Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 36, Dezember 1998, 09. Jhrg

Editorial

Auf der Linken ist nach der ersten Befriedigung über das Wahlergebnis und das "Rollen der Köpfe" in Bonn relativ rasch Ernüchterung eingezogen. Die Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen und die ersten Schritte der Regierung wurden generell, gemessen am Versprechen einer "neuen Politik", als unzureichend beurteilt. Das gilt besonders für das Zentralproblem Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Ein schlüssiges Konzept war hier nicht erkennbar. Ein der sozialliberalen Reformphase nach 1969 vergleichbares, mobilisierendes Generalthema ("mehr Demokratie wagen") hat die neue Koalition bisher nicht.

Insgesamt ist die sozialpolitische Konstellation durch eine bemerkenswerte "Ambivalenz" gekennzeichnet. Auf der politischen Ebene haben die Konservativen - in der Diktion der FAZ: das "bürgerliche Lager" - eine massive und sie vermutlich auf längere Sicht schwächende Niederlage einstecken müssen. Das Ende der Ära Kohl war dabei in erster Linie eine Folge der Erosion der sozialen Basis der CDU-Herrschaft: Die Konservativen hatten den Bogen deutlich überspannt. Unter dem Druck der sozialen Polarisierung haben sich beachtliche Teile von Arbeitern und Angestellten, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten den Entstaatlichungs- und Aufstiegsversprechen der CDU gefolgt waren, wieder ein Stück auf die Wertewelt der Sozialdemokratie zurückorientiert. Das Verlangen nach mehr Gerechtigkeit und sozialer Absicherung war dabei von wesentlicher Bedeutung. Hier liegt die Hauptbotschaft des Wahlergebnisses. Sie hat sogar, rein rechnerisch, zu einer absoluten linken Mehrheit im Bundestag geführt, bei der auch mit der PDS als sozialistischer Alternative links der SPD kalkuliert werden muß, und in deren Windschatten erstmals zu einer Koalition von SPD und PDS in Mecklenburg-Vorpommern. Das alles bedeutet auch ein Stück mehr politische Normalität, mit neuen Chancen und Schwierigkeiten. Mehrere Berichte in diesem Heft beleuchten die Situation und die Diskussion der Linken nach den Wahlen.

Aber es wäre eine Illusion, bei allem Druck in Richtung mehr soziale Gerechtigkeit zu ignorieren, daß sich die neoliberale "Standort"-Ideologie - Sicherung der Konkurrenzfähigkeit und Rentabilität der Betriebe, der Unternehmen und des "Standorts Deutschland" in der "globalisierten" Welt - tief ins politische Massenbewußtsein eingegraben hat. Das ist eine Erbschaft, die nicht nur den 16 Jahren Kohl-Herrschaft zu verdanken ist, sondern bis in die zweite Hälfte der siebziger Jahre zurückreicht, Folge der Massenarbeitslosigkeit ist, und die auch durch den Zusammenbruch des "Staatssozialismus" befördert wurde. Um so wichtiger, daß jetzt eine Gegenreaktion eingesetzt hat.

Gewählt wurde eine SPD bzw. Regierungskoalition, deren Modernisierungs- und Reformkonzeption gleichfalls in hohem Maße - wenn auch gemäßigt - vom Neoliberalismus beeinflußt ist, wie dies - in abgestufter Form - für die gesamte nun in fast ganz Westeuropa dominierende Sozialdemokratie gilt. Die vielerorts auf der Linken geäußerte Hoffnung auf innere Auseinandersetzungen und Differenzierungen in der SPD und der Regierung zwischen neoliberalen und eher neokeynesianischen Tendenzen dürfte jedoch zumindest solange nicht erfüllt werden, wie sich in der sozialen Basis der Gesellschaft keine wesentlichen Kräfte-Veränderungen zeigen. Die relative Gelassenheit, mit der die Unternehmerverbände und die Medienkonzerne - die ihre Macht im Wahlkampf z.B. bei der Benzinpreis-Diskussion nachhaltig unter Beweis gestellt hatten - auf den Regierungswechsel reagiert haben, ergibt sich eben daraus, daß die Wirtschaft von sozialen Bewegungen in allen Schlüsselfragen, die die "Standortsicherung" betreffen, zumindest derzeit wenig zu befürchten haben. Aber nur, wenn sich hier etwas tut, dürfte wirklich das Ende des Neoliberalismus näher rücken. Das Wahlergebnis hat mit den in ihm zum Ausdruck gekommenen Erwartungen bei vielen Lohn- und Sozialabhängigen günstigere Bedingungen geschaffen, darum zu kämpfen. Das Feld, auf dem diese Auseinandersetzung in der näheren Zukunft auszutragen sein wird, ist das der Verteilungspolitik, der Arbeitszeitverkürzung und - mit Blick auf die interne Gewerkschaftsdiskussion - das der Auseinandersetzung um das anvisierte Bündnis für Arbeit, also das Feld, wo es um "harte" Interessen der Unternehmer geht. Dieses Terrain auszuleuchten wird auch Gegenstand der nächsten Hefte von Z sein.

Den Schwerpunkt dieses Heftes bilden Beiträge zum Thema "Globalisierung und Peripherie". Im Mittelpunkt stehen dabei Fragen nach den Chancen nachholender Entwicklung für die Länder und Regionen der Peripherie, und damit auch Fragen nach Konfliktlinien und Veränderungekräften. Fidel Castro skizziert in seiner Rede auf der Gipfelkonferenz der nichtpaktgebundenen Staaten in Durban die Vision einer vom hegemonialen Machtanspruch des Imperialismus befreiten Welt. Hans-Joachim Höhme untersucht die internationale kapitalistische Finanzkrise, auch mit Blick auf Asien und Rußland, und wertet sie als Ausdruck einer Krise der neoliberalen Globalisierung. Ob daraus ein Paradigmenwechsel erwachsen kann, wird allerdings auch von der Herausbildung regulierender Gegenkräfte abhängen. John P. Neelsen stellt die Frage nach dem Verhältnis von peripherer Gesellschaftsformation und internationaler Klassensolidarität. Mit Bezug auf das "Kommunistische Manifest" führt er aus, daß der Kapitalismus zwar, wie von Marx und Engels prognostiziert, den Weltmarkt hervorgebracht hat. Die andere Seite dieser Prognose, damit werde sich auch eine in ihrer Interessenlage weitgehend homogenisierte, kampfbereite internationale Arbeiterklasse herausbilden, hat sich aber nicht bewahrheitet. Neelsen macht sich im Marxschen Sinne daran, die unter den Bedingungen der Globalisierung in den peripheren Ländern erkennbaren Konfliktlinien und -strukturen zu analysieren. Dieter Boris untersucht die verheerenden Wirkungen der neoliberalen Globalisierungspolitik auf Lateinamerika und skizziert denkbare Alternativen. Jörg Goldberg beschreibt die Beharrungskräfte, die in Afrika, vor allem in seinem subsaharischen Teil, einer kapitalistischen Modernisierung entgegenstehen und konstatiert einen Teufelskreis von Modernisierungskrisen, Rückzug in Überlebensstrategien und gesellschaftlicher Desintegration. Rainer Weming erläutert die konkreten Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung am Beispiel der Herrschaftskrise und der Krisenherrschaft in Indonesien. Schließlich untersucht Helmut Peters Stand und Perspektiven der Integration Chinas in den kapitalistischen Weltmarkt. Er skizziert die Reformkonzeption der Staatsführung und prüft die Chancen Chinas für eine geordnete Eingliederung in die Weltwirtschaft bei Beibehaltung sozialistischer Grundstrukturen.

Drei der "weiteren Beiträge" des vorliegenden Heftes befassen sich mit philosophischen Fragestellungen. Domenico Losurdo (Urbino) gibt eine unnachsichtige Kritik der sogenannten "liberalen Tradition" und zeigt, daß deren Pochen auf unbedingter Verteidigung der Freiheitssphäre der Individuen immer mit dem Ausschluß großer gesellschaftlicher (sozialer oder ethnischer) Gruppen eben von dieser Freiheit verbunden war - wie mit der Bereitschaft, im "Ernstfall" die individuellen Freiheitsrechte diktatorischer Herrschaft zu opfern. Er plädiert gegen die Geringschätzung der bürgerlich-demokratischen Rechte in der marxistischen Tradition und für den bewußten Umgang mit dem immer wieder auftretenden Konflikt zwischen verschiedenen Freiheiten (Sicherung materieller Lebensbedingungen; politische Rechte). Thomas Collmer setzt seine in Z 35 begonnene Dechiffrierung und Interpretation des "Anti-Ödipus" von Deleuze und Guattari fort. Der Kontroverse Marx-Nietzsche ist der Beitrag von András Gedö (Budapest) gewidmet. Er gibt einen Überblick über die Versuche einer Versöhnung der beiden Antipoden und votiert vehement für Marx als Alternative zum nietzeanischen Denken. Helmut Steiner untersucht das politische und gesellschaftstheoretische Denken einer zu Unrecht wenig beachteten sozialistischen Theoretikerin, der russischen Revolutionärin und Weggefährtin wie Kritikerin Lenins, Alexandra Kollontai. Der Bericht von Dorothee Wolf nimmt erneut das Wert-Preis-Transformationsproblem auf, das in Z bereits mehrfach thematisiert wurde.

Zum Schluß eine - aus der Sicht der Redaktion - gute und eine schlechte Nachricht. Z - immer auf praktische und finanzielle Unterstützung angewiesenes Projekt auf Zeit, dessen Realisierungsmöglichkeiten stets neu geprüft werden müssen - geht 1999 in den 10. Jahrgang. Nächster Themenschwerpunkt: "Zukunft der Arbeit/Arbeit der Zukunft". Zugleich müssen wir nach fünf Jahren "Preisstabilität" den Abo-Preis um 6,- DM anliften; das Jahresabo kostet damit ab H. 37 (März 1999) DM 60,- (Auslandsabo DM 70,-). Dafür besteht die Möglichkeit, ältere Hefte zu einem deutlich reduzierten Preis zu bestellten. Anzeige in diesem Heft!

 
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