Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 32, Dezember 1997, 08. Jhrg

Editorial

In der Bundesrepublik hält der Trend des konservativen Gesellschaftsumbaus unter neoliberalen Vorzeichen (vgl. Z 31) unvermindert an. Bei anziehender Konjunktur wird auch 1998 die industrielle Reservearmee nicht abgebaut, die Realeinkommen der Lohn- und Sozialabhängigen werden sinken und die Kapitalrenditen werden weiter nach oben gehen. Die Deutsche Bank hat für das laufende Jahr einen Gewinnsprung in Rekordhöhe angekündigt. Die Polarisierung der Gesellschaft nimmt zu. Dennoch geht der herrschenden Klasse dieser Gesellschaftsumbau nicht rasch und nicht radikal genug voran. DIHT-Präsident Stihl beklagt, "daß die Sozialhilfe insgesamt zu hoch ist und die Arbeitslosenhilfe zu lange bezahlt wird. Der Zwang zur Arbeitsaufnahme besteht nur auf dem Papier." Sein Problem: "Wir können nicht auf einen Schlag das gesamte Sozialniveau absenken, ohne daß die Sozialpolitiker aller Couleur aufschreien." (Wirtschaftswoche v. 2.10.1997) Neben den Knüppel der Massenarbeitslosigkeit und das Verlangen nach autoritäreren Gesellschaftsstrukturen - die vom BDI-Chef Henkel aufgeworfene Systemfrage findet im Lamento der Elite-Forschung, die Eliten wollten nicht führen, und der Klage konservativer Verfassungsexperten, "der Autoritätskern unserer Verfassung sei gewissermaßen ausgeweidet" (Hennis), ihr Echo - hat folglich auch die taktische Variante des Aufweichens sozialer Widerständigkeit zu treten. Bezüglich des auf dem CDU-Parteitag von Schäuble in die Diskussion gebrachten "Kombi-Lohns" spricht Stihl von einer "Krücke", weil hier der Staat noch eingeschaltet werden muß, und von der Taktik des trojanischen Pferdes, mit dem den Gewerkschaften und den Sozialpolitikern die Diskussion um Niedrigtarife aufgezwungen werden solle.

Konservativer Gesellschaftsumbau wird auch im Rahmen der europäischen Integrationskonzeption verfolgt, wie sie mit den Vereinbarungen von Maastricht und Amsterdam festgelegt worden ist. Die Bundesrepublik spielt dabei die treibende Rolle. "Ein wichtiger Teil unserer Antwort auf die Globalisierung heißt Europäisierung" (Kohl auf dem CDU-Parteitag).

Die in früheren Studien von Reinhard Opitz glänzend analysierten Europastrategien des deutschen Großkapitals sind in ihren heutigen Varianten Teil der globalisierten Standortkonkurrenz. Es wäre ein Trugschluß zu glauben, sie hätten ihren expansiven Charakter verloren. Die Europaidee erweist sich dabei als Vehikel eines "hegemonialen Übernationalismus", um eine Formulierung von Manfred Kossok aufzugreifen. Es geht um die Schaffung einer in der Triadenkonkurrenz stabilen politischen und Wirtschaftsmacht unter bundesdeutscher Hegemonie. Die Maastricht-Kriterien sind dabei das Symbol für die Durchsetzung eines rigiden Austeritäts-Kurses im Innern der Beitritts-Kandidaten geworden. Ihre Durchsetzung zielt nicht nur auf die Verwohlfeilerung von Arbeitskraft, sondern umfassender auf den Abbau von sozialstaatlichen Elementen und sozialpolitischen Funktionen des Staates, die in der durch ökonomische Prosperität und die politische Wirkung der Systemkonkurrenz geprägten Nachkriegsperiode durchgesetzt wurden. Als Ergebnisse damaliger sozialer Kräftekonstellationen wie als seinerzeit bewußt geschaffene Institutionen zur gesellschaftspolitischen Beeinflussung der Klassenverhältnisse stehen sie heute zur Disposition: times have changed. Doch ist dies ein Prozeß, der zunehmend Widerstand auslöst - in der Bundesrepublik, folgt man den verschiedenen Umfragen, zumindest sich latent aufbauend, in anderen westeuropäischen Ländern durchaus manifest geworden. Die Krise der italienischen Prodi-Regierung und die Neuthematisierung der Arbeitszeitverkürzung in Frankreich und Italien dürfen als jüngste Indizien betrachtet werden. Dennoch bleibt die Frage, ob sich hier ein neuer Zyklus sozialer Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe in Europa ankündigt, vorerst noch nicht zu beantworten. Im vorliegenden Heft geht es daher zuerst um eine Bestandsaufnahme des EU-Integrationsprozesses nach der Amsterdamer Konferenz auf europäischer Ebene und in einzelnen westeuropäischen Ländern. Es werden Beiträge aus und über Deutschland, Frankreich, Italien, England, Schweden, Finnland, Dänemark und Norwegen vorgestellt.

Der in Amsterdam beschlossene Stabilitäts- und Wachstumspakt ist, so die Sicht von Jörg Huffschmid, Ergebnis einer zusätzlichen Verschärfung des neoliberalen Stabilitätskurses in Europa. Dennoch zeichnen sich "Risse im Gebälk" der europäischen Integrations-Konstruktion ab - zunehmende soziale Konflikte, Abstriche bei der Währungsunion, machtpolitische Grenzen der EU-Expansion, vorläufiges Scheitern der europäischen politischen Union. Veränderungen des Integrationsprozesses sind insofern bei entsprechender Gegenwehr denkbar.

Im folgenden untersuchen Leo Bieling und Jochen Steinhilber, mit welchen theoretischen Konzeptionen in den Politikwissenschaften der Integrationsprozeß interpretiert wird. Der französische Marxist Paul Boccara entwickelt eine währungspolitische Alternative für Europa, die eine gemeinsame europäische Währung in Verbindung mit den nationalen Währungen vorsieht und Möglichkeiten für die Zurückdrängung der Dominanz der Finanzmärkte und für Beschäftigungs- und Ausbildungsinitiativen schaffen soll. Bruno Carchedi skizziert die heutige Umbruchskrise in Italien und die Haltung der italienischen Linken zum Integrationsprozeß. Über die Vorhaben der Labour-Regierung und soziale Konflikte in Großbritannien berichtet Jörg Cezanne.

Vier Beiträge sind der Entwicklung in den skandinavischen Ländern Schweden, Finnland, Dänemark und Norwegen gewidmet (Michelsen, Klöer, Fuhrmann, Holst). Auf diese "Musterländer" sozialdemokratischer Politik und "wohlfahrtsstaatlicher Institutionen" wirken Weltmarktkonkurrenz, Neoliberalismus und EU-Integration in unterschiedlicher Weise. Finnland ist besonders vom Zusammenbruch der Sowjetunion betroffen. Die sozialdemokratischen Parteien befinden sich überall auf der Suche nach einem "neuen Projekt", wobei Flexibilisierungsansätze eine wichtige Rolle spielen. Für die EU-Entwicklung insgesamt stellt sich die Frage, ob der Beitritt von Schweden und Finnland im Rahmen der EU neue Ansatzpunkte für eine Sozial- und Beschäftigungspolitik eröffnen kann, oder ob umgekehrt die neoliberal-monetaristische Integrationspolitik zur Erosion der "universalistischen Wohlfahrtsstaaten" des Nordens (so die von den AutorInnen verwendete Typologie) führen wird.

Ein zweiter Schwerpunkt des vorliegenden Heftes ist Problemen der Dritten Welt gewidmet. Sie betreffen Auswirkungen der Globalisierung auf die "Peripherie" (lohn Neelsen), linke Kommunalpolitik in Lateinamerika (Pont), Probleme der Entwicklung des kubanischen Sozialismus (Peter Hiedl) und eine kritische Bewertung der Entwicklungspolitik (Kai Schmidt-Soltau).

Die "weiteren Beiträge" thematisieren verschiedene Aspekte der Gesellschaftsentwicklung: Beschäftigungsabbau bei steigender Produktivität und Produktion sowie Produktionsverlagerung der Automobilindustrie (Dietmar Düe); die expandierende Computerwelt (Cyberspace, Hans G Helms); Geschlechter- und Klassenverhältnisse (Monika Domke) und Neubewertung von "Reproduktionsarbeit" (Anneliese Braun). Reinhard Schweicher diskutiert Werner Seppmanns Beitrag zur "Postmoderne" aus Z 31 und empfiehlt einen dialektischeren Umgang mit der postmodernen Philosophie.

Die Berichte betreffen Tagungen in Frankreich und der Bundesrepublik sowie Archiv-Veröffentlichungen von und zu Georg Lukács (anknüpfend an die Lukács-Veröffentlichung in Z 31). Schwerpunkte des Rezensionsteils sind gesellschaftstheoretische und historische Studien.

Die Herausgeber von Z (Forum marxistische Erneuerung e.V. und IMSF e.V.) freuen sich, daß Kai Michelsen, Politikwissenschaftler aus Marburg/Frankfurt/M., als neues Mitglied der Redaktion von Z gewonnen werden konnte.

 
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