Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 40, Dezember 1999, 10. Jhrg

Editorial

Als die Regierung Kohl im September 1998 nach 16 Jahren mit einem politischen Erdrutsch abgewählt wurde, war dafür vor allem der Wunsch der Wählerinnen und Wähler nach mehr sozialer Gerechtigkeit ausschlaggebend. Ihr Auftrag an die neugebildete rot-grüne Bundesregierung lautete, die bis zum Überdruss erlebte "Gerechtigkeitslücke" zu schließen. Seither steht die Frage nach den Chancen von mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzungen. Das Wählervotum für mehr soziale Gerechtigkeit war aber seinerzeit nicht Ausdruck einer kämpferischen, politisch klar akzentuierten Massenstimmung, sondern mehr Resultat einer passiven Verweigerungshaltung. Der CDU-geführten Koalition wurde nach 16 Jahren die Gefolgschaft stillschweigend aufgekündigt. Sie hatte den Bogen überspannt, immer weniger wurde den neoliberalen Versprechungen geglaubt, dass mehr Gewinne, mehr Wettbewerbsfähigkeit und weniger Sozialststaat zu Investitionen und Arbeitsplätzen führen würden. Auf der anderen Seite hatten SPD und Grüne den Wahlkampf nicht mit einem politischen Kontrastprogramm bestritten, das die Eckpunkte sozialer Gerechtigkeit deutlich herausgearbeitet und ihre Anhängerschaft dafür mobilisiert hätte. Eher hatten diese beiden Parteien die an sie gerichteten Erwartungen sogar gedämpft.

Die SPD hatte in ihrem Wahlprogramm von 1998 Innovation und Gerechtigkeit versprochen. Sie erweckte den Eindruck, beides werde sich harmonisch ergänzen. Eine Kombination von Angebots- und Nachfragepolitik sollte für Wachstum und Arbeitsplätze sorgen. In diesem Ansatz vermischten sich traditionelle sozialdemokratische Wertvorstellungen - Interessen der Lohnabhängigen an geschützten und regulierten Beschäftigungsverhältnissen - mit Modernisierungswünschen von hochqualifizierten und flexiblen Beschäftigtengruppen, Selbständigen, Teilen der Mittelschichten und des Kapitals - wofür das politische Kürzel von der "Neuen Mitte" steht. So versprachen Schröder, Lafontaine, Fischer und Co., neue Arbeitsplätze zu schaffen, für mehr Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen, zugleich auch überfällige Innovationen und Reformen anzuschieben - allesamt Probleme, vor denen die konservativ-liberale Vorgängerregierung versagt hatte -, ohne sich und dem Wahlvolk klar zu machen, welche Widersprüche zwischen diesen Zielen bestanden.

Die Wählererwartungen sind gründlich enttäuscht worden. Das Wahlvolk wendet sich inzwischen frustriert ab vom gerade erst gewählten Hoffnungsträger: Regierungsverlust von SPD und Grünen in Hessen, Regierungsverlust der SPD an der Saar, rot-grüne Abstürze in Brandenburg, Thüringen, Sachsen, bei der Europawahl und bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg stehen dafür. Und der Schwund zur 20-Prozent-Partei in Berlin. Dietmar Wittich untersucht wahlpolitische Trends und Motive der letzten beiden Jahre. Die soziale Destabilisierung der Bundesrepublik in West- wie Ostdeutschland nach dem Anschluß der DDR ist ein wesentliche Ursache der starken Wählerfluktuationen und der Ausweitung der Nichtwählerschaft. Politisch liegt das Hauptproblem bei der SPD. Sie zeigt sich tief zerrissen und in einer existenziellen Identitätskrise. Während ein kleiner, einflussschwacher linker Flügel - jetzt ohne die Leitfigur Lafontaine - in der Partei versucht, in einer Kombination von Angebots- und Nachfrageansatz eine Politik sozialer Verteilungsgerechtigkeit zu entwickeln, hat die von Gerhard Schröder repräsentierte Richtung das Projekt einer rigorosen Modernisierung der Sozialdemokratie mit Macht angestoßen. Dezidiertester Ausdruck dafür ist das Schröder/Blair-Papier. Letztenendes läuft es auf eine "linke" Angebotspolitik hinaus. Die Herstellung von mehr Verteilungsgerechtigkeit gehört demnach nicht mehr zu den Aufgaben des Staates. Soziale Gerechtigkeit bedeutet nicht mehr Gleichheit, sondern meint nur noch, dass alle einigermaßen gleiche Chancen haben sollen, Qualifikationen zu erwerben, damit sie sich am Arbeitsmarkt um Jobs bewerben können. Gerechtigkeit ist, wenn freier Wettbewerb herrscht. Dieses Konzept enthält starke Anleihen beim Neoliberalismus, ist aber nicht mit ihm identisch, sondern soll die Sozialdemokratie gerade dazu befähigen, dem konservativen Marktradikalismus ein dauerhaft erfolgreiches und mehrheitsfähiges Alternativkonzept - einen "dritten Weg" - entgegenzusetzen. Die Modernisierer der Sozialdemokratie wollen, anders als die Neoliberalen, einen "aktivierenden Staat", der durchaus noch reguliert, wenn auch innerhalb der Sachzwänge der Globalisierung und in Anpassung an die Gesetze des Marktes, denen in hohem Maße vertraut wird. Herauskommen soll dabei eine Gesellschaft, in der es möglichst viele Globalisierungsgewinner gibt, und in der das Heer der Globalisierungsverlierer dauerhaft in einem staatlich subventionierten Billiglohnsektor aufgefangen wird. Mit Idealen von sozialer Gerechtigkeit dürfte das wenig gemeinsam haben.

Das Sparprogramm von Schröder und Eichel weist in diese Richtung. Statt die Schaffung neuer Arbeitsplätze zum Kernpunkt einer Politik für mehr soziale Gerechtigkeit zu machen, wie es im Aufruf linker GewerkschafterInnen für eine andere Politik heißt (siehe die Dokumentation in diesem Heft), wird Arbeitslosigkeit nur verwaltet und der Abbau der von der Vorgängerregierung ererbten Staatsverschuldung zum Nonplusultra hochstilisiert. Die Umverteilung von unten nach oben geht weiter, Armut breitet sich weiter aus. Mit dem Sparprogramm von Schröder und Eichel werden die Reichen um weitere acht Milliarden Mark entlastet, während Beschäftigte und sozial Schwache mit weiteren 30 Milliarden belastet werden.

Es ist unschwer zu erkennen, wohin das führen wird. Seit langem hält sich ein fester Sockel von rund vier Millionen Arbeitslosen mit einem wachsenden Anteil von Langzeitarbeitslosen. Der Anteil derjenigen, die in prekären, ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen arbeiten müssen, wächst. Politik und Wirtschaft zeigen sich weder bereit noch fähig, dem Großteil der Arbeitswilligen Arbeit zu verschaffen. Die enormen Unterschiede in der Verteilung von Einkommen und Vermögen haben sich, wie die neue Caritas-Armutsstudie zeigt, dramatisch verschärft. Das untere Zehntel der Bevölkerung verfügt nur über vier Prozent des Gesamteinkommens, das obere Fünftel über ein Drittel. Mehr als sieben Millionen Menschen sind arm. Sie haben weniger als die Hälfte des durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommens zur Verfügung. Weitere 20 Millionen leben in prekären Einkommensverhältnissen und können jederzeit in die Armut abstürzen. Damit hat ein Drittel der Bevölkerung mit existenzieller Unsicherheit, wirtschaftlicher Sorge und mangelnder Daseinsvorsorge zu kämpfen.

Noch ungleicher sind die Vermögen verteilt. Im Westen gehört den unteren 30 Prozent aller Haushalte nicht einmal ein Hundertstel des Gesamtvermögens von knapp 7,2 Billionen Mark. Die oberen zehn Prozent verfügen über 41 Prozent aller Vermögen. Der Marsch in den Lohnsteuerstaat setzt sich derweil fort. Die Reichen verabschieden sich immer mehr von der finanziellen Beteiligung an den allgemeinen Aufgaben. Von 1980 bis 1997 stieg die Steuerbelastung auf Arbeitseinkommen von 41,4 Prozent auf 48,5 Prozent, die auf Gewinne und Vermögen sank dagegen von 22,1 Prozent auf 7,5 Prozent. Das sind nur einige ausgewählte Kennziffern, die erkennen lassen, was unter der "Gerechtigkeitslücke" zu verstehen ist.

Soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität werden auch künftig zu den Kernbegriffen linker Politik gehören. Wenn es damit konkret wird, tauchen aber kontrovers diskutierte Grundsatzfragen auf. Sie fokussieren sich in dem Gegensatzpaar Modernisierung und Gerechtigkeit. Es ist ja nicht nur der offene Neoliberalismus gescheitert (wenn auch sein Einfluss noch immer groß ist), auch die neokeynesianische Politik der staatlichen Nachfragestimulierung und des "deficit spending" der siebziger Jahre konnte die selbstgesteckten Ziele nicht erreichen und kann heute nicht unbesehen zum theoretischen Bezugspunkt linker Sozialpolitik werden. Wo sind also heute vor dem Hintergrund einer ökonomisch gravierend veränderten Ausgangslage, ohne Aussicht auf Vollbeschäftigung und Wachstum, unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Wettbewerbsdrucks und der Globalisierung, die Eckpunkte einer Politik für mehr soziale Gerechtigkeit zu sehen? Der Katalog der Fragen und Probleme ist lang.

Benötigt werden Konzepte für den Umbau der Verteilungs- und Vermögensverhältnisse. Klärung verlangt die Frage nach der künftigen Rolle des öffentlichen Sektors und nach den Aufgaben der Staatstätigkeit. Lassen sich Interessen an Flexibilisierung und Effizienzsteigerung mit Forderungen nach Re-Regulierung unter einen Hut bringen? Was ist mit der notwendigen Regulierung der Finanzmärkte? Welche Wege und Instrumente ermöglichen eine gesamtwirtschaftliche Steuerung der Kapitalakkumulation? Was bedeutet Modernisierung des Sozialstaats, wenn nicht dessen Demontage gemeint sein

soll? Wie kann der wirtschaftliche Strukturwandel im sozialen Sinn gesteuert und gestaltet werden? Es liegt auf der Hand: Mit der Frage nach einem zukunftsfähigen Konzept sozialer Gerechtigkeit sind auch Systemfragen aufgeworfen.

Hermann Klenner eröffnet den Schwerpunkt des Heftes mit einer ideengeschichtlichen Skizze zur Herausbildung des Gerechtigkeitsgedankens in der bürgerlichen Gesellschaft. Das Grunddilemma ist dabei der Gegensatz zwischen formaler und materialer Gleichheit. Dieser Gegensatz ist unter kapitalistischen Verhältnissen abzumildern, aber nicht zu lösen. Christoph Butterwegge analysiert die Dogmen von Neoliberalismus, Globalisierung und Sozialstaatsdemontage und weist ihren Zusammenhang mit Standortnationalismus und politischer Rechtsentwicklung nach. Er untersucht außerdem, wie Neoliberalismus und Marktradikalismus in Politik und Programmatik der Sozialdemokratie hineinwirken. Jörg Reitzig geht der Debatte um soziale Pakte und soziale Ungleichheit nach und stellt die Frage: Welche Gerechtigkeit ist modern? Gemeint ist der Konflikt um einen ‚neuen Gesellschaftsvertrag'. Seine Bilanz ist eher skeptisch: Soziale Pakte können zwar Anstöße für gesellschaftliche Reformprozesse geben, aber kein Ersatz für die Demokratisierung des öffentlichen Raums im Sinne politischer Partizipation sein. Gegenwärtig sieht es so aus, als trage z.B. das "Bündnis für Arbeit" dazu bei, jene fragwürdige These von der beschränkten Handlungsfähigkeit des Staates im Angesicht globalen Wettbewerbs zu bestätigen.

Harald Werner analysiert nicht nur Inhalte und Intentionen, sondern auch die Erfolgsaussichten des Schröder'schen Modernisierungsansatzes. Dabei zeigt er, wie der traditionsreiche Begriff der Solidarität ausgehöhlt wird. Wo "linke" Angebotspolitik dominiert, hat Solidarität als unverzichtbarer Leitbegriff der Arbeiterbewegung keinen Platz mehr. Dogan Göçmen gibt einen informativen Überblick über die hierzulande meist wenig beachtete und bekannte Diskussion der Marxschen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Moral in der angelsächsischen Literatur. Fritz Fiehler diskutiert die theoretischen Positionen von Rawls, Hayek und Margalit. John Rawls, der heute auch in der sozialdemokratischen Diskussion Einfluss ausübt, will Rechte, Einkommen, Vermögen und Selbstbewußtsein so verteilt sehen, dass keiner unter einen minimalen Bürgerstatus fällt. Dagegen hat Friedrich A. von Hayek die Betonung auf eine uneingeschränkte Erwerbstätigkeit gelegt, über die allein individuelle Freiheit und gesellschaftliche Wohlfahrt zu verwirklichen seien. Avishai Margalit stellt die Frage, inwieweit eine gerechte Gesellschaft auch eine anständige ist? Denn selbst bei Gewährleistung von Marktwirtschaft, parlamentarischer Demokratie und Wohlfahrt sind Demütigungen und Entwürdigungen von Menschen und Menschengruppen nicht auszuschließen.

Wir empfehlen den Leserinnen und Lesern von Z die Lektüre und Unterstützung des abgedruckten Aufrufs der Gewerkschaftslinken "Wir brauchen eine andere Politik", der den Begriff der sozialen Gerechtigkeit in den Mittelpunkt einer richtungsübergreifenden Initiative der Linken gegen die neoliberale Sozialstaatsdemontage rückt.

Zwei der weiteren Beiträge behandeln die Frage nach Kriegsursachen und Kriegslegitimation. Hans G Helms berichtet über den aktuellen Forschungsstand und marxistische Untersuchungen zu den kriegsauslösenden Expansionsinteressen und -strategien des deutschen Imperialismus, die in den zweiten Weltkrieg mündeten (Tagung der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung). Werner Goldschmidt setzt die Untersuchungen zu Ursachen, Legitimationsformeln und Folgen des Balkankriegs aus den letzten Heften von "Z" mit einer Kritik an der moralischen Kriegsrechtfertigung in der Perspektive einer "gerechten Weltordnung" fort.
Unter "weitere Beiträge" analysiert Keizo Hayasaka die Entwicklung des japanischen Kapitalismus mit Schwerpunkt auf den inneren Krisenprozessen und der Beziehung USA-Japan. Hansgeorg Conert stellt soziologische Untersuchungen zur kapitalistischen Transformation Rußlands vor. Georg Fülberth charakterisiert die "Neue Linke" in der Bundesrepublik als eine Bewegung der sechziger Jahre, die stark durch die Auseinandersetzungen des Kalten Krieges geprägt war und dann weitgehend in den neuen sozialen Bewegungen aufging. Thomas Collmer diskutiert das von Hans Heinz Holz in "Einheit und Widerspruch. Problemgeschichte der Dialektik der Neuzeit" entwickelte Dialektik-Konzept (vgl. auch die Besprechung in Z 37 von Reinhard Mocek).

Z 41 (März 2000) wird das Thema "Umbruch der Lebensweise" in den Mittelpunkt stellen, wobei das Augenmerk besonders auf die sozialen Prozesse und die psychische Verarbeitung des Modernisierungsschubs gerichtet wird. Z 42 wird die Entwicklung des Kapitalismus in Russland zum Hauptthema haben.

 
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