Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 40, Dezember 1999, 10. Jhrg
Werner Goldschmidt

Gerechter Krieg für eine gerechte Weltordnung?

„Wir haben Recht und Gerechtigkeit auf unserer Seite.“
(Der ehemalige NATO-Generalsekretär Solana Ende März 1999)

„Nach dieser westlichen Interpretation könnte der Kosovo-Krieg einen Sprung auf dem Wege des klassischen
Völkerrechts der Staaten zum kosmopolitischen Recht einer Weltbürgergesellschaft werden.“
(Jürgen Habermas, 29. April 1999)

Der Kategorie ‘Gerechtigkeit’ haftet im Zusammenhang mit ‘Krieg’ etwas eigentümlich Unzeitgemäßes an; man fühlt sich an das Mittelalter, die Rechtfertigung der Kreuzzüge, allenfalls an die frühe Neuzeit erinnert, an scholastische Debatten um die Frage, wie man sich rechtmäßig, d.h. mit Gottes Wohlgefallen, das Land und die Reichtümer des eben ‘entdeckten’ Amerikas – auch gegen den Widerstand der dortigen Ureinwohner – und notfalls mit Gewalt aneignen könne, also eher an die Zeiten des entstehenden, als an die des entwickelten Völkerrechts. [1] Und doch hat die Rede vom ‘gerechten Krieg’ am Ende des 20. Jahrhunderts eine ganz unerwartete Konjunktur erfahren. Wir, d.h. die durch die großen Medien unterrichtete (vielfach aber wohl eher desinformierte!) Öffentlichkeit in den westlichen Ländern, glauben doch jetzt wieder ganz genau unterscheiden zu können: Der Balkan(Jugoslawien oder Kosovo)-Krieg war ein ‘gerechter’, der Kaukasus(Tschetschenien/Dagestan)-Krieg [2] hingegen ist ein ‘ungerechter’ Krieg. Der erstere wurde zur Wahrung der Menschenrechte, letzterer zur Unterdrückung eines (oder mehrerer) nach Freiheit und Selbstbestimmung strebenden Volkes (resp. Völker) geführt. So gesehen liegt der Fall tatsächlich auf der Hand: Menschenrechte, Freiheit und demokratische Selbstbestimmung sind grundlegende, für viele sogar unabdingbare gesellschaftlich-politische Werte – einerlei ob man sie nun als ewige Naturrechte oder als historisch-zivilisatorische Errungenschaften interpretiert – deren Verletzung als im höchsten Maße ‘ungerecht’, deren Wahrung daher als ebenso ‘gerecht’ erscheinen muss.

Gewiss, diese Sichtweise ist naiv - und die Schlussfolgerung trivial!? Die Sichtweise ist naiv, weil sie als Faktum unterstellt, was allererst zu klären wäre, nämlich die jeweils tatsächlichen, ‘gerechten’ oder ‘ungerechten’ Motive, Handlungen usw. der Kriegsparteien. Die Schlussfolgerung ist allerdings insofern nicht trivial, als es - zumindest in der Gegenwart – durchaus bedenkenswerte Argumente dafür gibt, Kriege prinzipiell abzulehnen, ganz unabhängig von der moralischen oder politischen Qualität der möglichen Kriegsgründe.

Marxistische Klassiker

Die marxistischen ‘Klassiker’ waren bekanntlich keine Pazifisten. Wenngleich sie – vor allem wegen der raschen Entwicklung der Waffen- und Kriegstechnik schon zu ihren Lebzeiten - hinsichtlich der physischen Kriegsfolgen immer skeptischer geworden sind, haben sie die Möglichkeit ‘gerechter’, im Sinne von ‘zu rechtfertigender’ Gewalt und damit auch die Möglichkeit ‘gerechter’ Kriege zumindest prinzipiell anerkannt. Freilich weist die marxistische Gerechtigkeitsperspektive über den bürgerlichen Rechtshorizont weit hinaus, sie ist vielmehr die einer sozialhistorisch wie geschichtsphilosophisch fundierten Revolutions- und Emanzipationstheorie, mit dem Endziel einer neuen Weltordnung, „in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die frei Entwicklung aller ist.“ [3]

„Die Marxisten haben [den Clausewitzschen Satz: ‘Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln’ - WG] ... mit Recht stets als theoretische Grundlage ihrer Auffassungen von der Bedeutung eines jeden konkreten Krieges betrachtet. Marx und Engels haben die verschiedenen Kriege stets von diesem und keinem anderen Standpunkt aus beurteilt.“ [4] Kriege sind demnach im Grunde ebenso ‘gerecht’ oder ‘ungerecht’ wie die konkrete Politik, als deren Fortsetzung sie jeweils zu begreifen sind. Eine eigene, von der Politik unabhängige Qualität kommt dem Krieg in dieser ‘realistischen’ Sichtweise nicht zu. Die sich daraus ergebenden theoretischen und praktisch-politischen Defizite beim Begreifen der politischen Probleme der Gegenwart, wie voraussichtlich auch der Zukunft, im nationalen, vor allem aber im internationalen Zusammenhang, haben mit dem um ‘Gewalt’ zentrierten modernen Politikbegriff [5] zu tun, den Marx, Engels und Lenin, bei allen sonstigen Differenzen, mit bürgerlichen Autoren wie Hobbes, Hegel, Max Weber oder Carl Schmitt teilen!

Ich bin nun – ohne dies hier näher ausführen zu können – von zweierlei überzeugt: erstens hat Lenin in Bezug auf die Bewertung von Kriegen durch Marx und Engels recht [6] und zweitens ist dieser Standpunkt aus analytischer (nicht aus normativer!) Sicht auch heute noch nicht prinzipiell überholt [7] – unter der Voraussetzung allerdings, dass man den Leninschen, aber auch den Marx’ oder Engelsschen Politikbegriff kritisch erneuert. Insbesondere der ökonomistische und/oder der klassentheoretische (beide sind nicht notwendigerweise identisch!) Reduktionismus, der das Politikverständnis auch bei den genannten ‘Klassikern’ vielfach dominiert, schließlich gar die weitere Reduktion dieser Momente der Politik auf Gewalt im Stalinismus, hat sich geradezu verheerend für den Sozialismus/Kommunismus in der Theorie und – naturgemäß noch mehr – in der Praxis erwiesen.

Natürlich haben die Fragen der Ökonomie und des Verhältnisses der gesellschaftlichen Klassen zueinander im nationalen und internationalen Zusammenhang nach wie vor eine herausragende Bedeutung für die Politik, und nach dem Gesagten auch für die gegenwärtigen – wie wohl auch zukünftigen – Kriege, aber sie waren weder in der Vergangenheit noch sind sie in der Gegenwart, und vermutlich auch in der Zukunft, niemals die einzigen, manchmal auch nicht einmal die vorrangigen Problemlagen, auf die die konkrete Politik resp. die konkreten Kriege zurückzuführen sind.

Im (zweiten) Golfkrieg, um ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit zu nehmen, ging es gewiss vorrangig um Öl (im ersten, weltpolitisch vielleicht weniger bedeutenden, aber was die Zahl der Opfer anbelangt, sogar noch blutigeren Krieg zwischen Iran und Irak allerdings ebenso gewiss nicht!) und nicht etwa vorrangig um die Befreiung Kuwaits oder gar um den Schutz von Kurden und Schiiten im Irak – alles Aspekte, die wohl eine legitimatorische, im einzelnen vielleicht eine strategische oder taktische, jedenfalls aber sekundäre Rolle spielten, nicht jedoch den wesentlichen Kriegsgrund ausmachten. Selbstverständlich ging es aber auch dabei nicht bloß um dieses konkrete Öl, das zu dieser Zeit aus den kuwaitischen Ölquellen floss oder vielmehr hätte fließen können, sondern – wie immer in der Politik – gewissermaßen um ein ‘abstraktes’, d.h. um das Prinzip ‘Öl’. Es ging darum, dass sich einzelne ‘Diktatoren’, Regierungen, Nationen oder Völker, aus welchen Motiven auch immer, nicht gewaltsam in den Besitz der von den großen internationalen (zumeist jedoch bloß international agierenden, tatsächlich aber ‘amerikanisch’ profitierenden!) Konzernen exploitierten Rohstoffquellen bringen können. [8] Dies sollte vor allem die Lehre für Saddam Hussein und alle seine potentiellen Nachahmer sein - wenngleich der Krieg dann tatsächlich auch noch eine Reihe ganz anderer Lektionen bereithielt.

Im Jugoslawien-Krieg, wie übrigens auch in den beiden ‘großen’ Kriegen nach 1945, in Korea und Vietnam, fehlt freilich ein solches mehr oder minder unmittelbar aus der Ökonomie herzuleitendes, und politisch allenfalls verdichtetes Motiv [9] – wenn man nicht die Leerformel von der ‘letzten Instanz’ bemühen will. Tatsächlich werden uns für den Krieg um das Kosovo von den verschiedensten Seiten (Medien, Politiker, Wissenschaftler, Experten aller Art) auch eine ganze Reihe anderer, nicht-ökonomischer Kriegsgründe genannt. Dabei muss man natürlich unterscheiden zwischen den mehr oder minder ‘inneren’ Konflikten, d.h. den ökonomischen, politischen und kulturellen Gegensätzen zwischen den Völkern, Religions- bzw. Sprachgemeinschaften des ehemaligen Jugoslawiens und den entsprechenden Gewalthandlungen unter ihnen, sowie den ‘äußeren’ Konflikten, die sich hauptsächlich zwischen Serbien und den NATO-Staaten entwickelt haben, und die im Bomben-Krieg gegen Serbien zum Ausbruch gekommen sind. Natürlich sind diese verschiedenen Konfliktfelder auf dem Balkan weder unabhängig voneinander zu begreifen, noch determiniert etwa eines dieser Felder alle anderen – nur in ihrer Gesamtheit und – wie sich zeigen wird, allerdings ungleichgewichtigen - Wechselwirkung ergeben sie das komplizierte Geflecht von Ursachen und die eigentümliche Dynamik, die zu diesem Krieg geführt hat. Die ‘konkrete Analyse der konkreten Situation’, wie die einschlägige Forderung unter Marxisten lautet, ist daher von allen einseitigen Schemata, Reduktionismen etc. freizuhalten, hier wäre in methodischer Hinsicht etwa an Marx’ klassische Analyse des 18. Brumaire zu erinnern.

Zum analytischen Ansatz der ‘Geopolitik’

In diesem Sinne scheint es mir daher auch nicht falsch, bisher von Marxisten eher vernachlässigte politikwissenschaftliche oder -strategische Konzepte, darunter auch die von Peter Scherer [10] vorgeschlagene Perspektive der ‘Geopolitik’ auf ihre analytische Kraft hin zu prüfen. [11] Bereits im klassischen Konzept der ‘Geopolitik’ [12] bündeln sich nämlich eine Reihe zweifelsfrei wichtiger Faktoren (Räume, Ressourcen, Macht u.a.), die in der internationalen Politik eine Rolle spielen, und insofern entspricht es durchaus der Forderung nach einem komplexen Analyseansatz. Aber man muss dieses in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von Vordenkern und politischen Praktikern des Imperialismus entwickelte Konzept ganz erheblich modifizieren, wenn es unter den Bedingungen der Gegenwart noch seine analytische Kraft entfalten soll. Prinzipiell erkennt Scherer das auch an, wenn er – unter Berufung auf die ‘Klassiker’ diese Genres - welthistorisch verschiedene Expansionstypen unterscheidet. Aber er entwickelt solche notwendigen Differenzierungen für die aktuelle Analyse nicht weiter. Dabei ist es offensichtlich, dass der geographische ‘Raum’ im engeren Sinne heute eine viel geringere (militär-)strategische und politische Rolle als etwa noch zu Beginn des 20. Jhdts. spielt, insbesondere ist seine bloße Ausdehnung immer weniger wichtig geworden, ebenso wie das klassisch-imperialistische Expansions- und Annexionsstreben.

Eine gewisse, vor allem militärstrategische Bedeutung kommt hingegen immer noch der physischen Struktur der Räume zu (Land/Meer, Gebirge/Ebenen, Seen, Flüsse, Klima etc.). Ökonomisch, politisch und militär-strategisch wichtiger aber sind Bevölkerungsdichte und materielle wie kulturelle Infrastrukturen – und nach wie vor das allerwichtigste, der ‘natürliche Reichtum’ (weniger die Fruchtbarkeit von Klima und Boden, vielmehr die Rohstoffe) eines Raumes und die Zugänge zu ihm.

In neueren geopolitischen Konzepten, so etwa bei Brzezinski, spielen nun aber genuin politische Faktoren wie Macht, Machtkonzentration und Machtstreben, eine wachsende Rolle. Die ‘politische Geographie’ ergibt sich demnach keineswegs unmittelbar aus der rein räumlichen oder territorialen Geographie. Brzezinski unterscheidet u.a. zwischen ‘geostrategischen Akteuren’ (zumeist (National)Staaten oder Staatenbündnisse) und ‘geopolitischen Dreh- und Angelpunkten’ (zumeist politische Grenzen überschreitende Territorien), wobei erstere sich durch ihr Machtpotential und ihr spezifisches Machtstreben (politische Ziele, Visionen, wirtschaftliche und/oder politische Expansionsgelüste etc.), letztere durch ihre besondere geo-politische Lage (d.h. nicht nur im ‘natur’-räumlichen Sinne, sondern auch in der politischen Beziehung etwa zu den jeweils interessierten geostrategischen Akteuren) gekennzeichnet sind. [13]

Folgt man Brzezinski, so kommt man hinsichtlich des ‘euro-asiatischen Zentralraumes’ zu zwar ähnlichen, aber keineswegs gleichen Resultaten wie Scherer. Nach Scherer ist „Baku, ein altes Objekt imperialistischer Begierde, ... erneut zum Dreh- und Angelpunkt des geopolitischen Gefüges in Osteuropa und Westasien geworden. ... Von Baku aus gesehen ist der Endpunkt der Pipeline in Pakistan nicht weiter entfernt als die Schwarzmeerküste Bulgariens. Man muß diesen Kartenausschnitt und diesen großen Maßstab vor Augen haben, um das Verhältnis der USA zum Balkan zu verstehen.“ [14] Also doch wiederum: Öl; nur dieses Mal nicht direkt, sondern in geo-politischer Perspektive. Auch Brzezinski betont die geo-strategische Bedeutung und die weltpolitische Brisanz des Raumes, den er als ‘eurasischen Balkan’ bezeichnet. Er hebt drei Aspekt hervor, erstens, den natürlichen Reichtum der Großregion zwischen dem Schwarzen Meer und der chinesischen Westgrenze an Ressourcen (neben Öl, vor allem Erdgas, wichtige Mineralien und nicht zuletzt auch Gold!), zweitens das Machtvakuum, das in der Schwäche der betreffenden Staaten (Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan usw. bis Afghanistan) besteht und drittens, die Ambitionen der benachbarten regional- oder geo-politischen Akteure Russland, Türkei und Iran, evtl. später China. Nach Brzezinski besteht das strategische Interesse der USA an diesem Raum vor allem darin, den bisherigen „geo-politischen Pluralismus“, d.h. die Konkurrenz zwischen den genannten regionalen Mächten, zu erhalten, zugleich aber auch einen Krieg zwischen ihnen zu verhindern, um indirekt Einfluss nehmen zu können und um mehrere Zugangswege zu den Rohstoffen offen zu halten – von daher etwa auch das Interesse an unterschiedlichen Pipeline-Projekten, die aus der Sicht der USA, aber auch Westeuropas und des Fernen Ostens, vor allem ein Transport-Monopol Russlands verhindern sollen. [15] Was bei Brzezinski aber gänzlich fehlt, ist der Hinweis auf einen geo-politischen Zusammenhang des von ihm sog. "eurasischen Balkans“ mit dem „europäischen Balkan“, der Terminus dient ihm lediglich als Metapher oder Vergleich („ethnischer Hexenkessel“, „Machtvakuum“). In der Tat scheint es nicht nur ‘rein’ geographisch weit hergeholt, den europäischen Balkan, oder noch enger, den Kosovo als Zugang zu den eurasischen Reichtümern um Baku zu interpretieren. Scherer gibt dann auch das Scheitern seiner geo-politischen Interpretation am Ende implizit selber zu, wenn er „die Lektionen des Krieges gegen Jugoslawien“ zusammenzufassen sucht. [16] Von den vier dort aufgezählten „Interessenkreisen“ bezieht sich nämlich nur einer (der dritte, eben erwähnt und m.E. wenig überzeugend) auf seine vorangegangenen geo-politischen Überlegungen, die drei anderen (Abstrafung regionaler Machthaber, Beschränkung des westeuropäischen Einflusses, Schwächung der UNO und des Völkerrechts) liegen auf einer ganz anderen kategorialen Ebene. Womit gesagt sein soll, dass der geo-politische Ansatz, selbst wenn man ihn adäquat anwenden bzw. kritisch weiterentwickeln würde, für die Analyse des Balkan-Krieges eher wenig hergibt – im Falle des Kaukasus-Krieges wäre dies gewiss ganz anders.

Zur machtpolitischen Analyse

Tatsächlich verdienen die von Scherer angeführten, im engeren Sinne nicht ‘geopolitischen’, sondern eher klassisch macht-politischen Aspekte des Balkan-Krieges besondere Aufmerksamkeit. Hierüber ist viel gesagt und geschrieben worden [17] ; es wäre vermessen zu glauben, hierzu noch etwas wirklich originelles beitragen zu können. Es sollen lediglich einige Überlegungen zum bisher aus kritischer Sicht wenig beachteten Thema ‘gerechter Krieg’ in der Perspektive einer ‘gerechten Weltordnung’ vorgetragen werden.

Legitimation kriegerischer Gewalt

Peter Gowan – um hier weiterhin an die Diskussion in dieser Zeitschrift anzuknüpfen – hat mit Nachdruck auf die politische Bedeutung der moralischen Legitimation des militärischen Eingreifens der NATO-Mächte auf dem Balkan hingewiesen – und zwar vor allem, wenngleich nicht nur, für die Zustimmung der Öffentlichkeit in den westlichen Ländern.

Nun gehört die Berufung auf höhere moralische Werte zur Rechtfertigung des Krieges mindestens seit den Zeiten der französischen Revolution. Aber in der Vergangenheit handelten es sich dabei häufig um den Rekurs auf eher partikularistische, völkisch-nationalistisch-chauvinistische, schließlich sogar um rassistische Werte resp. Pseudo-Werte, man denke etwa an die sog. deutschen „Ideen von 1914“. [18] Die Berufung auf ‘gerechte’ Kriegsgründe ist also an sich keineswegs neu, vielmehr sogar die Regel. Alle Kriegsparteien, sofern sie sich nicht ausschließlich oder vorwiegend auf Söldnertruppen stützen, sondern das Leben von Soldaten und Zivilisten des eigenen Volkes aufs Spiel setzen, berufen sich auf die ‘gerechte Sache’, die sie im Krieg (regelmäßig) zu verteidigen vorgeben; selbst Hitler behauptete lediglich ‘zurückzuschlagen’ - und nicht etwa anzugreifen. [19]

Universalistische Kategorien spielten im kriegerischen Legitimationsdiskurs, nach einem amerikanischen Präludium im 1. Weltkrieg (Wilson), allerdings erst nach 1945 eine bedeutendere Rolle; und selbst diese waren vielfach nicht frei von kulturspezifischen Konnotationen (Verteidigung des ‘Abendlands’, der ‘westliche Wertegemeinschaft’ etc. - so z. B. im Korea- und Vietnam-Krieg und insgesamt im sog. Kalten Krieg).

Der moralische Diskurs im Kontext des Balkan-Krieges von Solana über Fischer, Scharping bis hin zu Intellektuellen wie Beck oder Habermas bedient sich nun aber eines weitgehend uneingeschränkt universalistischen Vokabulars (Menschenrechte), und im Falle Habermas’ (nicht so bei Beck!) sogar eines moralphilosophisch und politik-theoretisch anspruchsvoll elaborierten begrifflichen Instrumentariums in der vorsichtig optimistischen Perspektive einer gerechteren Welt(friedens)ordnung (‘kosmopolitische Demokratie’). [20] Zumindest Habermas’ Position lässt sich – nicht nur, aber auch wegen ihrer theoretischen Seriosität – nicht einfach als politische Rhetorik abtun. Umso wichtiger ist es, sich mit solchen Positionen kritisch, und d.h. auch gründlicher, auseinander zu setzen.

Humanitäre Intervention

Manche Kritiker solcher Position haben nämlich schon insofern zu kurz gegriffen, als sie dazu neigten, den Rekurs auf die Menschenrechte als bloße (!) Ideologie abzutun, und das Ausmaß der Verbrechen, vor allem der Serben, zu leugnen oder doch nur eher widerwillig anzuerkennen. Es kann nicht darum gehen, die alten Reflexe der politischen Linken wieder zu beleben. Das serbische Regime ist in keiner Weise ‘sozialistisch’ zu nennen und verdient von daher auch keinerlei A-priori-Solidarität von Marxisten und anderen Sozialisten. Es ist vielmehr ein national-chauvinistisches Regime, das den Namen ‘sozialistisch’ zu Unrecht trägt und zur Täuschung im Inneren wie Äußeren benutzt, sich tatsächlich aber mit nationalistischer Propaganda, mit Terror und Gewalt gegen Oppositionelle und Minderheiten an der Macht hält. Dass die albanisch-kosovarische UCK keine Befreiungsbewegung im oben genannten Sinne ist, sondern sich in ihren chauvinistischen Zielen nicht prinzipiell von dem serbischen Regime unterscheidet, besagt nur, dass keine der kämpfenden inner-balkanischen Konfliktparteien umstandslos Recht und Gerechtigkeit auf ihrer Seite hat, sondern vielmehr alle Seiten eher das Unrecht. Opfer sind allerdings die vielen Menschen in den verschiedenen Staaten und Regionen des Balkan, die nicht unmittelbare Parteigänger der jeweiligen Machthaber sind, sie verdienten unsere Solidarität, weil ihr Bedürfnis nach einem friedlichen Zusammenleben, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung und politischer Selbstbestimmung – auch im marxistischen Sinne – gerecht ist.

Peter Gowan erklärt zu den Gewalttaten im ehemaligen Jugoslawien unzweideutig: „Der Krieg in Bosnien brachte schreckliche Verbrechen, die an den Spanischen Bürgerkrieg, an Irland in den 20er Jahren, an die Wehrmacht und die Einsatzgruppen an der Ostfront im Zeiten Weltkrieg, an die Amerikaner in Vietnam oder die türkischen Sicherheitskräfte im Osten der Türkei heute erinnern. Die Verbrechen wurden nicht nur von bosnischen Serben begangen, aber deren Verbrechen waren am deutlichsten sichtbar. Und ohne Zweifel wurden noch mehr solcher Verbrechen im Kosovo von serbischen Sicherheitskräften begangen ...“ [21] Die Vertreibung von mehreren Hunderttausend Menschen, die Ermordung und Vergewaltigung Tausender wenn nicht Zehntausender sind schwerste Menschenrechtsverletzungen und bedeuten zudem eine Bedrohung des Friedens und der internationalen Sicherheit, die – von wem auch immer begangen, und sie wurden nicht nur von Serben, aber zumindest in Bosnien und im Kosovo offenkundig [22] überwiegend von serbischen Militärs, Milizen, Freischärlern oder einfach von zivilen Plünderer-Banden, planvoll oder planlos, das lässt sich heute nicht mit letzter Gewissheit sagen, begangen – eine humanitäre Intervention der Weltgemeinschaft legitimiert, ja sogar moralisch gefordert hätten [23] - wohlgemerkt, der Weltgemeinschaft, d.h. der Vereinten Nationen, und nicht irgendeiner, und sei es noch so mächtiger Partikularorganisation (etwa der NATO oder gar der USA), es sei denn, sie habe ein entsprechendes Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. [24]

Die Betonung der persönlichen Verantwortung der Täter für die von ihnen begangenen Handlungen, sowie die Forderung nach ihrer Bestrafung durch ein internationales Gericht, muss aber in einer politischen und moralischen Untersuchung zugleich mit der Frage nach den Ursachen verknüpft werden, mit der Frage nach der politischen Verantwortung für eine Gesamtsituation, in der solche Gräueltaten erst möglich geworden sind. [25] Die Antwort auf diese Frage, die zusammenfällt mit der Frage nach den Ursachen der Balkan-Krise in den 90er Jahren, ist sicherlich derzeit noch weder vollständig und noch endgültig zu geben. Dennoch sind – wie Gowans Darstellung zeigt - wesentliche Grundlinien heute schon überschaubar.

Machtpolitische Ursachen

Jedenfalls ist danach klar, dass die „Balkan-Tragödie“ (Gowan) ihre Ursachen nicht primär in den ethnischen oder religiösen Konflikten der balkanischen Völker oder auch nur ihrer zumeist chauvinistischen Führer bzw. Führungscliquen hat, sondern vor allem – wenngleich nicht ausschließlich - in den spezifischen und z.T. konfligierenden Interessen und Machtstrategien der westlichen Staaten - insbesondere Deutschlands und der USA, aber auch Großbritanniens und Frankreichs, in der für alle ungewohnt unübersichtlichen Lage in Europa nach dem Zusammenbruch des ‘Realsozialismus’ und der Vereinigung Deutschlands. Die seit langem schwelenden inner-jugoslawischen Konflikte sind demnach durch die politische und ökonomische Intervention [26] dieser Mächte teils bewusst, teils unbewusst verschärft worden, was dem z. T. extremen Nationalismus der dortigen Führer und Führungscliquen nicht unerheblichen Auftrieb gab. Dabei spielte Anfangs Deutschland eine führende Rolle in der Beschleunigung der Auflösung Jugoslawiens (Förderung und Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens, Kroatiens), später (Bosnien, Kosovo) die USA, nicht zuletzt auch, um eine deutsche Hegemonial-Stellung in diesem Raum - oder langfristig gar in ganz (Mittel-Ost, Süd-Ost)Europa - zu verhindern; darin wurden sie teils von Großbritannien, teils von Frankreich in wechselnden Konstellationen unterstützt. Es ging in Jugoslawien demnach vor allem um ein neues politisches Konzept für Europa und um eine neue militärische Strategie für die NATO. [27]

In Gowans Darstellung des klassisch-machtpolitischen Pokerspiels zwischen rivalisierenden ‘Freunden’, unter gelegentlicher Einbeziehung Russlands, erscheinen die balkanischen Staaten, die jugoslawischen Völker, deren Politiker und Ideologien nun freilich in einem solchen Maße als bloße Objekte der Politik der größeren westliche Mächte, dass deren Eigeninteressen und Strategien allenfalls als bloß abgeleitete Größen erscheinen. Auch wenn man das große Ungleichgewicht zwischen den beteiligten politischen Kräften berücksichtigt, die Überlegenheit der westlichen Mächte, insbesondere der USA, die relative Schwäche Russlands, die Hilflosigkeit der UN etc., darf doch das spezifische Gewicht der serbischen Politik (Milosevic), wie auch das der Kroaten (Tudjman), der bosnischen Muslime oder der Kosovo-Albaner (UCK) etc. sowie die Dynamik ihres Nationalismus und der wechselseitigen Feindschaft nicht vergessen werden [28] , die ihrerseits z.T. mörderische Fakten geschaffen haben, die nicht einfach ‘von Außen’ gesteuert worden sind - und im übrigen auch gar nicht so gesteuert werden konnten, wie dies Diplomaten und Geheimdienstler aller Art zu wünschen pflegen und/oder uns manchmal Glauben zu machen suchen. Diese zuletzt genannte Sorte von ‘Politikern’ hegt nämlich – ähnlich wie die Militärs – ihre spezifischen Allmachtsphantasien, die zumindest im Falle der Militärs in den letzten Jahren mehrfach, und gerade im Bombenkrieg gegen Serbien erneut auf den Boden der Realität zurückgeholt worden sind. Es wäre zwar falsch, diese Illusionen gar nicht zu berücksichtigen, ebenso falsch aber auch, sie analytisch überzubewerten, um ihnen am Ende gar selbst aufzusitzen (z.B. in den auch in diesem Falle wieder grassierenden ‘Verschwörungstheorien’), was bei Gowan gewiss nicht der Fall ist. Dies alles wäre jedenfalls in einer umfassenden ‘konkreten Analyse der konkreten Situation’, die wohl erst in Zukunft möglich sein wird, zu berücksichtigen.

Einstweilen müssen und können wir uns mit dem wichtigsten Resultat von Gowans Analyse begnügen, dass die politischen Ursachen – nicht die Intensität - der ‘Balkan-Tragödie’ in letzter Instanz in den Hegemoniekämpfen zwischen den größeren NATO-Mächte angesichts einer zunächst unübersichtlichen Lage nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges zu suchen sind.

Inzwischen haben sich die machtpolitischen Nebel insoweit gelichtet, als zumindest die militärischen, in vieler Hinsicht auch die politischen Kräfteverhältnisse und Strukturen innerhalb der NATO, nunmehr weitgehend geklärt scheinen. Die USA haben ihren Anspruch und ihre Fähigkeit demonstriert, eine welt-hegemoniale Position notfalls eben auch in Europa, nicht nur gegenüber den unmittelbar betroffenen balkanischen Ländern, sondern – als bewusster Nebeneffekt – auch gegenüber den einzelnen west-europäischen Mächten wie ihrer Gesamtheit (!), erfolgreich durchzusetzen. Zugleich wurde – gegen den wenigstens diplomatischen Widerstand einiger europäischer Länder, etwa Italiens oder Griechenlands – die neue NATO-Strategie [29] nicht nur offiziell verabschiedet, sondern im Kosovo zugleich proto-typisch erprobt. Welche Lehre die westeuropäischen Länder für ihre längerfristige außenpolitische Strategie daraus ziehen werden, bleibt abzuwarten. Immerhin deutet einiges darauf hin, dass zumindest hier die Einsicht zu wachsen beginnt, dass ‘humanitäre Interventionen’ ohne UN-Mandat nicht ‘nur’ völkerrechtswidrig sind, sondern auch realpolitisch unübersehbare Risiken für den Weltfrieden nach sich ziehen.

Menschenrechtliche Legitimation von Macht und Gewalt?

Die schweren Menschenrechtsverletzungen, kollektiver Mord und Terror auf dem Balkan, wurden in dieser ‘realistischen’ (machtpolitischen) Interpretation von den USA – in mehr oder minder freiwilliger Kooperation mit anderen NATO-Staaten - letztlich bloß als Anlass genommen, um die Strategie der Etablierung einer neuen Weltordnung mit kriegerischen Mitteln zu erproben. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass die Instrumentalisierung eines moralisch hehren Zieles, hier der Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen, für strategische Zwecke nicht als ‘gerecht’, sondern im Gegenteil als zynisch und moralisch verwerflich anzusehen ist. Dagegen hat man nun argumentiert, die Motive der Handelnden seien vom Standpunkt einer nicht formell-deontologischen, sondern material-konsequentualistischen Moral (Verantwortungsethik!) letztlich unerheblich, entscheidend seien vielmehr die Folgen, dass nämlich den unerträglichen Menschenrechtsverletzungen ein Ende gesetzt und zugleich eine Warnung an andere potentielle Menschenrechtsverletzer ausgesprochen worden sei. Damit sei in gewissem Sinne ein Vorgriff auf eine zukünftige Weltordnung (kosmopolitische Demokratie, demokratische Weltbürgergesellschaft) getan, in der schwere und weltweit nicht bestrittene Menschenrechtsverletzungen nicht länger straffrei bleiben würden, eine Vorstellung die schließlich von jedem denkbaren universalistisch-moralischen Standpunkt aus grundsätzlich positiv einzuschätzen wäre.

So oder so ähnlich haben nicht wenige westliche Intellektuelle argumentiert. [30] Habermas und andere haben schließlich an solche Folgerungen die weitere Forderung gestellt, dass der Rekurs auf kriegerische Gewalt auch in Fällen schwerster internationaler Verbrechen nur als allerletztes Mittel einzusetzen sei, wenn alle Schlichtungs- und Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, und dann wiederum gar ein Bruch des Völkerrechts (die Verletzung der UN-Charta, der Rechte des Sicherheitsrates etc.) nur als außerordentliche Ausnahme im Sinne der Nothilfe zu rechtfertigen wäre. Darüber hinaus müsse die Verhältnismäßigkeit der militärischen Mittel gewahrt werden und im Ergebnis des Einsatzes ein ‘gerechter Frieden’ herauskommen. Nimmt man diese Anforderungen an eine ‘gerechte’ Intervention zusammen, so bricht spätestens im Rückblick auch der Versuch einer konsequentialistisch-moralischen Legitimation der NATO-Bombenangriffe gegen Serbien in sich zusammen. Denn weder wurden im Vorfeld des Krieges die friedlichen Konfliktregulierungsmechanismen (OSZE-Mission) bzw. die Verhandlungsmöglichkeiten (Rambouillet) wirklich ernsthaft ausgeschöpft [31] , noch wurde der Bomben-Krieg selbst strikt auf Maßnahmen zur Verhinderung der konkreten Menschenrechtsverletzungen begrenzt. Stattdessen wurden außer militärischen Zielen auch zivile Objekte getroffen und dabei zahlreiche Menschenopfer in Kauf genommen. [32] Schließlich setzte sich nach der offiziellen Beendigung der Kampfhandlungen im Kosovo, trotz der Anwesenheit multi-nationaler KFOR-Truppen, die Serie schwerer Menschenrechtsverletzungen (politische Morde, Vertreibungen u.ä.) fort, nun aber vorwiegend in anderer Richtung, d.h. begangen von Kosovo-Albanern an Serben und Roma. Habermas hatte für den Fall solcher – im übrigen nicht unvorhersehbarer - Konsequenzen immerhin vorsichtig angedeutet, „daß sich (dann) retrospektiv die Frage nach der Legitimation noch einmal ganz anders stellen würde“ – entscheidend aber ist, dass die Antwort nunmehr anders ausfallen müsste. Dieser Krieg war eben kein „Sprung auf dem Wege des klassischen Völkerrechts der Staaten zum kosmopolitischen Recht einer Weltbürgergesellschaft“ [33] , vielmehr eher ein Schritt auf dem Weg zur Zerstörung des modernen Völkerrechts und der internationalen, friedensstiftenden Institutionen zugunsten einer hegemonial-hierarchischen Weltordnung, in der die ökonomischen, politischen und kulturellen Belange der USA resp. der dort herrschenden Klasse(n) als oberster Zweck und höchster Wert gelten sollen. [34]

Pax Americana - die ‘wohlwollende Supermacht’ in einer ‘gerechten Weltordnung’?

Hegemonie sei so alt wie die Menschheit, behauptet Brzezinski in seinem Buch über ‘Amerikas Strategie der Vorherrschaft’. Neu an der aktuellen Vorherrschaft der USA seien lediglich ihr plötzliches und unerwartetes Zustandekommen, ihr weltweites Ausmaß und die Art und Weise ihrer Ausübung. [35] Zumindest die ersten beiden der genannten neuen Merkmale sind kaum bestreitbar, das dritte bedarf freilich besonders kritischer Prüfung.

Die neue Rolle der USA als einziger und zugleich ‘einsamer’ Supermacht (Huntington) ergab sich in der Tat unerwartet, insofern niemand, weder die ‘Sowjetologen’ noch die außenpolitischen Experten der 80er Jahre, den baldigen Zusammenbruch der Sowjetunion (und des sie umgebenden ‘sozialistischen Lagers’) vorhergesehen hatte. [36] Mit diesem sich 1989 und in den beiden Folgejahren mit atemberaubendem Tempo vollziehenden Prozess brach zugleich die gesamte, seit 1945 bestehende bipolare Weltordnung zusammen. „Zum erstenmal seit zwei Jahrhunderten besaß die Welt in den neunziger Jahren kein internationales System und keine Struktur. ... Was immer die Zukunft bringen mochte: Die Tatsache, daß alle alten Akteure des Weltdramas außer einem einzigen verschwunden oder transformiert worden waren, bedeutete, daß ein dritter Weltkrieg der alten Art zu den am wenigsten wahrscheinlichen Aussichten gehörte. Aber das bedeutet ganz und gar nicht, daß auch das Zeitalter der Kriege zu Ende gegangen sei.“ [37]

Nicht wenige hatten in der damaligen Situation gehofft, dass nunmehr eine ‘neue Weltordnung’ geschaffen werden könne, die nicht auf militärischer Gewalt, sondern auf demokratisch legitimierter Herrschaft und Macht gestützt ist, die den Krieg zwar noch nicht durch das Recht, wohl aber durch den Kompromiß und vor allem durch eine moderne, auf Prävention gerichtete Politik ersetzen wird. Schließlich sollte nach dem Ende der großen Konfrontation eine weitgehende Entmilitarisierung und Abrüstung möglich sein und die sich daraus ergebende ‘Friedensdividende’ für eine rasche und friedliche Entwicklung vor allem der armen Länder genutzt werden. [38]

Solche ‘idealistischen’ Hoffnungen waren freilich von vornherein trügerisch, insofern sie die ‘Logik’ der bisherigen Machtpolitik allein oder vorwiegend aus dem bipolaren (Ost-West)Konflikt der vorangegangenen Jahrzehnte abgeleitet hatten, nicht jedoch aus den immanenten Widersprüchen eines internationalen kapitalistischen Systems, das gerade nach dem Verschwinden des sog. sozialistischen Lagers sich nunmehr sogar ungehinderter entfalten konnte als zuvor. An die Stelle der erhofften neuen Friedensordnung traten vielmehr zahlreiche Kämpfe um eine ökonomische und machtpolitische Neupositionierung – so z.B. auch in Europa, wo es vor allem um die Stellung des neuen Deutschlands und des ökonomisch wie politisch dramatisch geschwächten Russlands ging.

An mehreren weltpolitischen ‘Bruchzonen’ - um dieses Wort aus dem Vokabular der Geo-Politiker hier doch einmal aufzunehmen – führten diese Positionskämpfe schließlich auch zu militärischen Konflikten, in denen nicht nur Nationalstaaten traditionellen Zuschnitts beteiligt waren, sondern auch eine ganze Reihe neuer Akteure auftraten, die mit inzwischen etablierten völkerrechtlichen Begriffen wie ‘Befreiungsbewegungen’ u.ä. kaum zu fassen waren. „In den Jahren nach 1989 fanden mehr militärische Operationen in mehr Gebieten von Europa, Asien und Afrika statt als irgend jemand erinnern konnte, wenngleich nicht alle von ihnen auch offiziell als Kriege eingestuft wurden: in Liberia, Angola, im Sudan und am Horn von Afrika, im ehemaligen Jugoslawien, in Moldawien, verschiedenen Ländern des Kaukasus und Transkaukasiens, im dauerexplosiven Nahen Osten, im ehemals sowjetischen Zentralasien und in Afghanistan. Da ... oft nicht klar war, wer gegen wen kämpft und warum, konnten diese Aktivitäten auch nicht irgend einer klassischen Rubrik von ‘Krieg’ - international oder Bürgerkrieg – untergeordnet werden. ... Kurzum, das Jahrhundert endete mit weltweiten Unruhen, deren Beschaffenheit unklar war, und verfügte über keinerlei Mechanismen, um sie zu beenden oder unter Kontrolle halten zu können.“ [39] Spätestens Mitte der 90er Jahre schien anstelle der erhofften neuen Friedensordnung, die von vielen Außenpolitikern so gefürchtete ‘Hobbessche Situation’ (des ‘Kriegs aller gegen alle’) eingetreten zu sein.

Die Feststellung Hobsbawms, dass das System der internationalen Beziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges durch „keinerlei Mechanismen“ zur effektiven Kontrolle und Eindämmung gewaltförmiger Konflikte mehr reguliert werden konnte, war einerseits Faktum, andererseits aber umso erklärungsbedürftiger, als eine solche Situation geradezu nach einer Aktivierung und Aufwertung der Rolle der Vereinten Nationen als dem völkerrechtlich berufenen ‘Hüter der neuen Weltordnung’ hätte drängen müssen. Hiergegen verwahrte sich aber vor allem – und mit erheblichem Erfolge – die einzig verbliebene ‘Supermacht’ USA, die ihrerseits die Chance sah, die Rolle des ‘Welt­polizisten’ zu übernehmen, um überall dort mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln – notfalls also auch mit militärischer Gewalt – zu intervenieren, wo es in ihrem nationalen Interesse liegt, bzw. genauer: was die jeweilige US-Regierung zum nationalen Interesse erhob und ggf. zum ‘internationalen Interesse’ (der ‘internationalen Gemeinschaft’) erklärte. Diese hegemoniale Strategie wurde und wird mit den Mitteln des Völkerrechts und innerhalb der bestehenden internationalen Organisationen betrieben, notfalls aber auch gegen diese bis hin zum formellen Bruch mit beidem, so etwa schon im Falle der militärischen Interventionen in Grenada oder Panama.

In der ‘realistischen’ Sicht der us-amerikanischen außenpolitischen Strategen hatten die Vereinten Nationen, wie übrigens das gesamte nach 1945 weiterentwickelte System des Völkerrechts, im Augenblick des Zusammenbruchs der bipolaren Konfrontation und der Herausbildung eines (weitgehend) unipolaren Systems ihre eigentliche Voraussetzung, die Existenz einer Pluralität (jedenfalls aber mindestens zweier) souveräner, gleichberechtigter Staaten, und damit letztlich ihren Daseinsgrund verloren. [40] Natürlich wird diese Analyse, die zugleich außenpolitische und daher immer auch diplomatische Strategie ist, nicht offiziell verkündet, vielmehr verhüllt sich diese Strategie in der Forderung nach einer ‘Fort(!)entwicklung’ des Völkerrechts und der UN-Ordnung, wodurch zugleich der faktische Bruch mit beiden Institutionen als ‘Vorgriff’ auf eine im internationalen (Friedens)Interesse notwendige Neuordnung dargestellt werden soll. Dabei spielt auch der weltweit anerkannte moralische Status der Menschenrechte insofern eine Rolle, als sie zu einer Kritik einzelner Regelungen des Völkerrechts, von Institutionen der UN (Vollversammlung, Sicherheitsrat, Denunziation des Vetos anderer (!) als ‘Blockadepolitik’ [41] ) usw. instrumentalisiert worden sind.

Allerdings war diese Politik nur teilweise erfolgreich. Es gelang den USA zwar, von den UN und dem Sicherheitsrat in Einzelfällen ein Mandat für ‘humanitäre Interventionen’ oder zur ‘Abwendung einer Gefahr für den internationalen Frieden’ zu erlangen, aber der selektive Charakter dieser ‘Menschenrechtspolitik’ (Somalia ja, Ruanda, nein; Bosnien, später Kosovo ja, Türkisch-Kurdistan nein), ihre Anwendung nach bloßen Opportunitätsgesichtspunkten widersprach so offenkundig dem universellen Anspruch der Menschenrechte, dass diese Politik weltweit rasch an Glaubwürdigkeit verlor. Hinzu kam die mehrfache Weigerung der USA, in Fragen der Abrüstung, der Umwelt, bei der Entschuldung der armen Länder, bei der Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofs usw. internationalen Regelungen zuzustimmen, die von zahlreichen Staaten im Interesse des Friedens und einer gerechten Weltordnung unterstützt worden waren, schließlich die langanhaltende Verweigerung der Mitgliedsbeiträge für die UN. All dies entlarvte die Behauptung der USA, ihre weltpolitische Führungsrolle zum Wohle aller (The benevolent Empire [42] ) wahrnehmen zu wollen.

US-Politiker sollten daher „die Illusion aufgeben, die Vereinigten Staaten seien eine wohltätige Hegemonie und es bestünde eine natürliche Übereinstimmung zwischen ihren Interessen und Werten und denen der übrigen Welt. Diese Übereinstimmungen gibt es nicht. ... Wohltätige Vorherrschaft gibt es ... nur vom Standpunkt der Hegemonialmacht aus. ‘Nur in den Vereinigten Staaten liest man vom Wunsch der Welt nach amerikanischer Führung’, bemerkt ein britischer Diplomat. ‘Überall sonst liest man von amerikanischer Überheblichkeit und Einseitigkeit’“, fordern inzwischen klügere ‘Realisten’ wie Huntington, denn „während die Vereinigten Staaten regelmäßig mehrere Länder als ‘Schurkenstaaten’ brandmarken, werden sie selbst in den Augen vieler Länder zur Schurken-Weltmacht.“ [43]

Huntington warnt die US-Außenpolitiker vor der Gefahr von ‘anti-hegemonialen Koalitionen’, dabei könnte es sich nicht nur um ein – noch ziemlich unrealistisches - Bündnis zwischen Russland, China und Indien (‘Primakow-Doktrin’) handeln, als wichtigsten Schritt zu einer solchen Koalition betrachtet er vielmehr die Gründung der Europäischen Union mit einheitlicher Währung (Euro) und empfiehlt indirekt das altbewährte Mittel, „kulturelle Unterschiede, Eifersüchteleien und Rivalitäten“ zwischen den größeren Mächten zu schüren, um sie davon abzuhalten, sich gegen die Supermacht zu verbünden. Nach Gowan hat genau diese Strategie der amerikanischen Jugoslawien-Politik seit der diplomatischen Intervention in Bosnien zugrunde gelegen [44] , und sie scheint auch zur Disziplinierung etwa der französischen Opposition gegen einzelne Aspekte (‘Selbstmandatierung’) der neuen NATO-Strategie beigetragen zu haben. Der von diesem Standpunkt aus aber wohl größte, und merkwürdigerweise bisher wenig thematisierte ‘Erfolg’ der US-Außenpolitik aber besteht, neben der weiteren Schwächung der UNO und des Völkerrechts, in der praktischen Liquidierung der OSZE, als einer potentiell wirksamen regionalen Sicherheitsorganisation unter der völkerrechtlich abgesicherten Schirmherrschaft der UN, und damit zugleich auch in der zumindest aktuellen Ausschaltung Russlands aus der europäischen, wenn nicht der internationalen Politik.

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[1]    Die neuere wissenschaftliche Literatur zum Thema ‘gerechter Krieg’ ist äußerst spärlich. Bekannter geworden ist in den letzten Jahrzehnten lediglich das Werk von M. Walzer (1977, dt. 1982), das aus Reflexionen über den Vietnamkrieg und die amerikanische Anti-Kriegsbewegung hervorgegangen ist. Vgl. auch Hösle 1997, S. 1022ff. In dem umfangreichen Werk über ‘Frieden und Krieg’ von R. Aron (1962) taucht die Kategorie ‘Gerechtigkeit’ nicht einmal im Sachwortregister auf.

[2]    Die Unsicherheit in der Benennung ist bezeichnend für das bisher unzulängliche Begreifen dieser Kriege; der Verf. nimmt sich davon nicht aus. Der Hauptgrund dafür, den Begriff Balkan-Krieg vorzuziehen, ergibt sich aus der Einsicht in den Zusammenhang der verschiedenen neueren Jugoslawien-Kriege mit den ökonomischen, politischen, kulturellen und militärischen Konfliktfeldern der ganzen Balkan-Region. Vgl. P. Gowan 1999.

[3]    MEW 4, 482. In welchem Sinne politische Werte wie Menschenrechte, Freiheit und Demokratie in diese Gerechtigkeitsperspektive von Marx gehören, kann hier nicht erörtert werden. Vgl. den Bericht über die neuere angelsächsische Diskussion von D. Göcmen in diesem Heft.

[4]    W. I. Lenin, Sozialismus und Krieg, LW 21, 304f.; vgl. auch LW 24, 396ff. „Man muß untersuchen, aus welchen historischen Bedingungen heraus der betreffende Krieg entstanden ist, welche Klassen ihn führen und mit welchem Ziel sie ihn führen.“ A.a.O., 396. Daraus lässt sich ableiten: „Die gerechten Kriege können, als Befreiungskriege gegen den Imperialismus, bald die Form eines Bürgerkriegs (der unterdrückten Klassen), bald die eines Verteidigungskriegs (der unterdrückten Nationen und Völker) annehmen.“ Art. ‘Krieg’, in: Krit. Wörterb. d. Marxismus, 1986, Bd. 4, S. 709f., Berlin. Vgl. auch Geras 1989; Moellendorf 1994.

[5]    Man darf vor allen Dingen ‘Gewalt’ nicht mit ‘Macht’ gleichsetzen; ‘Macht’ ist eine viel komplexere soziale Kategorie, wenngleich auch sie nicht als die zentrale Kategorie der Politik anzusehen ist. Vgl. Goldschmidt 1999.

[6]    Vgl. C. Ancona, 1980; W. Hahlweg, 1980; J. L. Wallach, 1968.

[7]    Aus alledem folgt freilich weder, dass Kriege unvermeidlich sind, noch, dass man nicht alles versuchen sollte, um Kriege zu verhindern – selbst wenn sie ‘gerecht’ sind, oder vielleicht besser, wenn sie zu rechtfertigen wären. Lenin, der gewiss nicht übermäßig zart besaitet war, betonte, dass jeder Krieg mit ‘Greuel, Bestialitäten, Leiden und Qualen’ verknüpft ist. Seine These, dass es dennoch ‘fortschrittliche’ Kriege gegeben habe (LW 21, 299), mag bis zum Beginn des 20. Jhdt. nicht ohne Recht gewesen sein, sie gilt seither, erst recht aber für die Zukunft nicht mehr. Entscheidend hierfür ist, dass die moderne Kriegstechnik – heute vor allem den noch wenigen Atommächten, in nicht allzu ferner Zukunft wohl aber auch zahlreichen mittleren und kleineren Staaten, wenn nicht gar anderen Akteuren (bis hin zu Terroristengruppen u.ä.) - ein Gewaltpotential bereitstellt, das nicht mehr nur einzelne Gräueltaten möglich macht, sondern ganze Bevölkerungen, potentiell die ganze Menschheit – und mit ihr praktisch alle Formen höheren Lebens auf der Erde - mit Vernichtung bedroht. Es versteht sich von selbst, dass dies nicht das Ziel irgend einer rational vertretbaren ‘Politik’ sein kann. Das Hauptziel aller Politik, die sich moralisch rechtfertigen lässt, muss daher heute mehr denn je gerade die Verhinderung von Kriegen sein. Im Völkerrecht hat sich diese Einsicht schon nach der Erfahrung der beiden Weltkriegen des 20. Jhdt.s in einem strikten Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen durchgesetzt. Aber die moralisch unbedingte Forderung, ja nicht einmal der geltende Völkerrechtsgrundsatz, dass die Politik sich nicht mehr mit Gewalt im Krieg fortsetzen dürfe, verhindert allerdings nicht, dass gerade dies auch heute noch geschieht. Auf diese ‘realistische’ Voraussetzung muss sich der Analytiker zunächst einmal einlassen, auch und gerade wenn er sich gegen jede Form des Bellizismus wendet. Kriegsursachenforschung ist in diesem Sinne eine der Voraussetzungen für Kriegsverhinderung.

[8]    Öl ist freilich nicht bloß ‘schwarzes Gold’, es hat aufgrund seines spezifischen Gebrauchswerts über seine ökonomische ‘Profitabilität’ hinaus u.a. auch eine politische, genauer: machtstrategische Qualität.

[9]    Man denke an Lenins berühmte Formel „Politik ist der konzentrierte Ausdruck der Ökonomik...“ In: LW 32, 73. Dass es hier – wie in jedem Krieg – Kriegsgewinnler gibt, ist unbestreitbar. Vgl. Wolf 1999.

[10] Vgl. Scherer, 1999.

[11] Hier soll keineswegs einem beliebigen Eklektizismus das Wort geredet werden. Betont wird  – angesichts der kaum bezweifelbaren Defizite marxistischer Politikanalyse - lediglich die Notwendigkeit einer kritischen (!) Offenheit gegenüber allen (wenigstens einigermaßen rational erscheinenden) politikwissenschaftlichen Ansätzen; von daher auch die Bedeutung einer Rekonstruktion marxistischer Politikwissenschaft, vgl. Deppe 1999a. Zur berechtigten Skepsis hinsichtlich des Zustands der nicht-marxistischen Politikwissenschaft vgl. Krippendorf 1999.

[12] Vgl. H. J. Mackinder 1919 (urspr. 1904).

[13] Vgl. Brzezinski, 1999, S. 66ff. Einen eher klassisch-machttheoretischen Ansatz, in der Tradition der ‘realistischen’ Morgenthau-Schule, vertritt Huntington, 1999. Vgl. grundlegend Morgenthau (1948)19937, ‘neorealistisch’: Waltz 1979. In Deutschland Link 1998, speziell zu den USA: Schwarz 1999, kritisch Czempiel 1998, ders.1999.

[14] Scherer, S. 18. Später heißt es gar: „Denn es ist klar: Wer immer das Gelände zwischen dem Persischen Golf im Süden und der kasachischen Steppe im Norden beherrscht, kann den Weltherrschaftsanspruch der USA in Frage stellen.“ S. 19.

[15] Brzezinski, S. 215ff.

[16] Scherer, S. 19.

[17] Die sehr kontrovers geführte Diskussion ist schon jetzt so umfangreich geworden, dass hier auf den Versuch verzichtet wird, auch nur wichtigsten Beiträge hier aufzulisten. Neben den in dieser Zeitschrift erschienenen Texten von Gowan, Heuer, Scherer und Stuby sei verwiesen auf die Beiträge in den Blättern für deutsche und internationale Politik (s. Literatur) sowie auf die deutschsprachigen Sammelbände von Albrecht/Schäfer, Balzer u.a., Cremer/Lutz, und Schmid, sowie auf die Sammlung von Erklärungen Intellektueller und anderer für die FAZ bei Schirrmacher 1999.

[18] Vgl. See 1975; Boehme 1975.

[19] Das Verbot des Angriffskrieges, wie es seit dem Briand-Kellog-Pakt (1928), endgültig mit der Verabschiedung der Charta der Vereinten Nation (1945) geltendes Völkerrecht geworden ist, ist im Bewusstsein der modernen Menschheit so tief verwurzelt, dass es offen niemand mehr zu bezweifeln wagt; was freilich bisher tatsächlich Angriffskriege nicht verhindert konnte.

[20] Vgl. Habermas 1999a, 1999b. Habermas bezieht sich dabei vor allem auf Held 1995, S. 219ff.

[21] Gowan, S. 84.

[22] Dies gilt ungeachtet der bisher nur in Ansätzen untersuchten aber keineswegs zu leugnenden Tatsache der gezielten Desinformation durch die Informationspolitik der Kriegsparteien ebenso wie der z.T. skandalösen Manipulation der ‘freien’ Medien in allen beteiligten Staaten. Als Beispiel für erste Untersuchungsansätze vgl. Hundseder, Kriegsberichterstattung, Schreiben unter Manipulation, Zensur und Lüge, in: Cremer/Lutz 1999 und Prokop, Politischer Missbrauch von Opfer-Bildern, in: Balzer u.a. 1999.

[23] Vgl. Debiel/Nuscheler, 1996. Zur moralphilosophischen Problematik vgl. Walzer, S. 136ff. Der völkerrechtlichen Status ‘humanitärer Interventionen’ ist umstritten. Vgl. etwa Kühne 1999; Paech 1999; Preuß 1999. Selbst wenn man mit Paech (und der Mehrzahl der Völkerrechtler!) zu der Überzeugung gelangt, dass das geltende Völkerrecht letztlich keine Handhabe für eine ‘humanitäre Intervention’ bietet, ist die moralische (!) Legitimität solcher Intervention damit noch keineswegs erledigt. Auch der Hinweis auf möglichen Missbrauch überzeugt hier wenig, denn kein Recht, kein moralisches Gut, und sei es noch so hochrangig oder -wertig ist jemals vor Missbrauch sicher gewesen; dieser Einwand ist daher zunächst prinzipiell irrelevant – wohl aber ist er Ernst zu nehmen in der moralischen, politischen und rechtlichen Beurteilung des konkreten Einzelfalls. Dies vor allem wird im Folgenden versucht.

[24] „Amerikanische Politiker nehmen fortwährend für sich in Anspruch, für die ‘internationale Gemeinschaft’ zu sprechen. ... Die Gemeinschaft, für die die Vereinigten Staaten sprechen, umfaßt in der überwiegenden Mehrheit der anstehenden Fragen bestenfalls ihre angelsächsischen Vettern (Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland); in vielen Fragen sprechen sie auch für Deutschland und einige kleinere europäische Demokratien; in einigen Fragen, die den Nahen Osten betreffen, für Israel und für Japan, wenn es um die Durchsetzung von US-Resolutionen geht. Dies sind wichtige Staaten, aber sie sind nie und nimmer die globale internationale Staatengemeinschaft.“ So der ‘Realist’ Huntington, S. 552.

[25] Vgl. Gowan, a.a.O.

[26] Zu den entsprechenden ökonomischen Interessenlagen und Strategien, die hier natürlich auch eine, wenngleich - hierin ist der Verf. anderer Meinung als diese Autoren - für den eigentlichen kriegerischen Konflikt nicht unbedingt dominierende Rolle spielten vgl. Chossudovsky 1997, 1999; Wolf 1999.

[27] Jugoslawien war damit auch zum Kampfplatz um die zukünftige politische Gestalt Europas geworden. Vgl. Gowan, S. 72ff., hier insbes. S. 73.

[28] Nur so lässt sich übrigens auch die von Gowan nicht bestrittene Verantwortung balkanischer Politiker auf den verschiedensten Seiten des Konfliktes für die zahlreichen und brutalen Menschenrechtsverletzungen überhaupt begreifen und begründen.

[29] „Es ging um die künftigen Aufgabenstellungen und Befugnisse der NATO unter drei Gesichtspunkten: dem der funktionalen Limitierung (Verteidigung oder auch Krisenmanagement), dem der geographischen Beschränkung (Vertragsgebiet oder nicht eingegrenztes Umfeld des ‘transatlantischen Raums’) sowie dem der völkerrechtlichen Fundierung (gebunden an die Mandatierung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder ‘Selbst­mandatierung’). Wie das neue Strategische Konzept ausweist, ist in allen drei Punkten zugunsten einer Aufhebung bisheriger Beschränkungen entschieden worden.“ Pradetto, S. 806. Damit haben sich die USA in allen Punkten durchgesetzt.

[30] Genannt sei hier – pars pro toto - nur der für seine blühende soziologische Phantasie und für seine innovatorische, in Paradoxien schwelgende Formulierungs’kunst’ zu Recht ebenso berühmte wie berüchtigte U. Beck; vgl. hier ders., 1999. Dass Beck auch hier wesentlich exzentrischer formuliert als die meisten seiner Kollegen, für die er hier exemplarisch stehen soll, muss freilich zugegeben werden. Eine breitere Sammlung kontroverser Stellungnahmen bei Schirrmacher 1999.

[31] Zur OSZE-Mission: Loquai 1999. Zu Rambouillet: Zumach, „80 Prozent unserer Vorstellungen werden durchgepeitscht“. Die letzte Chance von Rambouillet und die Geheimdiplomatie um den ‘Annex B’, in: Schmid 1999.

[32] Eine glaubhafte ‘Bilanz’ der Opfer des Krieges liegt meiner Kenntnis nach bisher nicht vor. Zu ersten Einschätzung, auch der finanziellen Kosten vgl. Karadi/Lutz, Der Preis des Krieges ist seine Legitimität. Zu den Kosten und Folgekosten des Kosovo-Krieges, in: Cremer/Lutz 1999 und Gose, Der Preis des Krieges, in: Albrecht/Schäfer 1999.

[33] Habermas 1999b, S. 6 Sp. 1, S. 1 Sp. 3.

[34] Dies findet sich – fast – alles, teils positiv, teils kritisch formuliert bei Beck 1999.

[35] Brzezinski 1999, S. 17.

[36] Allenfalls sowjetische Dissidenten hatten – damals viel belächelt – den baldigen Untergang der Sowjetunion prophezeit.

[37] Hobsbawm 1995, S. 688f., 690.

[38] Vgl. Czempiel 1993, Vorwort.

[39] Hobsbawm 1995, S. 690, 693.

[40] „Außenpolitik wird am besten ohne Völkerrecht gemacht.“ Ch. Krauthammer, The Course of Legalism, zit. n. Paech 1998.

[41] Mindestens seit den 80er Jahren, war der Sicherheitsrat weniger häufig durch das berüchtigte ‘Njet’ der Sowjetunion als vielmehr durch das ‘No’ des Vertreters der USA ‘blockiert’.

[42] Vgl. R. Kagan 1998.

[43] Huntington, S. 553.

[44] Gowan, S. 73. Zur Vorgehensweise der USA gegenüber den europäischen NATO-Verbündeten vgl. Link 1998, S. 133f.

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