Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 25, März 1996, 07. Jhrg

Editorial

Am Anfang dieser Z Ausgabe steht ein Text von Rosa Luxemburg. Wir möchten damit dieser großen kämpferischen Sozialistin und bedeutenden marxistischen Theoretikerin, deren Geburtstag sich am 5. März 1996 zum 125. Mal jährt, gedenken. Generationen von Menschen, die für sozialen und politischen Fortschritt eintraten, haben von ihrem politisch moralisehen Vorbild Ermutigung erfahren und von ihrem theoretischen Werk Anregungen erhalten. Sich dieses Erbes zu vergewissern, gehört heute zur Arbeit an marxistischer Theorie und Analyse und zu sozialistischer Praxis.

Heiner Müller, dem kürzlich verstorbenen Dramatiker, ist der folgende Beitrag von Arnold Schölzel gewidmet. Heiner Müller hat auf seine Weise und als Schüler von Brecht die Widersprüche, Gegensätze und Bruchstellen unserer Zeit thematisiert und gilt nicht nur im deutschsprachigen Raum als eigenwilliger Erneuerer des Theaters. Müller war ein auch vom Marxismus geformter Stückeschreiber, Textproduzent und Regisseur, der aus der Sicht der Verheißungen des Sozialismus/Kommunismus dessen Realität rigoros kritisierte, den Untergang der DDR erahnte und die siegreiche Geldgesellschaft und ihre Protagonisten sarkastisch bloßstellte und verachtete. Seine mitunter als Zynismus verstandene Illusions und Glaubenslosigkeit korrespondierte mit der beibehaltenen Option für die Möglichkeit sozialistisch kommunistischer Gesellschaft. "Jetzt erst", hatten wir ihn in Z 13 zitiert, "nach der Vereinigung, gibt es auch in Deutschland wieder eine Basis für den Klassenkampf. Jetzt kann man nichts mehr an den Gegner delegieren, jetzt, das braucht sicher seine Zeit, können die sozialen Widersprüche sich entfalten, befreit von Ideologien."

Der Schwerpunkt "Klassen und Klassentheorie heute (II)" setzt die Erörterungen von Z 24 fort. In den acht veröffentlichten Beiträgen spiegelt sich ein breites Spektrum von Positionen, deren Vertreter sich sicher nicht mehr alle als Protagonisten marxistiScher Klassentheorie ansehen, gleichwohl aber zu einer klareren Bestimmung gesellschaftlicher Sachverhalte und ihrer theoretischen Reflexion beizutragen bemüht sind. Es entspricht dem Programm von Z, damit ein breiteres SPektrum von Positionen in die Diskussion einzubeziehen und ihnen Beachtung zu schenken. Einige Autoren sahen sich erfreulicherweise schon in der Lage, kritisch auf Beiträge der letzten Z Ausgabe einzugehen; wir hoffen, daß dies bei den Aufsätzen in Z 26, der nächsten Ausgabe, noch mehr der Fall sein wird. Leserinnen und Leser sind zu kritischen Interventionen eingeladen. Teil III der Klassendiskussion wird nach den bisherigen Zusagen wieder etwa zehn Beiträge umfassen (siehe auch die Vorschau).

Die Redaktion bedauert immer wieder, daß sie nicht in der Lage ist, umfassendere Analyse zu jenen aktuellen Entwicklungen zu präsentieren, die mit den Schwerpunktthemen unmittelbar in Zusammenhang stehen. Bezogen auf das vorliegende Heft betrifft das in erster Linie die großen Streikkämpfe in Frankreich angesichts der Auseinandersetzung um die Europäische Währungsunion und Maastricht 11 berühren sie die Bundesrepublik stärker noch als in der Vergangenheit , gilt aber auch für die Frontstellungen und Auseinandersetzungen um die Demontage des Sozialsystems der Bundesrepublik und um die weiter anschwellende Massenarbeitslosigkeit. Letzteres wird in Z 26 mit einer umfassenderen Konjunkturund Krisenanalyse thematisiert werden.

Um was handelte es sich in Frankreich im Dezember 1995 anderes als um den größten nationalen Klassenkampf der Lohnarbeiter nach dem Generalstreik vom Mai 1968? Freilich war es eine unmittelbare Konfrontation zwischen Staatsbeschäftigten und Regierung (plus Parlamentsmehrheit). Aber der Sache nach ging es gegen ein Sanierungskonzept, das die Bürden der Modernisierung für Brüssel/Maastricht und den Weltmarkt der Arbeiterklasse und besonders ihren einkommensschwachen Schichten aufzuladen beabsichtigt. Die Regierung war also die Spitze des französischen Kapitalinteresses, wie die streikenden Staatsbeschäftigten die Rolle der Vorkämpfer der gesamten Klasse einnahmen. Und dem entsprach auch die Spaltung des Landes. Von besonderem Interesse ist es, daß es sich wieder um eine der von Medien und Wissenschaft nicht vorhergesehenen Bewegungen von unten handelte, der die mitgliederschwachen Gewerkschaften dann nur organisatorische Beihilfe bieten konnten. Bemerkenswert auch, daß dabei die kommunistisch sozialistische CGT einen beachtlichen Beitrag leisten konnte, was wohl auch von einer Revitalisierung dieser Strömung nach dem Einbruch von 1989/90 zeugt. Schließlich muß vermerkt werden, daß sich diese Kämpfe nicht unter der Glocke einer ideologisch politischen Hegemonie der Linken in der Öffentlichkeit entwickelten und daß der öffentliche Zuspruch prominenter linker Intellektueller erst erfolgte, als der Zug längst rollte; und nicht wenige jener, die sich 1968 zur Pose der revolutionären Avantgarde aufschwangen, waren 1995/96 auf der anderen Seite zu finden oder schwiegen.

Die Bewegung in Frankreich und das durch sie in Erinnerung gebrachte Faktum, daß jenseits des Rheins seit Jean Paul Marat Volksrevolutionäre eine lange Tradition haben, sind zweifellos eine Lehre für alle, die gesellschaftliche Veränderungen wollen. Freilich hatte in Frankreich die neoliberale Legitimationsideologie eine entscheidende Schwachstelle: die mehrheitliche Ablehnung der EU und Maastrichts. Wie auch immer: Frankreich zeigt, in welchen komplexen Konstellationen sozialökonomisehe und soziale Gegensätze als Klassenkämpfe zutage treten und ausgetragen werden. Klassen in Aktion sind allemal mehr als sozialökonomische Strukturgrößen; sie treten in die Realität als handelnde große Menschengruppen.

Zweifellos weist die Grundsituation der BRD zu Frankreich analoge Merkmale auf; gleichwohl finden die Gegensätze (noch) andere Bewegungsformen. Aber auch diese wären ja als Klassengegensätze und Ausdruck von Interessen zu entschlüsseln. Es muß bezweifelt werden, daß mit dem Angebot der Gewerkschaftsführungen zu einer neuen integrativen Kooperationspolitik unter dem Stichwort "Bündnis für Arbeit" ein Damm gegen den weiteren Sozialabbau und das weitere Anwachsen der Massenarbeitslosigkeit errichtet werden kann. Ohne Entfaltung von Gegenmacht bzw. ohne die nachhaltig demonstrierte Fähigkeit dazu sind die Chancen für gesellschaftliche Vernunft nur gering. Erstaunlich bleibt auch die Tatsache, daß trotz gleicher Grundbedingungen der Funke aus Frankreich nicht übersprang und daß sich trotz der gebetsmühlenartigen Bekenntnisse zu Europa die Solidarität der deutschen Linken auf spärlichem Niveau hielt. Dabei wäre dies doch die einmalige Chance gewesen, einem Europa der Arbeit und der gewerkschaftlichen Solidarität Konturen zu verleihen. offenkundig sind also nach wie vor Nationalstaat und nationaler Rahmen eine starke Realität, und die Arena, in der der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital als Direktkonfrontation oder als durch die fortschreitende Vergesellschaftung bedingte Entgegensetzung sich entwickelt und zum Ausdruck kommt. Und dies, obwohl Regionalisierung, Internationalisierung und Globalisierung des Kapitalismus längst übergreifende Bedingungen gesetzt haben.

Ist die marxistische Klassentheorie in der Lage, die Bedingungen, Inhalte, Formen und Tendenzen solcher Kämpfe zu erfassen? Das ist eine Grundfrage, die bei der Erörterung des Schwerpunktthemas immer wieder zu stellen ist. Der Leser wird selbst beurteilen müssen, ob bzw. inwieweit die Autorinnen und Autoren dieser Fragestellung mit den von ihnen zur Diskussion gestellten Beiträgen gerecht werden. Gottfried Stiehler entwickelt Klassen und Klassenkampf nicht nur als sozialökonomische, sondern als übergreifende gesellschaftliche Strukturprinzipien aller auf Ausbeutung beruhenden Gesellschaften. Diese Prinzipien verlieren auch mit der Ausdifferenzierung "moderner" kapitalistischer Gesellschaften nicht ihren prägenden Gehalt. Es schließt sich eine Erörterung von Joachim Bischoff über die Massenarbeitslosigkeit als heute zentrales soziales Problem an, über ihre Ursachen und Lösungsperspektiven. In der Diskussion der Lesarten und Alternativen von Oskar Negt und André Gorz geht der Verfasser auf die Produktion und Verteilung des Mehrwerts in dieser Gesellschaft zurück. Er behandelt damit nichts anderes als die aktuellen Erscheinungsund Bewegungsformen des Klassenantagonismus. Ekkehard Sauermann hält ein engagiertes Plädoyer für das Marxsche Konzept der Arbeiterklasse als historisches Subjekt. Aufdeckung und Ablehnung der Verfälschungen dieses Konzepts durch Stalin sind für ihn dabei unabdingbare Voraussetzung.

Lothar Peter analysiert im Kontext linker Richtungen der Industrie und Betriebssoziologie Probleme der industriellen Beziehungen, also der sozialen Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit. Er geht dabei besonders auf neue Handlungsbedingungen für Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften ein, u.a. auf Co Management und Tarifvertragspolitik. Horst Dietzel favorisiert gegenüber Klassenkategorien mentalitätsbestimmte Milieus als Grundlage linker Politik und Strategiebestimmung. Als Verabschiedung von der marxistischen Klassen und Klassenkampftheorie, und zwar von einem übergreifenden, materialistisch interpretierten MenschNatur Verhältnis her, muß wohl die Intervention von Margarete Tjaden-Steinhauer, Dietmar Düe und Karl Hermann Tjaden gelesen werden.

Wir schließen den Schwerpunkt in dieser Ausgabe mit einem aus den fünfziger Jahren stammenden Text von Leo Kofler ab, der hier erstmals unter seinem Namen veröffentlicht wird. Mit der Vorstellung seiner durch die damalige Zeit geprägten, aber gültige Gesichtspunkte für die Analyse der herrschenden Klasse erfassenden Sichtweise wollen wir nochmals dem im letzten Jahr verstorbenen marxistischen Theoretiker Koller Reverenz erweisen.

Die Redaktion freut sich, daß sie die "weiteren Beiträge" mit einem Text von Adam Schaff, einem der Nestoren weltoffenen und substantiellen marxistischen Denkens, eröffnen kann. Schaff legt dar, welche Bedeutung für ihn die Option für den Mandsmus und für sozialistisches Handeln an der Schwelle züm 21. Jahrhundert hat. Wolfgang Förster setzt seine in Z 24 begonnenen Überlegungen zur heutigen Bedeutung der Aufklärungsphilosophie mit einem zweiten Beitrag fort, der die Verarbeitung des Denkens der Aufklärung durch Karl Marx behandelt. Mit Joachim Herrmann kommt in Fortführung der Diskussion in Z 23 und 24 über Anthropogenese und frühgesellschaftliche Entwicklung ein bekannter marxistischer Frühgeschichtsforscher zu Wort. Seine Kritik gilt der von K.H. Tjaden und anderen vertretenen Interpretation der Anthropogenese und der damit verbundenen Sicht auf Engels (Z 22). Harry Nick bezieht sich in seinem Beitrag zur Eigentumsdiskussion eine auch unter Marxisten nicht unaktuelle Frage kritisch auf den Berliner Philosophen Peter Ruben, der nach 1989 sukzessive zur Verwerfung der Marxschen Position übergegangen war. Hans Joachim Krusch polemisiert anläßlich der Wiederkehr des 50. Jahrestages der Vereinigung von KPD und SPD in der sowjetischen Besatzungszone zur SED (April 1946) mit jener Geschichtsschreibung, die dieses historische Ereignis als diktatorische Zwangsvereinigung denunziert und mehr und mehr jenen historische Tatsachen vergewaltigenden Umgang mit der Geschieht pflegt, den sie einst den Kommunisten anzuhängen bestrebt war. Heinz Jung bespricht Erie Hobsbawms "Zeitalter der Extreme" eine linke Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, die in beeindruckender Weise die geschichtsprägende Kraft des Sozialismus Arbeiterbewegung, Realsozialismus, antiimperialistische Bewegungen herausstellt; sicher eine Pffichtlektüre für alle, die skeptisch gegenüber dem "Ende der Geschichte" sind.

Die Rubrik "Linke Politikansätze in Deutschland" wird in dritter Folge mit einem Beitrag von Klaus Höpcke (PDS) zum Konzept eines "evolutionistisehen Sozialismus" fortgesetzL Berichtet wird über eine Tagung linker Gewerkschafter zur DGB Programmdiskussion, über die IMSF Tagung zur Internationalisierung und Europäischen Währungsunion und über eine Diskussionsveranstaltung zur Faschismusforschung.

Dieser Ausgabe liegt ein Bestellprospekt für zwei Neuerscheinungen des IMSF bei. Wir bitten um regen Gebrauch. Das Register für die Z Jahrgänge 1990 1995 (Nr. 1 24) wird mit der Juni Ausgabe (Z 26) erscheinen.

Folgende Veranstaltungen von Z/IMSF sind geplant:
Im Herbst 1996 eine Samstagsdiskussion mit Z Autorfinnen über "Klassen und Klassentheorie heute". Grundlage sind die Schwerpunktbeiträge aus Z 24 bis 27.
Im Frühjahr 1997 eine größere Tagung mit internationaler Beteiligung über Bilanz und Perspektive des Marxismus an der Schwelle des 21. Jahrhunderts. Das Projekt ist in der Diskussion und findet die Unterstützung von Z/IMSF. Näheres zu beiden Veranstaltungen in Z 26.

Mit Klaus Holzkamp (30.11.1927 1.11.1995) hat das marxistische Denken in der Bundesrepublik eine ganz ungewöhnliche Persönlichkeit verloren. Für den Manismus als auf den Menschen zielende Theorie, die seine Handlungsfähigkeit als soziales Subjekt in den Mittelpunkt stellt, ist die Entwicklung einer materialistischen Psychologie eine der großen Aufgaben und Herausforderungen. Klaus Holzkamp gehörte zu jenen, die sich und dies in beeindruckender Verbindung von politischer Parteinahme und theoretischem Denken ganz diesem Projekt verschrieben haben. Über ihn und seine Arbeit hat Lucien Sève das schöne Wort gefunden, daß sie jenen Sternen gleichen, von denen man Licht empfängt, auch lange nachdem sie zu existieren aufgehört haben. "Das Argument" hat Holzkamp ein Gedächtnis Heft gewidmet (Nr. 212).

Wir haben Abschied genommen von unserem Kollegen, Freund, Genossen Dr. Werner Petschick, geb. am 14.3.1930 in Berlin. Er verlor nach heftiger Gegenwehr seinen letzten Kampf und verstarb am 25.12.1995 in Frankfurt/M. Werner Petschick war als Wirtschaftswissenschaftler jahrzehntelang bis 1989/90 Leiter des Nachrichten Verlags und Chefredakteur der gleichnamigen Monats Zeitschrift. Er gehörte zu den Marxisten und Kommunisten, die sich mit großer Beharrlichkeit und mit einem Einsatz, der keine Mühe scheute, für eine klassenautonome Gegenmachtspolitik der Gewerkschaften einsetzten. Nach 1989/90 engagierte er sich für diese Ziele als ehrenamtlicher Funktionär im Vorstand der DJU der IG Medien und als Journalist, u.a. auch für Z, sowie in der DKP. Wir verlieren mit Werner Petschick einen Freund und Förderer unseres Projekts, einen fundierten Mitarbeiter und Berater für Gewerkschaftsfragen, einen der sachkundigsten, über den die marxistische Linke verfügte. Seine Intentioneu, zuletzt noch konzentriert auf die DGB Programmdiskussion, bleiben für uns Verpflichtung.

 
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