Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 35, September 1998, 09. Jhrg

Editorial

Bei der Bundestagswahl 1990 hatte die nationale Euphorie Kohl und die CDU aus dem Stimmungstief der Vorwahlzeit gerissen. Heute setzt die CDU auf den konjunkturellen Aufschwung. Aber der Spruch, daß das politische Wetter in der Wirtschaft gemacht wird, gilt in Zeiten der Entkoppelung von Profit und Beschäftigung nur in abgewandelter Form. Die gut im Hafer stehenden Pferde lassen die Spatzen nicht satt werden. Der Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt, letzte Hoffnung der Union im Wahlkampf, stellt sich trotz kurzfristiger ABM-Spritzen nicht in der erwünschten Form ein. So läßt sich das verbreitete Unbehagen an politischer Stagnation und am Skandal der Massenarbeitslosigkeit nicht wegdopen. Bei "denen da unten" ist von einem entschlossenen Willen, mit politischem Druck und Mobilisierung eine Alternative zu erzwingen, wenig zu spüren. Die sich abzeichnende Erosion der CDU-Herrschaft wächst eher aus enttäuschten Erwartungen und nachlassender Bereitschaft, das System Kohl weiter zu stützen. Diese schwindende Integrationskraft ist es auch, die den Meinungsumschwung bei den "Führungskräften" bewirkt hat. Die Agenten des Kapitals stellen sich auf einen Wechsel ein, auch wenn ihnen Kohl lieber wäre. So zumindestens das Szenario Anfang September.

"Die Kohl-Ära ist am Ende." Oskar Negt hat Recht mit dieser Feststellung (in seiner Broschüre "Warum SPD?") und der Betonung, daß ein Entwicklungsabschnitt der Bundesrepublik zu Ende geht. Das gilt auch dann, wenn man den Vergleich mit dem Ende der Adenauer-Ära eher skeptisch sieht und die Erwartung nicht teilt, daß mit dem SPD-Kandidaten Schröder ein "wirklicher Politikwechsel" in die Wege geleitet wird. Die Bilanz der Kohl-Ära und die Verfassung der SPD sind Gegenstand zweier kürzerer Beiträge in diesem Heft (vgl. die Beiträge von Jürgen Reusch und Horst Dietzel u.a.) - beide Fragestellungen werden uns auch in der nächsten Zeit beschäftigen.

Negt betont - und auch dies zu Recht - die Notwendigkeit, die unheilvolle Hinterlassenschaft der Ära Kohl aufzuarbeiten, "die Aufklärung jener Wirklichkeitsschichten..., in denen neues, zunächst überwiegend sprachloses Unheil für unsere Gesellschaft heranwächst. ... Die Zukunftslosigkeit von Jugendlichen ist ein wesentliches Element der gesellschaftlichen Katastrophen, mit denen wir es zu tun haben werden." Die Situation von Jugendlichen, die in einer Umwelt heranwachsen, die durch Perspektivlosigkeit geprägt ist und ihr die Utopien entziehen will, ist Hauptthema dieses Heftes. Es geht um die soziale Situation von Jugendlichen, um soziale Orientierungen, Formen ihres Widerstandes und um den Umgang der Gesellschaft mit ihren Jugendlichen.

Der Beitrag von Hans Jörg Schimmel, Lars Gutsche und Christan Dittmeyer greift in die Strukturdebatte über die Schule ein. Er knüpft an die auf halbem Wege steckengebliebene Umstrukturierung des Schulwesens in Richtung Gesamtschule an, zeigt deren Ablösung durch das neoliberale Konzept der "Eliteförderung" auf und weist abschließend auf die Defizite wie auf die Dringlichkeit einer Weiterentwicklung des in den 70er Jahren propagierten Konzepts der "Demokratischen Erziehung" hin. Rolf Schmucker befaßt sich mit den Ursachen der zunehmenden Distanz zwichen Jugendlichen und Gewerkschaften, die keinesfalls nur als Entpolitisierung jugendlichen Engagements für die Sicherung von Zukunftsperspektiven zu verstehen ist; Uta Schlegel mit den Umbrüchen der sozialen Lage junger Frauen in den neuen Bundesländern und den widersprüchlichen Formen der Verarbeitung des deutschen Vereinigungsprozesses in der Perspektive einer demokratischen Geschlechterpolitik. Torsten Bultmann und Sabine Kiel charakterisieren anhand umfangreicher empirischer Untersuchungen einen neuen Typus von Studierenden, deren politische Sozialisationsbedinungen kaum länger von denen der inzwischen pensionsreifen 68er-Generation her erfaßbar sind. Henning Böke unterzieht das Umfeld und die politischen und theoretischen Kader der im jüngsten Hochschulstreik forciert um ihre Profilierung bemühten Linksruck-Strömung einer eingehenden kritischen Würdigung. Die Beiträge von Mark Einig und Günther Orlopp sind den Problemen der sozialpädagogischen Arbeit zum einen mit dem jugendlichen Rechtsextremismus, zum anderen mit MigrantInnenjugendlichen gewidmet. Mark Einig beschäftigt sich mit der vor allem in den neuen Bundesländern praktizierten "akzeptierenden Jugendarbeit" mit rechtsextremen Jugendlichen. Ohne den Sozialarbeitern vor Ort das Engagement für eine demokratische Jugendarbeit vorweg absprechen zu wollen, gilt seine Kritik einem Konzept, dem eher eine Alibifunktion für einen zunehmenden strukturellen Rechtsextremismus der gesellschaftlichen "Mitte" und einen institutionellen Rassismus zukommt. Günther Orlopp legt die von alltäglichen Ausgrenzungserfahrungen geprägten Sozialisationsbedingungen von ImmigrantInnenjugendlichen dar und richtet den Blick auch auf die notwendige Selbstreflexion der Berufspraxis von PädagogInnen, die aufgrund ihrer eigenen individuellen und beruflichen Sozialisation nicht gegen Ausgrenzungspraktiken gefeit sind.

Die Ära Kohl hatte bekanntlich mit Forderung nach einer "geistig-moralischen Wende" begonnen. Im Mittelpunkt stand immer das Geschichtsbild. Geschichte ist Kampffeld geistiger Orientierungen. Der politische Angriff der Rechten in Frankreich wurde begleitet vom Kampf um die Interpretation der Französischen Revolution. Das "Schwarzbuch des Kommunismus" (vgl. den Beitrag von Kurt Pätzold) steht in dieser Tradition und ist Teil des umfassenderen Versuchs, Utopien jenseits des Horizonts der bürgerlichen Gesellschaft ein für allemal für gescheitert zu erklären. Dieser Geschichtsrevisionismus kann freilich vor der eigenen Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft nicht Halt machen; darauf hatte schon Helmut Bleiber in Z 34 (Juni 1998) hingewiesen. Eberhard Dähne bespricht die Frankfurter Ausstellung zum 150. Jubiläum der Revolution von 1848/49. Eine Ausstellung, die faktisch leugnet, daß sich das Paulskirchenparlament einer Volksrevolution verdankte. Johann Jacobi, der für die Verfassungskampagne mehr geleistet hat als irgendein anderer, wird als Linker in dieser Ausstellung fast vollständig verschwiegen. Ihm ist der Aufsatz von Hans G Helms gewidmet. Gegen eine Geschichtsabwicklung besonderer Art protestieren in einem Offenen Brief zahlreiche Historiker des 2. Weltkriegs aus der ehemaligen DDR.

Die weiteren Beiträge betreffen die Asienkrise (Choon-Kweon Koo über Südkorea), Chile 25 Jahre nach dem Putsch (Peter Hiedl), die politische Entwicklung Algeriens (Sabine Kebir). Heuer und Schinner untersuchen vor dem Hintergrund aktueller Interventionspläne das Verhältnis von Menschenrechten und Großmachtpolitik. Hansgeorg Conert entwickelt Vorstellungen demokratischer sozialistischer Vergesellschaftung. Thomas Collmers Beitrag ist der Versuch einer an dialektischer Theorie orientierten Lektüre poststrukturalistischer Positionen im "Anti-Ödipus" von Gilles Deleuze und Felix Guattari.

Wir setzen in diesem Heft Berichterstattung und Diskussion zum Manifest-Jubiläum mit einer "afrikanischen Intervention" von Francis B. Nyamnjoh und Kai Schmidt-Soltau sowie Berichten zu den Manifest-Tagungen in Paris (Arnold Schölzel) und Wuppertal (Jana Frielinghaus) fort.

Die Schwerpunkte der nächsten Z-Hefte werden die Entwicklungsbedingungen peripherer Länder unter den Auspizien der Globalisierung betreffen (Z 36, Dezember 1998) und "Zukunft der Arbeit" (Z 37, März 1999). Die Redaktion ermuntert zu Anregungen und Angeboten - aber natürlich nicht nur für diese Schwerpunktthemen, sondern auch für die anderen Rubriken der Zeitschrift.

 
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