Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 41, März 2000, 11. Jhrg

Editorial

Kapitalismustheorie muss sich heute darum bemühen, die auf das gesellschaftliche Leben insgesamt ausstrahlenden Umbrüche im Akkumulations- und Reproduktionsprozess des Kapitals zu erfassen. Diese seit den siebziger Jahren vor sich gehenden Umbrüche werden unter den verschiedensten Kürzeln diskutiert - Globalisierung, Neoliberalismus, Krise des Fordismus usw. Die in internationalen Dimensionen abrollende Konzentrations- und Fusionswelle des Kapitals (vgl. Z 39, Konzentration/Monopolisierung) verweist ebenso darauf wie die Veränderungen der betrieblichen Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse (vgl. Z 37-39, Beiträge zu "Arbeit und Politik").

Ein wesentliches Kennzeichen des "neuen Kapitalismus" ist die systematische und ungehemmte Freisetzung von Konkurrenz. Sie realisiert sich dabei nicht nur in traditioneller Weise über den Mechanismus der "Reservearmee" und die Zerstörung sozialstaatlicher Sicherungssysteme zu Gunsten einer individuell-privaten, marktförmigen Absicherung von Lebensrisiken (vgl. die Diskussion um "soziale Gerechtigkeit", Z 40), sondern sie durchdringt die Arbeits- und Sozialbeziehungen, die gesellschaftliche Lebensweise und die ihnen eigentümlichen Bewusstseinsformen. Solche Umbrüche und deren subjektive Verarbeitung werden in den Beiträgen zum Themenschwerpunkt dieses Heftes behandelt.

Klaus Pickshaus konstatiert, dass die neuen Unternehmens- und Managementkonzepte von der direkten ("command and control") zur indirekten Steuerung der Beschäftigten übergehen. Vor allem qualifizierte Angestellte werden in die Position eines "Arbeitskraft-Unternehmers" manövriert und zu schrankenloser Selbstausbeutung getrieben. Er sieht hierin "den betrieblichen Unterbau des neoliberalen Gesellschaftsmodells" (S. 13). Mit diesem "Zugriff auf den ganzen Menschen" werden traditionelle Grenzziehungen zwischen Arbeit und Privatleben abgebaut - mit der Tendenz zu einem "Arbeiten ohne Ende". Betriebliche Erfahrungen (IBM-Konzern) zeigen, dass es möglich ist, gegen die Maßlosigkeit des Arbeitsdrucks Widerständigkeit zu entwickeln, wenn hierfür Betriebsöffentlichkeit geschaffen wird. Für die Neugewinnung gewerkschaftlicher Gegenmacht mit betrieblicher Basis hält Pickshaus die Auseinandersetzung um ein emanzipatorisches Arbeitszeitregime ("Schnittstelle zwischen Arbeits- und Lebenswelt") für unabdingbar.

Chancen für ein neues Geschlechterverhältnis, die sich aus dem langfristigen Trend steigender Frauenwerwerbstätigkeit und veränderter Familienstrukturen ergeben, werden durch die neoliberale Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeit konterkariert (Brigitte Stolz-Willig). Bei VW führte z.B. Arbeitszeitverkürzung bei starker Ausweitung von Flexibilisierung zu einer "Retraditionalisierung" der innerfamilialen Arbeitsteilung. Das traditionelle männlich dominierte Normalarbeitsverhältnis ist trotz Flexibilisierung keineswegs passé und wird nur aufgebrochen werden können, wenn die Gewerkschaften auf Familien- und Lebensverhältnisse bezogene Lohnabhängigeninteressen in der Tarifpolitik stärker berücksichtigen, und wenn die Zementierung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung durch gesellschaftliche (steuerliche, sozialpolitische) Regelungen politisch aufgebrochen wird.

Soziale und ökonomische Umbruchsprozesse und deren subjektive Verarbeitung untersuchen Hans Günter Bell und Michael Chrapa mit Blick auf Großstädte Nordrhein-Westfalens und auf Ostdeutschland. Bell fragt nach Ursachen für das Ende der SPD-Dominanz in den Städten an Rhein und Ruhr. Der sozialökonomische Strukturumbruch im Ruhrgebiet entzieht der SPD zunehmend ihr politisch-soziales Milieu, ohne dass sie sich bisher neu verankern konnte. Darüberhinaus trägt die sozialdemokratische Kommunalpolitik zur sozialräumlichen Polarisierung bei und untergräbt damit ihren politischen Rückhalt bei sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Interessant sind die auf Lebensweise und Lebensgefühl bezogenen Einstellungsveränderungen im Massenbewusstsein, die Michael Chrapa für Ostdeutschland berichtet. Nach starken "Hoffnungsschüben" Anfang der neunziger Jahre und zunehmenden Erfahrungen mit den neuen Widersprüchen der "Marktwirtschaft" kommt es seit Mitte der neunziger Jahre zu einem mehrheitlich artikulierten Einstellungswandel, der eine Reaktion auf soziale Entsicherung und Spaltung darstellt. Trotz relativ ausgeprägter sozialer Zufriedenheit mit den "Wende"-Folgen beginnen soziale Konflikte andere Gegensätzlichkeiten im Lebensgefühl zu überlagern, das Problem "soziale Gerechtigkeit" erhält größere Bedeutung, die Zukunftsperspektive wird zunehmend skeptischer beurteilt. "Ostdeutschland könnte sich ... auf lange Sicht als ein (relativ) selbständiger, kulturell eigenständig-knorriger (und natürlich ärmerer) Teil entwickeln." (S. 59)

Im Bewußtsein wachsender Teile der Lohnabhängigen vollzieht sich heute nach Ansicht von Harald Werner ein Wechsel von traditionellen Sozialpartnerschaftsvorstellungen (steigende Arbeitsleistung gegen höhere Einkommen) zu einem "Wettbewerbskorporatismus", der das eigene Wohl und Wehe (Einkommen, Arbeitsplatz) mit der betrieblichen Standortsicherung identifiziert und die Konkurrenz zu anderen Unternehmen, Belegschaften, Abteilungen und Beschäftigten in Denken und Arbeitsmotivation aktiv reproduziert. Dieses Bewußtsein bleibt ambivalent und widersprüchlich, weil es die Erfahrungen zunehmender Unsicherheit, wachsender Arbeitsbelastung und sozialer Benachteiligung reflektiert. Aber gerade für Jüngere, Leistungsstarke, Alleinstehende, "Modernisierungsgewinner" in neuen Branchen mit Verlangen nach Selbständigkeit und Aufstiegsorientierung bietet der "Wettbewerbskorporatismus" starke Identifikationsmöglichkeiten und individuelle Chancen. Werner zufolge findet diese Orientierung, der auch das sozialdemokratische Konzept der "neuen Mitte" entspricht, Rückhalt nicht nur in der neoliberalen Ideologie und der Medienkommunikation, sondern auch im scheinbar "entmaterialisierten Kapitalismus" der "Wissensgesellschaft", der Armut und Reichtum nur noch "als Folgen individueller Cleverness" erscheinen läßt. In Kontrast zu diesem Wettbewerbskorporatismus haben Wertorientierungen wie "Gleichheit" und "soziale Gerechtigkeit" in den neunziger Jahren im Massenbewusstsein stark an Bedeutung gewonnen. Ist dies eine Gegenreaktion auf die Vertiefung der Konkurrenz in Betrieb und Gesellschaft? Das wirft die auch von Harald Werner gestellte Frage auf, ob in diesen Wertorientierungen Anknüpfungspunkte zu sehen sind, um die Konkurrenzideologie in der Gesellschaft zurückzudrängen und Ansatzpunkte für Gegenmacht zu entwickeln.

Unter den weiteren Beiträgen dokumentieren wir Pierre Bourdieus Attacke auf die Medienherren dieser Welt und eine Kritik von Ulrich Briefs an den Mythen der "Informationsgesellschaft". Bourdieu und seine Intellektuellentheorie sind Gegenstand des Beitrags von Lothar Peter. Mit der Presseberichterstattung über den Kosovokrieg setzt sich Karl Unger kritisch auseinander. Joachim Bischoff und Hasko Hüning stellen Thesen zur Programmdebatte der PDS vor. Hans Heinz Holz entwickelt in Antwort auf die Kritik von Thomas Collmer (Z 40) Grundlinien und Fragestellungen seiner "Problemgeschichte der Dialektik". Erfreulich ausführlich fällt in diesem Heft der Teil mit Berichten über politsche und wissenschaftliche Tagungen der Linken aus.

Die Redaktion veranstaltet am 20. Mai in Frankfurt/M. zusammen mit den Autoren des Schwerpunktthemas von Z 39 (Konzentration/Monopolisierung) ein Diskussionsseminar zu Ursachen, Triebkräften und Stellenwert der aktuellen Konzentrations- und Fusionswelle des Kapitals (vgl. die Ankündigung auf der Umschlagseite 2). Diskussionsgrundlage sind die theoretischen Überlegungen und Branchenanalysen in Z 39. Die Redaktion hat für die Diskussion einen kleinen Problemkatalog zusammengestellt, der zugesandt werden kann. Interessierte werden um Anmeldung unter der Redaktionsanschrift (Postfach 500936, 60397 Frankfurt/M.) gebeten.

Z 42 wird Anfang Juni mit dem Schwerpunktthema "Kapitalismus in Rußland" erscheinen. Ein zweiter Themenkomplex betrifft "Geschichte/Geschichtstheorie". Er enthält auch die beiden bereits für das vorliegende Heft angekündigten, aus Platzgründen jedoch leider verschobenen Beiträge von Helmut Bock zu Robespierre und von Walter Schmidt zu politisch-kulturellen Aspekten des 1848er Gedenkveranstaltungen. Der CDU-Spendenskandal ermuntert zum geplanten Schwerpunkt für Z 43 (September 1999), Staat und grosses Kapital.

Klaus Fischer, langjähriger Redakteur von Z, ist bedauerlicherweise wegen beruflicher Überlastung nicht mehr in der Lage, in der Redaktion mitzuarbeiten. Herausgeber und Redaktion danken ihm für sein langjähriges Engagement und sind sich sicher, dass er auch ohne formelle Redaktionsmitgliedschaft weiter zum Gelingen der Zeitschrift beitragen wird.

 
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