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Heft 20,
Dezember 1994, 05. Jhrg
Editorial
Das vorliegende Heft hat den Schwerpunkt
"Marxismus und Geschichte in der Restaurationsperiode". Es erscheint
zum Ende des 250. Todesjahres Giambattista Vicos, auf dessen bahnbrechende Bedeutung
für die Geschichtstheorie der Moderne bereits im Editorial von Z 17 verwiesen
wurde. Ihm zu Ehren ein Zitat auf der letzten Umschlagseite. Z 20 kommt überdies
wenige Monate nach dem 40. Historikertag heraus - Rahmenthema: "Lebenswelt
und Wissenschaft" -, diesmal in Leipzig, der Wirkungsstätte so bedeutender
Historiker wie Karl Lamprecht und Walter Markov. Denen freilich war keiner der
insgesamt 30 Arbeitskreise gewidmet. Auch das ist ein Symptom für Geschichtswissenschaft
in der Restaurationsperiode, ebenso wie der Skandal um den geplanten und nach
vielen Protesten dann doch zurückgezogenen Auftritt des "Historikers"
Helmut Kohl, zwei Wochen vor der "Kanzlerwahl". Es gab aber auch eine
vielbeachtete Eröffnungsrede des Sozialwissenschaftlers Wolf Lepenies, eines
"Außenseiters", wie er sich selbst einführte, der der versammelten
Zunft vorhielt, "wie tief der Ethnozentrismus immer noch die kulturellen
Selbstverständlichkeiten des weltoffenen Westens prägt". Lepenies
rief zu einer "Entprovinzialisierung der Geschichtswissenschaft" auf,
eine Mahnung, die gut als vieldeutiges Motto unseres Schwerpunktthemas dienen
könnte.
Vorab dominiert die unmittelbare Aktualität: Heinz Jung schließt die
in Heft 18 eröffnete Rubrik "Wahlen" im "Superwahljahr"
1994 mit einem ersten Kommentar zur Bundestagswahl ab. Giorgio Baratta diskutiert
Probleme der italienischen Linken unter den Bedingungen eines durch den Wahlsieg
der "Berlusconi & Co." repräsentierten Modells Italien.
Das Schwerpunktthema ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil gehen Hans-Otto
Rößer und Manfred Grieger von unterschiedlichen Ansätzen her -
Rößer von dem einer politischen Biographie Forsters, Grieger von dem
der in neueren Publikationen konstatierbaren Veränderungen des Luxemburg-Bildes
- der Frage nach, wie jenseits jeder bloßen Heldenverehrung oder Ikonographie
der Charakter eines Epochenumbruch in VorkämpferInnen des Neuen sich manifestiert
und so zum Leitbild politischen Handelns werden kann.
Im zweiten Teil stellen Emmerich Nyikos, Wolfgang Küttler und Enrique Dussel
neue Überlegungen zum Epochenbegriff dar. Mit je spezifischer Perspektive
tragen sie damit zu einer Debatte bei, die nach der Implosion des sozialistischen
Weltsystems wieder eröffnet wurde: Der Bogen spannt sich von der Problematik
einer möglichen Unvereinbarkeit peripherer Revolutionen und marxistischer
Revolutionstheorie bis zur Infragestellung bisheriger Begriffsbildung zum Verhältnis
von Zentrum und Peripherie.
Der dritte Teil bringt Positionsbestimmungen in der aktuellen, im engeren Sinne
geschichtswissenschaftlichen Kontroverse. Sie ist, wie Eckhardt Fuchs in seiner
Beurteilung der "gegenwärtigen Geschichtskulturen in Deutschland"
meint, nicht mehr schlicht als "Historikerstreit" zu bezeichnen, sondern
längst in eine von gegensätzlichen Bezugspunkten her bestimmte "West-West-"
und "Ost-Ost-Debatte" gespalten. Zuvor nimmt Siegfried Prokop Stellung
zu dem nicht einmal euphemistisch als wissenschaftlich auszugebenden Bericht der
Enquete-Kommission des Bundestages zur "Aufarbeitung" von Zeitgeschichte.
Helmut Bleiber befaßt sich mit der Frage, welcher Stellenwert objektiven
und subjektiven Faktoren bei einer Analyse der Ursachen des Scheiterns des Sozialismusprojekts
sowjetischen Typs zukommt. Harald Neubert untersucht Neubewertungen der internationalen
Kräfteverhältnisse in der deutschen Nachkriegsordnung, wie sie nach
deren Revision in Arbeiten westdeutscher Historiker zu finden sind.
Auch zwei weitere Beiträge behandeln einen eigenen und keinewegs nachrangigen
Aspekt des Schwerpunktthemas. Waltraud Seidel-Höppner verfolgt den Bedeutungswandel
des Utopiebegriffs vom literarischen Topos bis zu den Sozialismusvorstellungen
des 19. Jahrhunderts, Claudia Schmidt geht den Auswirkungen einer stagnierenden
Gesellschaft auf utopisches Denken in der späten DDR nach.
Geschichtsthemen sind schließlich auch die Berichte zuzuordnen, in denen
es um Antifaschismus in beiden deutschen Staaten, eine neue Zetkin-Biographie
und Veranstaltungen zum deutschen Jakobiner Georg Forster geht.
Die weiteren Beiträge setzen Diskussionen aus früheren Z-Heften fort:
Jens Weiss stellt die Frage, ob sich die Öko-Probleme auf den allgemeinen
Nenner Energie bzw. Entropie bringen lassen, Ralph Graf untersucht Ursachen und
Folgen der hochschnellenden Staatsverschuldung in der Bundesrepublik und Heinz
Schäfer verfolgt die Reform-Debatte in DGB und IG Metall. Von der letzten
Tagung der AG Marx-Engels-Forschung werden zwei Beiträge der MEGA-Spezialisten
Manfred Müller und Wolfgang Jahn veröffentlicht, die zur Re-Lektüre
des Marx-Engelsschen Werks anregen dürften: Es geht um den dritten Band des
Kapitals, der inzwischen doppelt vorliegt, in der Urfassung des Marxschen Manuskripts
und in der Engels'schen Bearbeitung für die Veröffentlichung. Dazu kommt
ein wie immer umfangreicher Rezensionsteil.
Für die Redaktion des Schwerpunktes von Z 20 war Reinhard Schweicher verantwortlich.
Die Redaktion schließt den 5. Jahrgang mit dem bisher umfangreichsten Heft
ab. Wir hoffen, damit zum Jahreswechsel der Lektürelust und hoffentlich auch
dem Zeitbudget der Leserinnen und Leser von Z entgegenzukommen. Zugleich verbinden
wir das mit der Bitte, das Projekt Z durch Abowerbung weiter zu unterstützen
- Druck, Vertrieb und redaktionelle Arbeit werden nicht billiger (siehe Einleitungsbeitrag
zum Wahlausgang).
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