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Heft 40, Dezember 1999, 10. Jhrg
Hermann Klenner

Aufklärungshistorisches zur sozialen Gerechtigkeit

„Das Wohl aller Menschen ist eine leere Abstraktion.“ (Hegel 1818). [1]
„Niemand darf ärmer sein als die Regierung.“ (Weitling 1842).
[2]

I.

Beide Leitsprüche zu diesem Beitrag sind Provokationen. Hoffentlich. Sie waren es, als sie erstmals gesprochen bzw. gedruckt wurden, und sie sind es zu Beginn des kommenden Milleniums nicht minder.

Über soziale Gerechtigkeit nachzudenken heißt unvermeidlich, über soziale Ungerechtigkeit nachgedacht zu haben; ein Jenseits von beiden muß erst noch erfunden werden, und wer sich durch die Gebresten der bürgerlichen Gesellschaft nicht provoziert, also in ihr bloß wohl und bestätigt fühlt, dürfte dem Gerechtigkeitsthema ohnehin nicht gewachsen sein. Nun führt dieses Thema in die Uferlosigkeit. Gäbe es soviel Gerechtigkeit in der Realität wie es in der Idealität Theorien über sie gibt und Bücher in den Bibliotheken, stände es bestens um sie bestellt. [3]

Im Nachfolgenden sollen keine Ungerechtigkeiten in der Welt von heute denunziert, keine Auseinandersetzungen mit der längst inflationäre Ausmaße annehmenden Literatur der letzten Jahre geführt und nicht einmal die umstrittene Frage beantwortet werden, ob Marx eine Gerechtigkeitskonzeption gehabt habe. [4] Vielmehr soll in die intellektuelle Entstehungsgeschichte des für die bürgerliche Gesellschaft charakteristischen Kardinalproblems der Gerechtigkeit hineingeleuchtet werden. Dieses Kardinalproblem besteht - auf den Punkt gebracht - in dem Spannungsverhältnis zwischen der Gleichheit der Menschen als Bürger vor dem Gesetz und der Ungleichheit eben dieser Bürger als Menschen unter dem Gesetz. Die Divergenz von formaler und materialer Gleichheit, von égalité de droit und égalité de fait ist von explosiver Natur; sie hat dafür gesorgt, daß ein gesamtgesellschaftlicher Gerechtigkeitskonsens nicht, oder höchstens auf einer nichtssagenden, bloß verschleiernden Abstraktionsebene erreichbar ist.

II.

Beginnen wir mit Thomas Hobbes, dem ersten der Aufklärungsdenker, der eine geschlossene (seiner eigenen Meinung nach wohl auch abgeschlossene) Staats- und Rechtsphilosophie von immenser Wirkung vorgelegt hat. Sarkastisch vermerkt er gegen Aristoteles, der die Einteilung der Menschen wegen ihres unterschiedlichen Intellekts in Herrschende und Dienende für gerecht, weil von Natur gegeben, erklärt hatte, daß jener sich gewiß seiner Philosophie wegen zu den Klügeren, also zur Herrschaft Geborenen gezählt habe, und zu den Dienenden diejenigen, die kräftige Körper haben, aber nicht Philosophen sind, wie er selbst; kaum jemand aber werde so stumpfsinnig sein, ergänzte Hobbes, lieber von anderen regiert werden zu wollen als sich selbst zu regieren; tatsächlich seien im Naturzustand alle Menschen einander gleich gewesen, und ein Naturgesetz verlange, daß jeder Mensch die anderen als seinesgleichen von Natur aus anerkennen solle (that every man acknowledge other for his Equall by Nature), woraus sich ergebe, daß der Herr-oder-Knecht-Status von Menschen nur durch deren Übereinstimmung (by consent of men) eingeführt werden könne, ebenso wie ein Gemeinwesen nur durch einen Vertrag eines jeden mit einem jedem (covenant of every man with every man) entstände. [5] Es sei aber dieser Gesellschaftsvertrag gleichberechtigter, gleichinteressierter und gleichvernünftiger Menschen die Entstehungsgrundlage von Staat und Recht und von Gerechtigkeit. [6]

Um den im 17. Jahrhundert revolutionären Gehalt solcher Auffassungen von der sozialen und politischen Ungleichheit der Menschen als eines nichtnatürlichen (eines unnatürlichen!) Zustandes, oder von der Gerechtigkeit als einer den Menschen nicht vorgegebenen, sondern von ihnen selbst zu gestaltenden sozialen und politischen Ordnung würdigen zu können, ist es sinnvoll, sie den einschlägigen Thesen innerhalb der theologischen Weltanschauung des Mittelalters gegenüberzustellen (was auch als Beitrag zum historischen Gehalt der vielberufenen Wertordnung des christlichen Abendlandes verstanden werden kann).

Während Hobbes, wie zitiert, die im Gegensatzpaar Herr/Knecht personifizierte soziale Ungleichheit weder durch Natur noch durch Gott determiniert sein ließ, hatte Aurelius Augustinus, der Kirchenvater, die Knechtschaft selbst in der Form der Sklaverei als ein von Gott mit Recht dem Sünder auferlegtes Los legitimiert. [7]

Während Hobbes, wie zitiert, den Staat auf demokratische Weise entstehen ließ, hatte Francisco de Vitoria, der Spätscholastiker, erklärt, daß die Staatsgewalt nicht auf den Beschlüssen von Menschen beruht, sondern von Gott selbst sei. [8]

Während Hobbes, insofern selbst unter Aufklärern eine Ausnahme, die Teilnahme am Gesellschaftsvertrag auch den Frauen offenhielt, da es natürlicherweise weder Autorität noch Subordination gebe, hatte Paulus, der Apostel, von den Weibern verlangt, daß sie ihren Männern untertan sein sollen in allen Dingen als dem Herrn so wie die Gemeinde Christus untertan ist. [9]

Während Hobbes neben der Gleichheit von Reichen und Armen vor dem Gesetz und dem Gericht (justice shall be equally administred to all degrees of people, the rich and poor persons) auch ebensolche Gleichheit für die Anhänger aller christlicher Sekten forderte (because there ought to be no Power over the Consciences of men), hatte Thomas von Aquin, der Hochscholastiker, begründet, warum die zu Häretikern Erklärten als Falschgläubige gebannt und verbrannt werden sollen (da doch auch die Falschmünzer rechtens getötet werden). [10]

III.

Die weichenstellende Bedeutung des Gerechtigkeitsdenkens der europäischen Aufklärer verlief von Beginn an in dreierlei Richtung:

Gerechtigkeit, als das Übereinkommensmaß zwischen dem tatsächlich geltenden und dem eigentlich erforderlichen Recht, erhielt, erstens, einen völlig anderen Duktus. Der Geltungsgrund der Diesseitsgesetze wurde nicht mehr mit Hilfe eines Jenseitswesens verklärt, sondern mit den im Kern gleichen Realinteressen von Menschen erklärt; nicht Offenbarung und Glauben, sondern Erfahrung und Wissen seien die Erkenntnisquellen für Gerechtigkeit. Wer die Bewertungskriterien des Rechts aus der Bibel dozieren wolle, gleiche demjenigen, der auf die Frage, woher er wisse, daß 2 x 3 = 6 sei, antwortet: weil es in der Schrift stünde; man müsse vielmehr nach den Ursachen der sozialen Phänomene fragen, das factum dabei ansehen und sich auf argumenta ex ratione verlassen, hieß es bei einem deutschen Hobbes-Verehrer. [11]

Es wurden, zweitens, die dem Feudalismus eigenen strukturellen Ungleichheiten, die tradierte Hierarchie der Stände, das Obrigkeitsverhältnis zwischen Adel und Volk, zwischen Klerikern und Laien als fundamentale Ungerechtigkeit illegitimiert.

Und es wurde, drittens, das für die bürgerliche Gesellschaft charakteristische Zusammenspiel von politischer Gleichheit und sozialer Ungleichheit, letztere speziell zwischen Herr und Knecht, reich und arm, Mann und Frau, als Gerechtigkeitsproblem erörterungsfähig gemacht.

IV.

Doch bereits in denselben Jahrzehnten, da diese aufklärerischen, aufklärenden Gerechtigkeitsgedanken systematisiert wurden, entlud sich das Spannungsverhältnis zwischen der Gleichheit der Menschen als Bürger vor dem Gesetz und der Ungleichheit eben dieser Bürger als Menschen unter dem Gesetz in rechte wie in linke Radikalismen: in kapitalistische und in kommunistische Konzeptionen von Autoren  mit  sehr unterschiedlicher Erfahrung.

Der eine hieß John Locke. In seiner Konzeption einer gerechten, einer bürgerlichen Gesellschaft hielt er für vereinbar

-          daß jeder Mensch mit einem Rechtsanspruch auf vollkommene (!) Freiheit geboren ist (Man being born with a Title to perfect Freedom);

-          daß die in einem gerechten Krieg gemachten Gefangenen als Sklaven nach dem Recht der Natur der absoluten Herrschaft und willkürlichen Gewalt ihrer Herren unterworfen und nicht als Teil der bürgerlichen Gesellschaft anzusehen sind (Slaves are by the Right of Nature subjected to the Absolute Dominion and Arbitray Power of their Masters and cannot considered as any part of Civil Society);

-          daß Herr und Knecht (Master and Servant) durch einen Vertrag dergestalt miteinander verbunden sind, daß Letzterer auf eine bemessene Zeit gegen einen vereinbarten Lohn von ihm zu verrichtende Dienste an Ersteren verkauft, dem er dadurch eine vorübergehende Gewalt über sich verleiht;

-          daß durch einen Vertrag zwischen Mann und Frau deren Ehe begründet wird, in der natürlicherweise die Herrschaft dem Mann zufällt (the last determination, i.e. the Rule naturally falls to the Man's share);

-          daß die Gleichheit aller Menschen nicht jede Art von Gleichheit meint, sondern das gleiche Recht eines jeden auf seine natürliche Freiheit im Rahmen von verkündeten, für Reiche und Arme gleich geltenden Gesetzen nach eigenem Gutdünken über seine Person und sein Eigentum zu verfügen (the Ruling Power ought to govern by declared and received laws, ... one rule for rich and poor);

-          daß kein Staat ein Recht auf den Gehorsam eines Volkes hat, das nicht wenigstens durch seine Repräsentanten den Gesetzen zugestimmt hat, worauf allerdings jeder Teil des Volkes lediglich nach Maßgabe seines Beitrages zum öffentlich Wohl Anspruch erheben kann. [12]

Der andere hieß Gerrard Winstanley. Zeitlich noch vor Locke begnügte er sich nicht nur nicht mit der Gleichheit von Herr und Knecht, von Mann und Frau, von Reichen und Armen vor dem Gesetz, sondern erklärte, daß das neue Gesetz der Gerechtigkeit erfordere, Privateigentum und Geld sowie die betrügerische Kunst des Kaufens und Verkaufens abzuschaffen; erst wenn den Priestern der Zugang zu Gott, den Gutsbesitzern das Land, den Juristen das Recht und den Besitzenden die Staatsgewalt entrissen sein wird, werde die gleiche Freiheit für jedermann/jedefrau herrschen; das Privateigentum, in dessen Erhaltung laut Locke der eigentliche Sinn der bürgerlichen Gesellschaft liege (the chief end of Civil Society is the preservation of Property), hatte Winstanley vierzig Jahre zuvor schon zum eigentlichen Fluch dieser Gesellschaft erklärt (propriety is the Curse, particular propriety is the Cause of all wars, theft, and enslaving laws, that hold the people under miserie): Solange die Dreieinigkeit der Herrschaftsmittel und -methoden von Menschen über Menschen existieren, nämlich die meinungsmanipulierenden Ideologie-Institutionen von Kirche und Universität, die terrorisierenden Staats-Institutionen von Gesetzen, Gerichten und Galgen, vor allem aber die verelendenden Eigentümer-Institutionen samt Lohnarbeit, Raub, Bettelei und Krieg, solange könne es keine soziale Gerechtigkeit geben (so long the common-people shall never have their liberty). [13]

In diesen, am Beispiel von Locke und Winstanley festgemachten, sich in ihrem Wahrheits- und Berechtigungsanspruch einander ausschließenden Auffassungen von Gerechtigkeit widerspiegeln sich entgegengesetzte soziale Interessen. Man kann sich drehen und wenden, wie man will: Zwischen der von Locke vertretenen Meinung, daß die Arbeit des Knechts dem Herrn nicht anders als dessen eigene Arbeit einen Rechtsanspruch auf Eigentum am Erarbeiteten verleiht, und der Meinung von Winstanley, daß es zwischen dem Arbeiter und dem Produktionsmitteleigentümer zwar eine Gesellschaft, aber keine Gemeinschaft (community) geben könne, gibt es keinen gemeinsamen, keinen Versöhnungsnenner. [14] Das wird noch klarer, wenn man das von Locke vorgelegte Programm wenigstens zur Kenntnis nimmt, mit welchen Methoden der Staat den Armen Arbeit verschaffen solle: Nach gebührender Züchtigung sollten alle männlichen Bettler für drei Jahre zur Zwangsarbeit auf ein Schiff geschickt, alle rückfälligen weiblichen Bettler für drei Monate zu harter Arbeit in eine Besserungsanstalt überführt und alle bettelnden Kinder in eine Arbeitsschule eingewiesen werden. [15]

V.

Rousseau war es, der die Unversöhnlichkeit des Reichtum/Armut-Gegensatzes begriff und doch auf radikaldemokratische Problemlösungen seine Hoffnungen setzte. Ihm schien die Rechtsgleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft trügerisch zu sein, da sie nur dazu diene, die soziale Ungleichheit aufrecht zu erhalten: die Armen in ihrem Elend und die Reichen in ihren illegal erworbenen Besitztümern. Die Tendenz aller Gesetze bestände ohnehin darin, den Starken gegen die Schwachen, die Reichen gegen die Habenichtse zu begünstigen; nichts sei gefährlicher als der Einfluß der Privatinteressen auf die öffentlichen Angelegenheiten; in einem wirklichen Gemeinwesen dürfe daher kein Bürger so reich sein, um sich einen anderen kaufen zu können, und keiner so arm, um sich an einen anderen verkaufen zu müssen. [16]

Von solchen, wie gesagt: radikal-demokratischen, Gedanken zum Gerechtigkeitsproblem konnte im damaligen Deutschland die Rede nicht sein. Vielmehr herrschte ein obrigkeitsstaatlicher Ansatz vor, wie er in Christian Wolffs „Vernünftigen Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen zur Beförderung der Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts“  - der Titel spricht Bände! - zum Ausdruck kam: „Regierende Personen verhalten sich zu Untertanen wie Väter zu den Kindern. Den Vätern lieget ob, den Kindern alle Mittel zu verschaffen, die sie zur Beförderung der Vollkommenheit ihres inneren und äußeren Zustandes vonnöten haben, hingegen die Kinder sind verbunden zu tun, was ihnen von den Eltern in diesem Stöcke befohlen wird.“ [17] Gerechtigkeit als Staatsaufgabe, als dessen Objekt das Volk fungiert.

Es war diese durch den Preußenkönig Friedrich II. zur Staatsräson erklärte gradezu klassische Konzeption eines Wohlfahrtstaates (der Herrscher als erster Diener seiner Untertanen, zugleich das Werkzeug ihres Glückes, wie jene das Werkzeug seines Ruhms), die von Humboldt und von Kant in der Berlinischen Monatsschrift 1792/93 als „ärgste(r) und drückendste(r) Despotismus“, bzw. als „größte(r) denkbare(r) Despotismus“ denunziert wurde. [18]

Und hier gilt es gegen ein Mißverständnis zu argumentieren. Für diese beiden Großdenker deutscher Aufklärung bestand die Alternative zum Wohlfahrtsstaat nicht in der Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohl und Wehe der Bevölkerungsmehrheit, nicht in einem Laissez-faire-Kapitalismus. Daß der Staat berechtigt sei, die Vermögenden zu nötigen, die Mittel zur Erhaltung derjenigen herbeizuschaffen, die es, selbst den notwendigsten Naturbedürfnissen nach, nicht sind, [19] stand für Kant außer Frage und war für ihn charakteristischerweise weniger ein Moral- denn ein Demokratiegebot! Und Humboldt, der ebenfalls den Staat nicht als angemaßte Wohlfahrts-, Glücks- und Erziehungsanstalt, sondern als Rechtsinstitut begriff und das Recht als vernunftgebotenes Reglement für die äußeren Freiheitssphären insofern gleicher Menschen, die sich im Staat mit ihresgleichen vergesellschaften, hat sich mitnichten mit der formalen Gleichheit bei materialer Ungleichheit, mit der bloß politischen Freiheit bei ökonomischer und intellektueller Unfreiheit begnügt. Ganz im Gegenteil hat er ein komplettes Tableau gesellschaftlicher Abhängigkeiten, das zwischenmenschliche Geschlechter-, Dienstbarkeits- und Arbeitsverhältnis umfassend, entworfen; er hat unmißverständlich erklärt, daß kein Teil der Staatsverwaltung so wichtig sei wie der, welcher für die physischen Bedürfnisse der Untertanen sorgt, und als Fundament eines Bildungsplanes gefordert, daß der „gemeinste Tagelöhner und der am Feinsten Ausgebildete in seinem Gemüt ursprünglich gleichgestimmt werden“ müsse, und zwar wegen ebenderselben Menschenwürde. [20] Es war übrigens Humboldt, der - noch vor Hegel - dem philosophischen Sprachschatz der Deutschen den Entfremdungsbegriff erschloß.

Allerdings hat die auch von Kant vertretene Verschärfung der in Frankreichs Revolutionsverfassung von 1791 praktizierten politischen Privilegierung der Vermögenden und der damit einhergehenden politischen Diskriminierung der ökonomisch Schwächeren ebenso wie des „schwachen Geschlechts“ dazu beigetragen, daß der deutsche Vormärz-Liberalismus neben „Unmündigen, Wahnsinnigen und Vollberauschten“ auch „Weiber, Arme und Knechte“ von den Staatsbürgerrechten auszuschließen bereit war. [21] So wurden soziale Ungleichheiten, auf die politische Ebene transponiert, zu Ungleichheiten vor dem Gesetz. Der Klassen- und Geschlechterstruktur der Gesellschaft wurde Staatsverfassungsrang verliehen. Die sozialen Ungerechtigkeiten im Verhältnis von Männern und Frauen, Herren und Knechten, Reichen und Armen wurden als juristisch festgeschriebene zu auch politischen Ungerechtigkeiten. Das erfolgte in der Form einer offenen Apologie: Für das Fortkommen der Armen sei das Gedeihen der „Klasse der Kapitalisten“ ersprießlich und selbst der „ungeheure Unterschied aller Lebensverhältnisse zwischen den Klassen der Besitzer und der Nichtbesitzer“, ja sogar der „Krieg der Eigentumslosen wider die Eigentümer“ sei kein triftiges Argument gegen die geltenden Eigentumsgesetze. [22] Der in seinem Verhältnis zur Wirtschaft liberale Staat basiert auf einer in ihrem Verhältnis zu den Menschen illiberalen Wirtschaft.

VI.

Als der gerade zitierte Meisterliberale aus Baden den Unterschied zwischen Regierenden und Regierten, Adligen und Gemeinen, Herren und Knechten, Reichen und Armen, Männern und Frauen naturrechtlich begründete und zugleich als eine „fast [!] notwendige Folge der freien Wechselwirkung zwischen ursprünglich an Rechten Gleichen“ rechtfertigte, da hatten die Aufklärungs-Lokomotiven bereits ganz andere Regionen erreicht. Es waren die in der bürgerlichen Gesellschaft gemachten Erfahrungen und deren geistige Verarbeitung, die das Spannungsverhältnis zwischen der Gleichheit der Menschen als Bürger vor dem Gesetz und der Ungleichheit der Bürger als Menschen unter dem Gesetz, zwischen politischer Gerechtigkeit und sozialer Ungerechtigkeit aufzuklären ermöglichten. Hegel war es, der seit seinen Jenaer Jahren das überkommene Kategorien-Paar Herrschaft/Knechtschaft mit dem anderen Antagonismus Reichtum/Armut auf einem intellektuellen Niveau derart miteinander verknüpfte, daß dessen Sprengkraft bis in die Weltgesellschaft von heute erhalten geblieben ist. [23] Und vermutlich solange währt wie die bürgerliche Gesellschaft selbst.

Der entscheidende Erkenntnisgewinn, den wir im Zusammenhang unserer aufklärungshistorischen Überlegungen zur sozialen Gerechtigkeit und zu ihrem Ort bei Hegel verdanken, besteht darin, daß die Knechtschaft wie die Armut keine  auszubügelnde Nebenwirkung gesellschaftlichen Fortschritts ist oder als deren Unkosten für Freiheit und Eigentum abzubuchen sind, sondern daß sie die grundlegenden Gesellschaftsstrukturen dergestalt darstellen, daß, wer Herrschaft und Reichtum will, auch Knechtschaft und Armut wollen muß, ob er es weiß oder nicht.

Darauf gelenkt wurde Hegel durch die schottisch-englische Nationalökonomie und Sozialphilosophie. Mandevilles Aperçu, daß der sicherste Reichtum einer Gesellschaft in einer großen Anzahl arbeitsamer Armer besteht, und natürlich Adam Smith' Thesen, daß der Überfluß der Wenigen die Dürftigkeit der Vielen voraussetze und daß die Staatsregierung, soweit sie zur Sicherung des Eigentums eingerichtet wurde, tatsächlich zur Verteidigung der Reichen gegen die Armen eingerichtet worden ist (civil government so far as it is instituted for the security of property is in reality instituted for the defense of the rich against the poor), bringen den Zusammenhang von Reichen und Herrschenden, von Armen und Unterdrückten ebenso zum Ausdruck wie die Realinteressen von Eigentümern an politischer Macht für sich und von Armut und Machtlosigkeit für andere. [24]

Am Ausführlichsten in seiner Berliner Rechtsphilosophie-Vorlesung vom Wintersemester 1819/20, deren Nachschrift erst 1983 veröffentlicht wurde, [25] vertrat Hegel folgende Ansichten:

-          Die Entstehung der Armut ist eine notwendige Folge der bürgerlichen Gesellschaft;

-          in ihr häufen sich Reichtümer ohne Maß und Grenze auf der einen und Not und Elend auf der anderen Seite, bei der an die Arbeit gebundenen Klasse;

-          die bürgerliche Gesellschaft wird durch ihre Dialektik des Übermaßes von Reichtum wie von Armut über sich hinausgetrieben;

-          Armut und Reichtum machen so das Verderben der bürgerlichen Gesellschaft aus;

-          diese Ungleichheit des Reichtums und der Armut führt zur höchsten Zerrissenheit des Willens, zu innerer Empörung und Haß;

-          das niederträchtige Bewußtsein, daß die Ungleichheit mit Staat und Reichtum festhält, steht immer auf dem Sprunge zum Aufruhr;

-          die Furcht des Herren ist der Anfang der Weisheit;

-          der Knecht steht in seinem Werte höher als der in seiner Selbstsucht befangene Herr;

-          die Knechtschaft ist in der Geschichte eine notwendige Stufe;

-          der knechtische Gehorsam bildet nur den Anfang der Freiheit;

-          erst durch das Freiwerden des Knechtes wird auch der Herr frei.

Mit diesen Gedanken über die Wechselbeziehungen zwischen kapitalistischer Produktionsweise und verarmender, an die Arbeit gebundener Klasse und deren berechtigter Empörung nebst Sprung zum Aufruhr stößt Hegel bis an die Grenze zur historischen Negation der bürgerlichen Gesellschaft als einem Nichtort sozialer Gerechtigkeit vor.

[1]    Hegel (1770-1831), Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1981, S. 454.

[2]    Weitling (1808-1871), Garantien der Harmonie und Freiheit, Berlin 1955, S. 156; vgl. auch Weitling, Gerechtigkeit, Kiel 1929, S. 115.

[3]    Aus der neueren Literatur: Thomas Bausch, Ungleichheit und Gerechtigkeit, Berlin 1993; Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt 1994; Stephen Graubord (Hrsg.), Die Leidenschaft für Gleichheit und Gerechtigkeit, Baden-Baden 1988; Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992; August F. v. Hayek, Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, Landsberg 1981; Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1989; Nils Jansen, Die Struktur der Gerechtigkeit, Baden-Baden 1998; Christoph Jemmerling/Thomas Rentsch (Hrsg.), Die Gegenwart der Gerechtigkeit, Berlin 1995; Arthur Kaufmann, Über Gerechtigkeit, Köln 1993; Hans Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit, Wien 1985; Roland Kley, Vertragstheorien der Gerechtigkeit, Bern 1989; H.-J. Koch u.a., Theorien der Gerechtigkeit, Stuttgart 1994; Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt 1993; Werner Maihofer/Gerhard Sprenger (Hrsg.), Praktische Vernunft und Theorien der Gerechtigkeit, Stuttgart 1992; Marcic Ren/Ilmar Tammelo, Naturrecht und Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1989; Barrington Moore, Ungerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1985; Herfried Münkler (Hrsg.), Konzeptionen der Gerechtigkeit, Baden-Baden 1999; Giuseppe Orsi (Hrsg.), Gerechtigkeit, Frankfurt/M.

[4]    Vgl. Allan Buchanan, Marx and Justice, London 1982; Ralf Dahrendorf, Die Idee des Gerechten im Denken von Karl Marx, Hannover 1971; Gerhard Haney, Gerechtigkeit bei Marx, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 56, Stuttgart 1994, S. 190-207; Hubert Rottleuthner, Gerechtigkeit bei und nach Marx, in: ebenda, S. 208ff.; Eugene Kamenka, Marxism and the Concept of Justice, in: ebenda, Beiheft 40, Stuttgart 1991, S. 52ff.; Hermann Klenner, Marxismus und Menschenrechte, Berlin 1982, S. 147-158; Heinz Monz, Gerechtigkeit bei Karl Marx und in der hebräischen Bibel, Baden-Baden 1995; Elliot Pruzan, The Concept of Justice in Marx, New York 1988. - Quellentexte bieten: Uwe-Jens Heuer/Hermann Klenner, Demokratie und Diktatur. Recht und Gerechtigkeit (Marxistische Lesehefte, Nr. 1), Berlin 1998.

[5]    Thomas Hobbes (1588-1679), Leviathan [1651], Cambridge 1994, S. 107, 120 (deutsch: Hamburg 1996, S. 129, 145); Aristoteles (384-322 v.u.Z.), Politik, 1254 b, München 1981, S. 53f.

[6]    Thomas Hobbes, ebenda, S. 100f. (deutsch: S. 120f.).

[7]    Augustinus (354-430), Opera, Bd. 14-2, Paris 1955, S. 682 (deutsch: Vom Gottesstaat, Buch 11-22, München 1978, S. 557).

[8]    Vitoria (1483-1546), Über die staatliche Gewalt (lat.-dtsch.), Berlin 1992, S. 51.

[9]    Paulus, Brief an die Epheser, V, 22-24; Hobbes [Anm. 5], S. 140 (deutsch: S. 170), sogar mit der Auffassung, daß die Herrschaft über das Kind, sofern es keinen Vertrag mit dessen Vater gibt, bei der Mutter liegt. Vgl. dazu: Carola Pateman, The Sexual Contract, Cambridge 1991; Jana Thompson, „Wollen Frauen den Gesellschaftsvertrag neu fassen?“, in: Das Argument, 37(1995), S. 497-512.

[10] Thomas von Aquin (1224-1274), Opera omnia, Bd. 2, Stuttgart 1980, S. 540 (deutsch: Summe der Theologie, Bd. 3, Stuttgart 1985, S. 59); Thomas Hobbes [Anm. 5], S. 237, 479 (deutsch: S. 292, 585); der lateinischen Version seines „Leviathan“ (Amsterdam 1670, S. 346ff.) hat Hobbes einen speziellen Anhang über die Häresie beigefügt, der in der von Edwin Curley besorgten Leviathan-Ausgabe (Indianapolis/Cambridge 1994, S. 521ff.) erstmals ins Englische übersetzt vorliegt. Vgl. auch Hermann Klenner, „Hobbes als Toleranzdenker“, in: Europa in der Frühen Neuzeit, Weimar/Köln/Wien 1997, S. 443-449.

[11] Nicolaus Hieronymus Gundling (1671-1729), Ausführlicher Diskurs über Natur- und Völcker-Recht, Frankfurt/Leipzig 1734, S. 7f., 50f., 413. - Zu Gundling vgl. meinen Forschungsbericht in: Dialektik 1, Hamburg 1994, S. 123ff.

[12] John Locke (1632-1704), Two Treatises of Government [1689], Cambridge 1988 (deutsch: Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt a. M. 1992), Buch II, §§ 54, 57, 82, 87, 137, 142, 158, 192.

[13] Locke [Anm. 12], S. 323, 360 (deutsch: S. 252, 288); Gerrard Winstanley (1609-1676), The Works, New York 1965, S. 159, 184, 276, 384f. (deutsch: Gleichheit im Reiche der Freiheit, Leipzig 1983, Frankfurt am Main 1988, S. 9, 50, 136, 245). Vgl. Christopher Hill, The World Turned Upside Down, London 1991, S. 107ff., 387ff.

[14] Locke [Anm. 12], §§ 28, 51; Winstanley [Anm. 13], S. 493, 511, 520; vgl. Hermann Klenner, Das wohlverstandene Interesse. Rechts- und Staatsphilosophie in der englischen Aufklärung, Köln 1998, S. 71ff., 97ff.

[15] John Locke, Political Writings, London 1993, S. 446ff. (deutsch in: John Locke, Bürgerliche Gesellschaft und Staatsgewalt, Leipzig 1980, S. 271ff). Vgl. Maurice Cranston, John Locke. A Biography, Oxford 1985, S. 424ff.

[16] Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), Kulturkritische und Politische Schriften, Berlin 1989, Bd. 1, S. 399, 424, 437; Bd. 2, S. 375, 416; ders., Emil oder über die Erziehung, Paderborn 1981, S. 240; ders., Diskurs über die Ungleichheit, Paderborn 1997, S. 225.

[17] Christian Wolff (1679-1754), Vernünftige Gedanken ..., Frankfurt/Leipzig 1736, S. 200, (§ 264).

[18] Friedrich der Große (1712-1786), Ausgewählte Werke, Bd. 2 (Politische und Philosophische Schriften), Berlin 1916, S. 6, 36, 39, 64; Wilhelm von Humboldt (1767-1835), Menschenbildung und Staatsverfassung. Texte zur Rechtsphilosophie, Freiburg/Berlin 1994, S. 14; Immanuel Kant (1724-1804), Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie, Berlin 1988, S. 261.

[19] So: Kant [Anm. 18], S. 141, 458f.; vgl. Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt a. M. 1992, S. 271ff.

[20] Humboldt [Anm. 18], S. 331f.

[21] Kant [Anm. 18], S. 128, 265; Carl von Rotteck (1775-1840), Lehrbuch des Vernunftrechts, Stuttgart 1840, Bd. 1, S. 143, Bd. 2, S. 71, 150.

[22] Rotteck [Anm. 21], Bd. 1, S. 152, Bd. 2, S. 72f.; Hermann Klenner (Hrsg.), Rechtsphilosophie bei Rotteck/Welcker. Texte aus dem Staats-Lexikon, Freiburg/Berlin 1994, S. 238, 257f.

[23] Zum Folgenden: Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 5 (Schriften und Entwürfe 1799-1808), Hamburg 1998, S. 350ff.; Hegel [Anm. 1], S. 267ff., 503ff. Vgl. Georg Lukacz, Der junge Hegel, Berlin 1986, S. 376ff.; H. S. Harris, Hegel's Development (1801-1806), Oxford 1983, S. 120f., 492f.; Hermann Klenner, „Hegels Herr- und Knechtstruktur der Gesellschaft“, in: Karl Michaelis/Hans-Martin Pawlowski, Auseinandersetzung mit der realsozialistischen Vergangenheit, Baden-Baden 1992, S. 95ff.

[24] Adam Smith (1723-1790), Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen, Bd. 3, Berlin 1984, S. 86, 91; Bernhard de Mandeville (1670-1733), Die Bienenfabel, Leipzig/Weimar 1988, S. 274 (von Marx im „Kapital“ zitiert, vgl. Marx/Engels, Gesamtausgabe (MEGA), Bd. II/10, Berlin 1991, S. 551, so wie Bd. IV/3, Berlin 1998, S. 142 (über den untrennbaren Zusammenhang zwischen Privateigentum und Pauperismus)).

[25] Hegel, Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift (Hrsg.: Dieter Henrich), Frankfurt 1983, S. 192-199. Shlomo Avineri hielt diese Hegel-Passagen für so bedeutend, daß er sie, ins Englische übersetzt, als Anhang zu einem seiner Artikel dem amerikanischen Leser zugänglich gemacht hat, in: The Owl of Minerva, 16 (1985), Nr. 2, S. 205-208. - Im Übrigen vgl. die in Anm. 23 genannten Quellen.

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