Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 31, September 1997, 08. Jhrg

Editorial

Bei Erscheinen dieses Heftes liegen die Wahlen in Frankreich gerade ein Vierteljahr zurück. Sie haben die politische Konstellation in Europa deutlich verändert (vgl. den Beitrag von Jochen Steinhilber). Trotzdem bleibt die Frage nach den Alternativen und Handlungsmöglichkeiten der Linken. Frankreich wird zu einem ersten "Testfeld", ob und wie der sozialen Polarisierung und der Politik für die Reichen im Zeichen der "Globalisierung", wie sie der Neoliberafismus in den letzten beiden Jahrzehnten in Europa forciert hat, nicht nur entgegengesteuert, sondern die Luft genommen werden kann. Der Amsterdamer EU Gipfel hat mit dem Durchziehen der deutschen Position für deren Erfolg auch das Bündnis mit Tony Blairs neuer Labourregierung von Bedeutung war und mit der faktischen Absage an jede Beschäftigungspohtik in Europa die gegenwärtigen Grenzen gezeigt.

Das gilt auch für den Kampf um das belgische Renault Werk Vilvoorde. Vilvoorde ist insofern symbolträchtig, weil es einen länderübergreifenden in der Bundesrepublik allerdings kaum registrierten, geschweige denn wirkungsvoll unterstützten Arbeiterprotest ausgelöst hat, also ein Element der Kooperation "von unten", wie es auf dem Treffen der Gewerkschaftslinken in Frankfurt als unabdingbar eingefordert wurde, wenn dem Europa des Finanzkapitals Paroli geboten werden soll (vgl. den Bericht zu diesem Treffen, S. 184ff.). Vilvoorde wird trotzdem, wenn auch mit sozialer Abfederung, geschlossen. Auch hier gilt die Feststellung: "Die Frage löst sich auf in die Frage nach dem Kräfteverhältnis der Kämpfenden". Die Probleme der EU Integration nach Amsterdam Charakter des Integrationsprozesses und Eingriffsmöglichkeiten, Widersprüche auf der Ebene einzelner Länder und Regionen, soziale Bewegungen in Westeuropa werden den Thernenschwerpunkt von Z 32 (Dezember 1997) bestimmen.

Die von der Bundesregierung unter dem Diktum der Maastricht Kriterien verfolgte Austeritätspolitik hat die Europapläne des bundesdeutschen Kapitals und dessen Hegemonialinteressen unbeirrt im Blick. Wenn sie trotzdem von tonangebenden Zeitungen und den Unternehmerverbänden zunehmend harsch angegangen wird, so nicht wegen der sozialen Erosionen und Kosten, die sie zur Folge hat, sondern wegen der unter dem Stichwort "Politikverdrossenheit" registrierten politischen Erosion. Als besonders unangenehm wurde dabei festgehalten, daß die Unzufriedenheit mit dem Bonner Management auch auf die öffentliche Beurteilung der Wirtschaft abzufärben droht: "Holzschnittartige Stereotypen breiten sich aus. So ist heute die überwältigende Mehrheit überzeugt, daß die meisten Unternehmer ausschließlich an ihren persönlichen Gewinn denken und jegliche soziale Einstellung vermissen lassen." Allensbach zufolge scheinen "alte Formeln von Massengegensätzen und Klassenkampf der Bevölkerung zunehmend wieder geeignet zur Beschreibung der sozialen und ökonomischen Realität. Gleichzeitig fühlt sich die Bevölkerung von der Wirtschaft noch abhängiger als von der Politik. Die Wirtschaft gilt als einflußreicher als Bundestag und Bundeskanzler." Die Aufforderung des BDI Präsidenten Henkel, das politische System der Bundesrepublik und deren Verfassung zur Diskussion zu stellen "Jemand muß beginnen, über die Fähigkeit unseres politischen Systems im Wettbewerb mit anderen zu sprechen. Dazu gehört unsere Verfassung. Political engineering oder constitutional re engineering ist auch in anderen Ländern mit der Begründung gemacht worden, die Anpassungsgeschwindigkeit an neue Verhältnisse zu erhöhen." (in: Die Woche, Nr. 29, 11.7.97) , speist sich auch aus solchen Empfindungen, daß Bonn das politische Klima nicht mehr im Griff hat. Die neoliberale Aufkündigung von systemintegrativen Sozialkompromissen wird vor dem Verfassungsbestand nicht halt machen.


Hierin liegen aktuelle Bezüge zum Schwerpunkt dieses Heftes, dessen Konzeption in den Händen von Horst Heininger und Jörg Huffschmid lag. Unter dem Titel "Kapitalismus Neoliberalismus Globalisierung" geht es um ökonomische Aspekte des modernen Kapitalismus. Die Beiträge verdeutlichen, daß marxistische Analysen heute eine sehr große Spannbreite des Herangehens und der Positionen entwickeln. Fast immer spielt dabei die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kontinuität und Bruch der Entwicklungen und ihrer theoretischen Erfassung eine wesentliche Rolle.

Eine Gruppe von Beiträgen behandelt allgemeinere und grundsätzlichere Probleme. Herbert Schui analysiert die Grundlagen des Neoliberalismus als herrschender wirtschaftspolitischer Doktrin und Praxis. Er arbeitet heraus, daß es sich dabei im Kern um einen politischen Angriff gegen die nach dem zweiten Weltkrieg zeitweise erfolgreichen Ansätze zur politischen Steuerung und Reform des Kapitalismus geht. Horst Heininger stellt in seinem Beitrag der als Auftakt einer ganzen Reihe von Artikeln zum gleichen Thema gedacht ist die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitafismus bei aller Kritik an falschen geschichtsphilosophischen Überhöhungen als in ihren wesentlichen Elementen auch heute tragfähige Bestimmung des modernen Kapitalismus dar. Klaus Peter Kisker zeigt, daß die klassische Überakkumulationstheorie in der Lage ist, das Phänomen der langfristig steigenden Arbeitslosigkeit besser zu erklären als andere Ansätze.

Eine zweite Gruppe von Artikeln analysiert spezifische Einzelfragen. In den Beiträgen über Neue Produktionskonzepte (Peter Strutynski) und über Konzentration und Zentralisation des Kapitals (Gretchen Binus) zeigt sich, daß die Kontinuität der Kernprozesse gegenüber den nicht unwichtigen, aber eben auch nicht an die Stelle dieser Prozesse tretenden neuen Erscheinungen eindrucksvoll ist und die Realität durch modische Schlagworte wie Verschlankung, Dezentralisierung etc. eher verdeckt als verdeutlicht wird. Unterschiedliche Akzente werden in der Frage der Internationalisierung gesetzt. Für den Produktionsbereich stellt Fred Schmid die tragende Rolle der transnationalen Konzerne und ihrer transnationalen Produktions Netzwerke heraus. Jörg Huffschmids Überlegungen zu den internationalen Finanzmärkten betonen demgegenüber mehr die entscheiJende Rolle der politischen Liberalisierung und Deregulierung.

Es ist offensichtlich, daß sich die verschiedenen Beiträge nicht zu einer 2inheitlichen und widerspruchsfreien Sicht der Ökonomie des modernen Kapitalismus ergänzen. Ebenso offensichtlich fehlt eine Reihe von Thernen: Vor allem ist es notwendig, die verschiedenen Formen, in denen sich der Kapitalismus in unterschiedlichen Teilen der Welt Europa, Nordamerika, Japan, die verschiedenen Unterabteilungen der Dritten Welt und schließlich Osteuropa entwickelt, genauer zu untersuchen. Dies wird in späteren Heften geschehen.


Unter den weiteren Beiträgen bringen wir in diesem Heft zuerst einen Auszug aus einem kürzlich in Ungarn erstmals veröffentlichten Manuskript von Georg Lukács, das vermutlich 1924/25 in Auseinandersetzung mit seinen Kritikern von "Geschichte und Klassenbewußtsein" entstanden ist und das die Rolle des Subjekts im Geschichtsprozeß thematisiert. Es scheint uns gerade mit Blick auf die Diskussion über die Geschichte des Sozialismus und historische Eingriffsmöglichkeiten aktuell zu sein. Werner Seppmann setzt sich kritisch mit dem Zeitgeist der Postmoderne und ihren Theoretikern auseinander. Im Beitrag von Hansgeorg Conert geht es um die Tragfähigkeit Marx'schen Denkens heute, wobei Conert unterschiedfiche Akzente in geschichtstheoretischer und kapitalismusanalytischer Hinsicht setzt. Jörg Miehe legt Thesen zur Demokratisierung der Ökonomie mit möglichen Schritten einer Strategie gesellschaftlichen Fortschritts vor. Letzter Beitrag dieses Teils ist der Vorabdruck des von Dieter Boris für den nächsten Band des Historisch Kritischen Wörterbuchs verfaßten Stichworts "Entwicklungsländer".

Im Anschluß an den schon erwähnten Bericht über das Treffen von Gewerkschaftslinken dokumentieren wir die dort vorgelegte Erklärung der Initiative neue soziale Politik "Für eine neue europäische Gewerkschaftsdebatte". Die weiteren Berichte befassen sich mit einer Berliner Tagung über Möglichkeiten fortschrittlicher Alternativen in der Stadtentwicklung (Hans G Helms) und mit dem bisherigen Verlauf der Ausstellung 'Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 (Fritz Krause und Reinhard Schweicher).

 
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