Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 29, März 1997, 08. Jhrg

Editorial

Lohnfortzahlung, Rentensanierung, Steuerreform das Feld der sozialpoätischen Auseinandersetzungen wechselt derzeit rasch. Unter dem Druck der neoliberalen Strategie der Standortsicherung und unter dem Eindruck der Maastricht Kriterien beginnen die Konflikte in Europa auch im politischen Raum zu eskalieren. Die Bundesrepublik in den Medien als "sozial gespaltene Gesellschaft" (wieder)entdeckt bleibt hiervon nicht ausgenommen. Der Zusammenhang zwischen Maastricht, restiktiver Haushaltspolitik und Sozialabbau ist kaum zu übersehen: das "Modell Tietmeyer" ist konfliktträchtig. Die einleitenden Beiträge leuchten einzelne Aspekte dieser bundesdeutschen wie europäischen Konfliktkonstellation aus: Heinz Bierbaum fragt nach der Politikfähigkeit des DGB; Hermannus Pfeiffer analysiert die Konvergenzkriterien von Maastricht und den Zusammenhang zwischen EWU Plänen, Triadenkonkurrenz, deutschen HegemonieInteressen und Sozialrestriktionen; Johannes M. Becker verweist auf die wachsende Maastricht Kritik in Frankreich.


Der Themenschwerpunkt dieses Heftes lautet bewußt polemisch formuliert "Der rechte Rechtsstaat", was impliziert, daß es auch einen linken Rechtsstaat gibt oder geben könnte, oder, um eine frühere These von Wolfgang Abendroth aufzugreifen, daß der Rechtsstaat ein Kampfplatz ist, auf dem über die weitere gesellschaftliche Entwicklungsrichtung gestritten wird. Die Rede ist von der Bundesrepublik Deutschland unter Einschluß ihrer neuen Bundesländer. Deren Eingliederung hat besondere rechtsstaatliche Probleme hervorgebracht, von denen einige hier beleuchtet werden. Grundsätzlich geht es darum, reaktionäre Entwicklungstendenzen des imperialistischen Staates BRD im staatlich politischen Bereich, besonders im Rechtssystem, genauer zu untersuchen.

"Rechtsstaat versus Machtstaat" unter dieser Themenstellung unternimmt Hermann Klenner eine aufklärungshistorische Betrachtung der Herausbildung der Rechtsstaatsgedanken bis in die jüngste Gegenwart. Ein wesentlicher Zug der deutschen, konservativen Rechtsstaatslehre ist nach Klenners Sicht das Bemühen, der formalstrukturellen Rechtsstaatsrationalität eine materielle Rechtsstaatsidee hinzuzuerfinden, mit deren Hilfe in die rechtlichen Normen bestimmte, politisch gewünschte "Werte" hineininterpretiert und dann selbst, etwa per Bundesverfassungsgericht, in Recht und schließlich auch in Politik übersetzt werden. Was das Verfassungs und Gesetzeswerk des Rechtsstaats nicht hergibt, müssen dann jene konservativen und reaktionären Sinndeutungen liefern. Dem setzt Klenner die entschiedene Verteidigung des Rechtsstaats als Basis für die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft entgegen. Er kritisiert die von "gewissen Marxisten" vorgenommene Reduktion des Wesens des Rechts auf seinen Klassencharakter. Diese übersieht, daß auch die Rechtsentwicklung den Fortschrittsweg der Menschheit reflektiert und zugleich realisiert. Deshalb muß, so seine Schlußfolgerung, jeder seines Namens werte Sozialismus zwingend auch rechtsstaatlich verfaßt sein was sich umgekehrt auch aus dem Scheitern bisheriger Sozialismen plausibel folgern läßt.

Die Frage, ob und wie die laufende Demontage des Sozialstaats und die Entwicklung zum "schlanken Staat" im Einklang mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen stehen, wird im Beitrag von Martin Kutscha untersucht. Soziale Grundrechte sind, so stellt er mit Recht fest, im Grundgesetz des Bundesrepublik kaum oder gar nicht fixiert. Zwar ist die Bundesrepublik dem Grundgesetz zufolge ein sozialer Rechtsstaat, aber dieses Prinzip wird in der herrschenden Staatsrechtslehre durchgängig auf ein Minimum herunterinterpretiert. Kutscha skizziert Nuancen und Divergenzen, die in der Auslegung dieser Frage bestehen sie können für den Kampf um die Erhaltung des Sozialstaats große Bedeutung haben.

Die juristische Seite der Rückübertragung der DDR an das Deutsche Reich in Gestalt der Bundesrepublik Deutschland untersucht Gregor Schirmer. Die neuere Entwicklung zum "rechten Rechtsstaat" wäre ohne diesen Vorgang kaum zu verstehen. Vom Standpunkt des Völkerrechts her gesehen, etwa vom Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten, weckt der Vereinigungsvorgang, der in Wirklichkeit die Einverleibung des kleineren Teils in den fortbestehenden größeren war, erhebliche Zweifel. FreiEch, so konstatiert Schirmer nüchtern, die Deutschen wollten die Einheit aber nicht so, wie sie dann tatsächlich über sie kam. Entstanden ist dabei nämlich ein "normaler" imperialistischer Staat, der mit ganz neuer Machtfülle agiert und dessen reaktionäre Dynamik weiter gesteigert wurde.

Klaus Dammann stellt die Frage, ob vom Ende der Berufsverbote in der Bundesrepublik die Rede sein kann. Zunächst gibt der Autor einen informativen Uberblick über inzwischen 25 Jahre Praxis des Berufsverbots in der alten Bundesrepublik. Stets wurde dabei die Verfassungsordnung mit dem politischen Status quo gleichgesetzt. Wenn auch der Begriff "Berufsverbote" nicht umstandslos auf die Verhältnisse in den neuen Bundesländern übertragen werden kann, so verdienen doch die politisch motivierten Massenentlassungen massive Kritik. Wichtig ist Dammanns Analyse der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 1995, mit der nachträglich der Berufsverbotspraxis eine vernichtende Abfuhr erteilt wurde.

Mit der Rechtsentwicklung im Verfassungs und Strafrecht befaßt sich Erwin Siemantel. Er beschreibt die Einengungen der parlamentarischen Demokratie, die unterhalb und in konservativer Auslegung der Verfassung erfolgten, und untersucht die Verschärfungen des Strafrechts in ihren gesellschaftlichen Konsequenzen.

Den Rückwirkungsbeschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 1996 unterzieht Uwe Jens Heuer einer kritischen Analyse. Bekanntlich brachte das Bundesverfassungsgericht das Kunststück fertig, die eindeutige und absolute Bestimmung des Grundgesetzes, eine Tat könne nur bestraft werden, wenn ihre Strafbarkeit vorher schon gesetzlich bestimmt war, so zu relativieren, daß sie für die ehemalige DDR nicht oder nicht in jedem Fall gilt. Damit wurde die politisch gewollte strafrechtliche Verfolgung von in der DDR begangenen Handlungen durch den jetzigen Justizapparat der BRD legitimiert. Heuer, aus den Erfahrungen des Realsozialismus heraus mißtrauisch gegen Angriffe auf das positive Recht im Namen höherer Werte, unterzieht die Verfahrensweise des Bundesverfassungerichts einer schonungslosen Kritik, ohne dabei aber alles zu rechtfertigen, was in der DDR geschah. Um die Aufarbeitung dieses Problems geht es den Befürwortern der "Siegerjustiz" auch gar nicht, wie der Verfasser zeigt. Ihr eigentliches Anliegen ist vielmehr, der DDR ein einziges Verbrechen nachzuweisen, nämlich ihre vierzigjährige Emistenz. Der Versuch, eine andere, nicht kapitalistische Gesellschaftsordnung zu errichten, hätte nicht vorgenommen werden dürfen. Für die herrschenden Machteliten ist die Durchsetzung dieser Sicht zugleich Vorbereitung auf mögliche Konflikte der Zukunft.


Und die weiteren Beiträge: Achtzig Jahre nach der Oktoberrevolution, sieben Jahre nach dem Zusammenbruch der durch sie begründeten Gesellschaftsordnung ist zu fragen, was aus dem den weiteren Gang des Jahrhunderts prägenden "Gefecht" von 1917 für die Zukunft bleibt. Hans Kalt gibt eine erste Antwort.

Gerlinger/Giovanella/Michelsen untersuchen die Auswirkungen des "Systemwechseis" im Gesundheitswesen, wie er mit der Gesundheitsreform in Gang kommt. Mit der Rolle der Produktivgenossenschaften in Ostdeutschland und dem Streit um ihre Schulden und Vermögen befaßt sich Hans Luft. Michel Chossudovsky thematisiert eine hierzulande verschwiegene Tatsache: die Bedeutung westlicher, besonders wirtschaftspolitischer Intervention für die Destabilisierung Jugoslawiens. Das ist auch das Stichwort für den Beitrag von Uli Sander. Er beleuchtet die "Verteidigungspolitischen Richtlinien" der Bundeswehr: Sie definieren "deutsche Interessen" als "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt".

Berichte und Rezensionen seien den Leserinnen und Lesern besonders ans Herz gelegt. Z 30 erscheint Anfang Juni und wird der Tagung "Marxismus an der Schwelle zum 21. Jahrhundert Bilanz und Perspektive" (Hannover 14. 16. März 1997) gewidmet sein.

 
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