Faude und Hansgeorg Conert wird eine erste Bilanz der kapitalistischen
Transformation der russischen Wirtschaft 1991-1999 gezogen. Gert Meyer untersucht
Hintergründe des Tschetschenien-Krieges. Die aktuelle Wirtschaftsentwicklung
Russlands wird auch im diesjährigen Weltwirtschafts- und Konjunkturbericht
von Hans-Joachim Höhme gestreift. Horst Hanke informiert in einem Kurzbeitrag
über die unterschiedlichen Wege der Privatisierung der Wirtschaft in Osteuropa.
Die Bilanz des russischen Krisenjahrzehnts sieht düster aus. Das Bruttoinlandsprodukt
hat sich seit 1990 halbiert. Der Anteil Russlands an der Weltwirtschaft ist von
ca. 2,5 auf unter ein Prozent gesunken. Die ehemalige Supermacht ist zu einer
zweitrangigen Wirtschaftsmacht und zu einem finanziell und politisch vom kapitalistischen
Ausland abhängigen Staat abgestiegen.
Lutz Maier konstatiert drei Etappen der kapitalistischen Transformation: Die Phase
der "Schocktherapie" 1992/93 unter Gaidar mit der abrupten Zerschlagung
des alten Wirtschaftsmechanismus, Aufhebung der Planauflagen, radikaler Preis-
und Außenwirtschaftsliberalisierung. Entscheidend war hier die neoliberal-monetaristische
Orientierung auf die Priorität der Geldwirtschaft. Diese Orientierung wurde
unter Tschernomyrdin (1993-1998) grundsätzlich beibehalten, wobei Abbremsen
der Inflation, Management des defizitären Staatshaushalts und der Auslandsverschuldung
im Mittelpunkt standen. Die Finanz- und Schuldenkrise 1998 - die von Hansgeorg
Conert gesondert untersuchte "Rubelkrise" - brachte Tschernomyrdins
politisches Ende und nach dem Zwischenspiel Kirijenko (März-August 1998)
mit Primakow (1998/99) den kurzfristigen Versuch, durch Stärkung der regulierenden
Rolle des Staates die Realwirtschaft wieder zu fördern. Heute hat sich, so
Maier, in Russland ungeachtet aller Besonderheiten ein Kapitalismus etabliert,
der in seinen Grundmechanismen als ein Kapitalismus "wie jeder andere"
zu betrachten ist.
Die Etappen, unterschiedlichen Methoden und Ergebnisse der Privatisierung des
gesellschaftlichen Eigentums werden in allen Beiträgen beleuchtet. Dabei
ist ein relativ schneller Übergang von der formalen Beteiligung der Bevölkerung
z.B.über unentgeltliche Belegschaftsaktien ("Voucher-Privatisierung")
zur Konzentration von Vermögenswerten bei Spekulanten, Großaktionären
und Banken und damit zur Herausbildung der herrschenden Oligarchie zu beobachten.
Der Staatsanteil an der Wirtschaft ist nach wie vor groß, jedoch nimmt der
Staat seine Eigentümerfunktion nicht wahr, so dass von einer "faktischen
Privatisierung des Staates" durch Bürokratie und Wirtschaftsoligarchie
gesprochen werden kann (Faude, 47). Der Staat hat von der Privatisierung nicht
profitiert, wohl aber seine wichtigste frühere Einnahmequelle (das Mehrprodukt
der Staatsbetriebe) verloren und zugleich unter heutigen Bedingungen kaum Möglichkeiten,
Steuern aus dem privatisierten Sektor einzutreiben. Die "Transformation"
stellt insofern einen gigantischen Umverteilungsprozess zugunsten der "neuen
Russen", der reichen Schichten, auf Kosten der Bevölkerung dar. Allein
die Bewältigung der Rubelkrise 98/99 führte, so Conert, noch einmal
zu einer Lohnsenkung um ein Drittel, zur Rentensenkung um die Hälfte und
zum Anstieg der Armutsquote auf über 35 Prozent.
Die bisherige "Transformationsstrategie" in Russland ist, gemessen an
ihren Wohlstands-Versprechungen, zweifellos gescheitert; ihre soziale Funktion
- Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, Etablierung einer neuen Oligarchie,
Durchsetzung privatkapitalistischer Produktionsverhältnisse - hat sie jedoch
erfüllt. Die Autoren der vorliegenden Beiträge gehen insgesamt implizit
oder explizit davon aus, dass eine demokratisch-sozialistische Alternative zur
Rekapitalisierung Russlands heute praktisch nicht (mehr) auf der Tagesordnung
steht. Die zur Überwindung von Produktions- und Investitionsschwäche,
von spekulativer Geldbewegung und Kapitalflucht diskutierten Wege laufen auf den
Ruf nach Aktivierung des Staates als gestaltender Faktor der Wirtschaftspolitik,
nach einer Zähmung des "wilden" Kapitalismus usw. hinaus. Auch
an diesem Punkt zeigt sich, wie weit Russland heute bereits von seiner sozialistischen
Vergangenheit entfernt ist.
Ein zweiter Themenschwerpunkt in diesem Heft ist mit "Geschichte und Geschichtstheorie"
überschrieben. Es geht um den "Sinn der Geschichte" (Gottfried
Stiehler) und um die Frage, ob eine Entwicklungslinie der gesellschaftlichen Arbeit
nachweisbar ist, die die von Marx entwickelte Abfolge gesellschaftlicher Produktionsweisen
plausibel macht (K. H. Tjaden). Helmut Bocks umfangreiche Betrachtung zur französischen
Revolution stellt Robespierre und seinen Kampf um Menschenrechte und Frieden in
den Mittelpunkt. Walter Schmidt bilanziert die Gedenkveranstaltungen zum 150.
Jahrestag der 48er Revolution unter politisch-kulturellen Gesichtspunkten.
Themen vorhergehender Hefte werden mit dem Aufsatz von Ulla Plener über Wirtschaftsdemokratie
und soziale Gerechtigkeit (vgl. Z 40) sowie mehreren Diskussionsbeiträgen
zur "Neuen Linken" (Jünke zu Fülberth in Z 40) und zu Beiträgen
in Z 41 aufgenommen. Dies gilt auch für die PDS-Programmdiskussion, die mit
einem Bericht von Herbert Münchow über eine Tagung des Marxistischen
Forums in Sachsen kommentiert wird - eine Tagung, die vor dem PDS-Parteitag in
Münster stattfand und die dort diskutierten Probleme und Auseinandersetzungen
kritisch vorwegnahm. Fragestellungen, die dieser für die marxistische Linke
wichtigen Kontroverse zugrundeliegen - das Verhältnis von Staat und großem
Kapital heute; Einschätzung der kapitalistischen Moderne - werden als Schwerpunktthemen
in den nächsten Z-Heften aufgenommen (vgl. Vorschau S. 38). Meinungsäußerungen
und Artikel-Angebote sind wie immer erwünscht.
|