Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
<<Zurück
 
 

Heft 22, Juni 1995, 06. Jhrg

Editorial

Das vorliegende Heft hat den Schwerpunkt "Orientierungen historisch-materialistischer Theorie - Zum 100. Todestag von Friedrich Engels". Engels Todestag fällt auf den 5. August 1995. Davor allerdings war eines weiteren Datums zu gedenken, des 8. Mai, des 50. Jahrestags der Befreiung vom Faschismus. Wir haben aus diesem Anlaß einen recht ungewöhnlichen, vor zehn Jahren erschienenen und, wie wir meinen, höchst aktuellen und originellen Kommentar des 1986 verstorbenen Reinhard Opitz ausgewählt

Am 8. Mai 1985 hielt Reinhard Opitz anläßlich des 40. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus an der TH Aachen einen Vortrag, der damals nur an wenig zugänglicher Stelle veröffentlicht wurde. Wir haben aus ihm einige Passagen ausgewählt, die sich mit der "Bitburg-Affäre" jenes Jahres auseinandersetzen und in denen die erst in Ansätzen erkennbaren politischideologischen Grundmuster kritisiert werden, die die Diskussionen des Frühjahrs 1995 geprägt haben. Natürlich konnte auch Opitz noch nichts ahnen von den welthistorischen Umbrüchen, die sich seitdem vollzogen haben. Das tut aber der Weitsicht seines Beitrags und seinem Gespür für erst in der Herausbildung begriffene politische Akzentverschiebungen keinen Abbruch. Die Redaktion ist zuversichtlich, daß auch die Leserinnen und Leser Opitz' Kommentar als einen anregenden Beitrag zum 50. Jahrestag der Befreiung betrachten werden.

Nun zum Schwerpunkt des Hefts 22. Mit der historisch-materialistischen Theorie ist es heute, am Ende des zweiten Jahrtausends unserer Zeitrechnung, nicht zum Besten bestellt. Zum einen sind die herrschenden Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, von denen Materialisten gleichwohl viel lernen können, weit davon entfernt, einer Weltsicht zuzuarbeiten, für die die gesellschaftliche Wirklichkeit im tagtäglichen Lebens- und Überlebenskampf von Menschen auf der Erde gründet. Zum anderen hat der Untergang sozialistischer Gesellschaften und Konzeptionen Ende der achtziger Jahre eine historisch-materialistische Wissenschaft getroffen, die zuvor bereits vielfach in Leerformeln erstarrt war und sich den Grundübeln unserer Zeit, der massenhaften Armut, Gewalt und Zerstörung von Leben und Naturreichtümern, oft nur noch auf Umwegen zu nähern vermochte.

Diese Momente muß selbstkritisch berücksichtigen, wer materialistische Theorie wissenschaftlich fortsetzen will. Denn der historisch-materialistische Denkansatz trifft auf zentrale Probleme der kapitalistisch dominierten Weltgesellschaft von heute, die gerade er artikulieren kann, wenn er will. Daß die Menschen gesellschaftliche Anstrengungen unternehmen, um der Naturumwelt ihren Lebensunterhalt abzugewinnen, und dieses eine Grundlage menschlicher Existenz ist; daß der Kern der ökonomischen Formen dieser Anstrengungen letztlich deren Nutzwirkungen sein sollten, die zum Arbeitsaufwand in ein vernünftiges Verhältnis gebracht werden müssen; daß die Beziehungen der Menschen zur Natur überanstrengt werden, wenn diese sich einbilden, die Natur beherrschen zu können, und daß die Auswirkungen ihres Tuns dann auf sie zurückschlagen werden; daß über die Formen der gesellschaftlichen Arbeit hinaus, die sich vielfältig entwickeln, sich andere Formen gesellschaftlichen Zusammenwirkens wie Staat und Familie herausgebildet haben und wirksam sind; daß aber die Entwicklung des Gemeinwesens dahin gebracht werden kann, daß frau/man auf solche herrschaftlichen Gesellschaftsformen verzichten kann: Alles dies sind Annahmen und Einsichten, die - zusammenhängend und zuende gedacht - Durchblicke zu einer vernünftigeren Verfassung der Wirklichkeit eröffnen könnten, die in verändernde Tätigkeiten umzusetzen sind. Dies gilt für eine historisch und materialistisch verfahrende Wissenschaft zumindest eher und mehr als für ein philosophisches und wissenschaftliches Gedankengut, das sich auf die Sammlung und Sichtung von geistigen Erbstücken unseres Erdteils beschränkt. Historisch-materialistische Theorie, das ist die erste These unseres Editorials, kann daher heute wie früher intelligente Orientierungen in einer als unübersichtlich geltenden Welt ermöglichen - falls sie sich mit dieser Welt befaßt.

Allerdings ist nicht zu verkennen, daß die historisch-materialistische Theorie, wie sie sich auf vielfältige Weise seit der Zeit ihrer Gründerväter entwickelt hat, trotz dieser Vielfalt Einseitigkeiten und blinde Flecke aufweist, auch wenn wir von Wissenslücken und Fehlern in Sachaussagen absehen, wie sie in jedem wissenschaftlichen Werk vorkommen und die teilweise zur Zeit der jeweiligen Werkabfassung unvermeidlich waren. Solche Klischees gibt es in historisch-materialistischen Aussagen bezüglich nahezu aller Abschnitte und Grundsachverhalte der Geschichte menschlicher Gesellschaften. Sie reichen von der "Urgesellschaft", die in Wirklichkeit keine Gesellschaft ohne Vorgängergesellschaften war, bis zur "Herrschaft über die Natur", die wir angeblich auch auf "die entfernteren natürlichen Nachwirkungen wenigstens unsrer gewöhnlichsten Produktionshandlungen" ausdehnen können werden. Sie werden zudem durch eine oft zu Formeln erstarrte Methodik ergänzt. Blinde Flecken und Einseitigkeiten sind aber unter Umständen mit wissenschaftlichen Mitteln zu beseitigen bzw. zu überwinden. Dabei geht es manchmal nur darum, bestimmte versteckte oder vergessene Aussagen klassischer Theoretiker/innen hervorzuholen. Bestimmte Grundfragen der gesellschaftlichen Entwicklung erfordern aber sicherlich neue Sicht- und Denkweisen. Verschiedene Beiträge zum Schwerpunkt dieses Heftes sind in der Absicht geschrieben, zu all dem einen kleinen Beitrag zu leisten. Wenn wir das vorliegende Heft mit "Orientierungen historisch-materialistischer Theorie" überschrieben haben, dann entspricht das auch der zweiten These dieses Editorials. Sie lautet, daß es in verschiedenen Punkten neuer Orientierungen für die historisch-materialistische Theorie bedarf, wenn ihre Vertreter/innen deren Anspruch in ihrer wissenschaftlicher Arbeit gerecht werden wollen.

Ersichtlich stammen viele der angeführten Aussagen und Begriffe - seien diese nun positiv oder negativ bewertet worden - aus der Feder von Friedrich Engels. Ihm kommt insgesamt das große Verdienst zu, die Marxsche Theorie des ökonomischen Systems der bürgerlichen Gesellschaft durch Einsichten ergänzt und erweitert zu haben, die vor allem verschiedene geschichtliche Formen und Formelemente gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse sowie die vielfältigen tatsächlichen Beziehungen zwischen den Menschen und der außermenschlichen Natur betreffen.

Karl Hermann Tjaden, Margarete Tjaden-Steinhauer und Lars Lambrecht setzen sich in ihren Beiträgen vor dem Hintergrund neuerer Forschungsergebnisse mit verschiedenen Aspekten der Engelsschen Positionen zur Entstehung der menschlichen Gesellschaft, der privaten Familie und der staatlichen Politik auseinander. Heinz Jung, Rolf Czeskleba-Dupont und Dietmar Düe knüpfen an Engels' Arbeiten zu ökonomischen Fragen an. Neben Erörterungen der Aktualität von Engels' Kritik der Nationalökonomie werden Fragen der Nachhaltigkeit und der Nutzeffekte des Wirtschaftens gestellt. Anneliese Griese und Gerhard Pawelzig beleuchten Friedrich Endels Verhältnis zu den Naturwissenschaften. Den Abschluß dieses Themenblocks bildet Hans Jürgen Krysmanskis Beitrag "Mit Engelszungen", der auf sicher nicht alltägliche Weise die Frage nach der massenkulturellen Wirksamkeit einer Marx-Engels-Diskussion thematisiert.

Nach dem Heftschwerpunkt folgen weitere Beiträge zum Primat der Ökonomie (Gottfried Stiehler), zur Entstehung des modernen Nationalismus in Europa (Maziar Jafroodi) sowie zur historischen Aktualität des ideellen Erbes Europas (Manfred Buhr).

Die Rubrik Berichte enthält diesmal drei Beiträge zu verschiedenen Ereignissen, so zur Tagung "Wirtschaftspolitik im theoretischen Vakuum" (Ralf Blendowske), zur Ausstellung "MARX 2000" (Hans G Helms) und zur Tagung "50. Jahrestag der Befreiung - Wider den Geschichtsrevisionismus" (Hermann Kopp). Der Rezensionsteil ist umfangreich wie immer ausgefallen. Wir weisen darauf hin, daß eine Reihe der zum Heftschwerpunkt verfaßten Beiträge bei einer Diskussionsrunde am 21. Oktober 1995 in Frankfurt-M. mit den Autorinnen und Autoren diskutiert werden kann. Diese Tagung von IMSF und Z ist ebenfalls dem 100. Todestag von Friedrich Engels gewidmet. Als Hauptthemen sind geplant: (1) Privatökonomie, Nachhaltigkeit und Nutzeffekte des Wirtschaftens; (2) Die Entstehung von menschlicher Gesellschaft, privater Familie und staatlicher Politik. Hierzu sind jeweils kurze Einleitungen vorgesehen, so daß genügend Zeit für die Erörterung der hier vorliegenden Beiträge bleibt. Die Leserinnen und Leser von Z sind hierzu herzlich eingeladen. (Näheres siehe Anzeige auf der nächsten Seite.) Die diesjährige Herbsttagung vom IMSF e.V. und Z wird gemeinsam mit der Berliner Arbeitsgruppe Kapitalismusforschung vorbereitet. Sie wird aktuelle Entwicklungen und Alternativen der Internationalisierung thematisieren: Neue Strukturen und Mechanismen des internationalen Finanzkapitals sowie die europäische Integration von Maastricht Il. Die Tagung findet am 25./26. November ebenfalls in Frankfurt/Main statt. Anmeldung und nähere Informationen beim IMSF e.V.

Schließlich möchten wir wie immer für die Gewinnung neuer Abonnements werben, ohne die das Projekt Z langfristig nicht fortgeführt werden kann. Natürlich gibt es auch noch andere Möglichkeiten, uns zu unterstützen, z. B. durch Geschenkabos, Büchertisch- und Kommissionsverkauf, Spenden usw. Die Redaktion des Heftschwerpunkts besorgten Karl Hermann Tjaden und Jürgen Reusch. Heft 23 (September 1995) erscheint mit dem Schwerpunkt Kapitalismus und Medien vor dem digitalen Umbruch.

 
Zum Seitenanfang