|
Heft 37,
Märx 1999,
10. Jhrg
Editorial
Wir eröffnen das vorliegende Heft mit einem Beitrag von Martin Hundt zur
Veröffentlichung von Band IV/3 der Marx-Engels-Gesamtausgabe. Nach sechsjähriger
Pause ist damit zum ersten Mal wieder ein Band der MEGA erschienen, und es ist
davon auszugehen, daß weitere Bände in rascherer Folge herauskommen
werden. Der vorliegende Band enthält Exzerpte und Notizen des jungen Marx
aus den Jahren 1845-1847, darunter auch die FeuerbachThesen, mit deren Aktualität
sich Wolfgang Förster in einem gesonderten Beitrag in Z 38 (Juni 1999) auseinandersetzen
wird.
Der Schwerpunkt des vorliegenden Heftes thematisiert "Arbeit und Politik".
Es geht um Veränderungen und Klassenbeziehungen in der Arbeit und den betrieblichen
Sozialbeziehungen wie um die Auseinandersetzung um die gesellschaftlichen Arbeits-
und Beschäftigungsverhältnisse (Beschäftigungssystem), d.h. Fragen,
die auch unter dem Stichwort "Zukunft der Arbeit" diskutiert werden.
Die für das Selbstbild der Bundesrepublik und für die Erfolgsstory des
Wohlstandskapitalismus so wichtigen Zeiten relativer Vollbeschäftigung liegen
lange zurück. Im historischen Rückblick erweisen sie sich als eine nur
kurzfristige Episode in der Geschichte des bundesdeutschen Kapitalismus und als
Ausdruck einer kaum wiederholbaren Sonderkonstellation der Nachkriegsperiode.
Die IG Metall unterstreicht in einem Material zur laufenden Tarifrunde, daß
die (registrierte) Arbeitslosigkeit Ende der neunziger Jahre auf ihrem Höchststand
seit der Nachkriegszeit verharrt, während die Lohnquote - der Anteil der
Löhne am Volkseinkommen - unter das Niveau der sechziger Jahre gefallen ist.
Der von Marx als "allgemeines Gesetz der kapitalistischen Akkumulation"
charakterisierte Zusammenhang von steigender Arbeitsproduktivität, "Überzähligmachung
von Arbeitern", industrieller Reservearmee, Überarbeit des beschäftigten
und "erzwungenem Müßiggang" des arbeitslosen Teils der Lohnabhängigen,
von Lohndruck einerseits und Bereicherung der Kapitalisten andererseits schlägt
auch in der vielgelobten modernen Zivilgesellschaft durch. Die Welt der Arbeit
ist elementares Feld der Auseinandersetzung von Lohnarbeit und Kapital.
Peter Strutynski fragt nach Veränderungen der Arbeit in den Kernbereichen
der materiellen Produktion in den letzten Jahrzehnten. Die Ansicht, die klassischen
Produktionskonzepte à la Ford und Taylor würden durch neue, gestaltungsoffenere
und humanere Arbeitsverhältnisse (lean production; neue Produktionskonzepte;
"Ende der Arbeitsteilung"; Postfordismus) abgelöst, ist nicht aufrechtzuerhalten.
Strutynski sieht hier nicht nur ein reales Zurückfahren arbeitspolitischer
Fortschritte, sondern auch theoretische Defizite der Industriesoziologie selbst,
die nicht gesehen habe, daß die "neuen" Konzepte der Produktions-
und Arbeitsorganisation durchaus kompatibel mit den klassischen Prizipien des
Fordismus-Taylorismus sind.
Bernd Röttger betrachtet die Ebene der betrieblichen Herrschaftsverhältnisse,
der "Unternehmenskultur" und Hegemonie. Er registriert den Anspruch
der Unternehmer, ihre durch Eigentums- und Aneignungsverhältnisse gegebene
Dominanz wieder uneingeschränkt zur Geltung zu bringen. Die beobachtbare
Zunahme an Mitwirkungsmöglichkeiten und die steigende Bedeutung von Betriebsräten
im Rahmen neuer Unternehmenskulturen geht dabei mit einer Abnahme ihrer interessenpolitischen
Wirksamkeit einher. Mitbestimmung soll zukünftig nur noch als Element der
betrieblichen Leitungs- und Entscheidungsstruktur, nicht aber im Sinne überbetrieblicher
Demokratisierung verstanden werden: Einschwörung auf eine "neue Friedensformel"
des Klassenkonflikts, die Verpflichtung von Belegschaften und Belegschaftsvertretungen
auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit "ihres" Unternehmens.
Bei der Modernisierung der Unternehmen rücken neben der technischen Rationalisierung
die Strukturen, Abläufe und das Management selbst in den Mittelpunkt, was,
so Heinz Bierbaum, mit einer relativen Aufwertung der menschlichen Arbeit im betrieblichen
Leistungsprozeß verbunden ist. Gegenüber der direkten Kontrolle gewinnen
dabei kulturelle Integrationsmomente (Unternehmenskultur) eine größere
Bedeutung. Trotz der Dominanz unternehmerischer Zielsetzungen gilt es, so Bierbaum,
in den neuen Modernisierungstrategien enthaltene emanzipatorische Elemente auch
im Interesse der Belegschaften selbst zu nutzen.
Hans Jürgen Urban ruft die Vielschichtigkeit der ehemaligen Debatte um die
Zukunft der Arbeit in Erinnerung, um einige zentrale Bedeutungs- und Problemdimensionen
von Arbeit zu benennen, ohne deren Berücksichtigung jegliche beschäftigungspolitische
Offensive hinter den bereits erreichten Diskussionsstand zurückzufallen droht.
Heute würde diese Debatte z.T. auch auf der Linken seltsam defensiv und konservativ,
"emanzipatorisch erblindet" geführt. Urban setzt sich mit den strategischen
Zielen der Unternehmer im Zusammenhang mit dem Bündnis für Arbeit auseinander
("Wettbewerbskoalition") und entwickelt Umrisse eines neuen Leitbildes
von Erwerbsarbeit.
Joachim Bischoff ("Gesellschaftliche Arbeit im 21. Jahrhundert") konstatiert
eine neue Qualität sozialer Spaltung, Folge des tiefgreifenden Transformationsprozesses
der kapitalistischen Hauptländer seit den 70er Jahren, der die "Aufkündigung
des asymmetrischen Klassenkompromisses der fordistischen Entwicklungsetappe"
einschließt. Bischoff sieht keine Aussichten für eine neue "Prosperitätskonstellation".
Insofern sei ein Ende der chronischen Krise der fordistischen Entwicklungsperiode
und der Übergang zu einem neuen Entwicklungsstadium nicht in Sicht. Ein Rückgang
der chronischen, gegenwärtig bei etwa sieben Millionen Erwerbspersonen liegenden
Unterbeschäftigung sei - und dies aus demographischen Gründen - erst
etwa in zehn Jahren zu erwarten, die verschärfte internationale Konkurrenz
werde auch in den nächsten Jahren zu hohem Rationalisierungsdruck und beschleunigtem
Strukturwandel führen. Die Haupttrends - Rückgang der Vollzeiterwerbstätigkeit,
Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses, Ausweitung von Teilzeitbeschäftigung
und Niedriglohnsektor - würden weiter anhalten. Zu den Grundtrends, die Bischoff
in diesem Kontext diskutiert, gehören die Erosion der traditionellen Familienstruktur;
die Destabilisierung der sozialen Sicherungssysteme durch die Massenarbeitslosigkeit;
die Flexibilisierung und die Tendenz zur Verlängerung von Arbeitszeiten;
die wachsende Bedeutung des tertiären Sektors und des Gewichts von allen
Formen der Nicht-Erwerbsarbeit.
Die klassischen Konzepte der Beschäftigungspolitik - Kaufkraftstärkung,
Arbeitszeitverkürzung - werden, so Harald Werner, die Beschäftigungskrise
bestenfalls dämpfen, aber nicht beseitigen können. Eine Rückkehr
zur alten Vollbeschäftigung ist angesichts steigender Arbeitsproduktivität
und begrenzter Wachstumsmöglichkeiten ausgeschlossen. Werner sieht die eigentliche
Krise der Arbeitsgesellschaft nicht darin, daß die Arbeit ausgeht, sondern
in der Beschränktheit der kapitalistischen Ökonomie, die eine Umschichtung
der überschüssigen Arbeit auf gesellschaftlich nützliche (aber
nicht unmittelbar produktive und profitable) Felder verhindert. Folge sei eine
Krise nicht nur der natürlichen, sondern auch der sozialen Reproduktionsgrundlagen
der Gesellschaft. Als politisches Projekt wird die Konzentration des gesellschaftlichen
Arbeitspotentials auf einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor
(ÖBS) der sozialen und ökologischen Modernisierung vorgeschlagen.
Die Schwerpunktbeiträge dieses Heftes beschließt Wulf D. Hund mit einer
Darstellung zur Geschichte des philosophischen Arbeitsbegriffs im europäischen
Denken, bei der die Verknüpfung von Selbstentwicklung, Entfremdung und Herrschaft
im Begriff der Arbeit in den Mittelpunkt gerückt wird.
Unter den weiteren Beiträgen machen wir besonders aufmerksam auf Erich Hahns
Diagnose zu Ursachen, Formen und Bedingungen der anhaltenden Hegemonie des Neoliberalismus
und Neokonservatismus, und auf Wolfgang Eichhorns Untersuchung zur Historizität
des begrifflichen Inhalts von "Revolution" im 20. Jahrhundert. Weitere
Aufsätze befassen sich mit der Linken in Frankreich (Badia/Becker), mit Jugendlichen
in den USA (Sebastian Meissner in Fortsetzung von Z 35) und mit der Frage, ob
der sich globalisierende Kapitalismus auf den Nationalstaat angewiesen ist (Maziar
Jafroodi).
In Z 38 (Juni 1999) werden wir den mit diesem Heft begonnenen Schwerpunkt "Arbeit
und Politik" fortsetzen. Im Mittelpunkt des darauffolgenden Heftes (Z 39,
September 1999) sollen Ursachen und Implikationen der aktuellen Konzentrations-
und Fusionsprozesse in der Konzernwirtschaft stehen.
|