Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 18, Juni 1994, 05. Jhrg

Lorenz Knorr
Emanzipation als historischer Auftrag

Individuum und Arbeiterbewegung

Es existiert keine "anthropologische Lücke" im Gesamtwerk von Karl Marx. Arbeitet man die erst 1932 veröffentlichten Frühschriften des Begründers des wissenschaftlichen Sozialismus (1) durch, findet man ein relativ komplexes Bild vom Menschen. Es diente keineswegs nur der "Selbstverständigung; es könnte als Schlüssel zur humanen Umsetzung von "Das Kapital" dienen. Die Dialektik der Marxschen Gesellschaftskritik, Geschichtsphilosophie und Anthropologie ist vor allem in den Frühschriften ausgeprägt. Marx geht es primär um die Befreiung des Menschen von der Fremdbestimmung durch die vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Die vergesellschaftete Produktion soll diesem emanzipatorischen Zweck dienen. Dem Postulat Thomas Metschers, "die Einheit des Marx, schen Werkes" zu berücksichtigen (2), wäre zuzustimmen.

Einer Generation von Marxisten wurde diese Einheit des Marxschen Werkes, speziell seines Menschenbildes, nach Bekanntwerden der Frühschriften vermittelt. Die politische Aufarbeitung der historischen Niederlagen der deutschen und der österreichischen Arbeiterbewegung 1933 und 1934 war eng verknüpft mit der kritischen Aneignung jener anthropologischen Erkenntnisse von Marx. Damit erkannte man eine der Ursachen der schwerwiegenden Rückschläge: Die Individuen hatte man vergessen, weil die Aufmerksamkeit nur auf die kapitalistischen Besitz- und Machtverhältnisse bzw. auf die Gegenmacht großer Arbeiterorganisationen gerichtet war. Künftig sollte "der wiederentdeckte Mensch" mit seiner Schöpferkraft, seinen allseitigen Bedürfnissen und praktischen Erfahrungen ausreichend berücksichtigt werden. (3)

Das marxistische Menschenbild ist nichts Endgültiges: Es ist Produkt der kapitalistischen Klassengesellschaft. Es sagt aus, was der Mensch unter konkreten Bedingungen ist und was er sein soll bzw. könnte, wenn die materiellen Lebensbedingungen grundlegend verändert werden. Marx und Engels verarbeiten alle produktiven Ideen des Humanismus, gehen aber von der historisch gewordenen Wirklichkeit aus: Sie zeigen Wege zur Realisierung humaner Ziele. Der Humanismus erkannte die Entfaltung des umfassenden Reichtums menschlicher Wesenskräfte; Marx und Engels belegen, unter welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen diese zu verwirklichen sind. (4)

Zwar ist das marxistische Menschenbild ergänzungsbedürftig durch jüngere Erfahrungen. Kritisch zu überprüfen bleibt es allemal. Es vermittelt jedoch auch heute noch viele Orientierungspunkte für die politische Praxis und für eine zukunftsgerichtete Pädagogik.

Das Ziel: "eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist", nennt das Kommunistische Manifest. Sinngemäß ist dieses Ziel in "Das Kapital" wiederholt. Die Praxis des realen und (historisch vorläufig) gescheiterten Sozialismus entsprach diesem Ziel nicht nur nicht, weil die internationalen Kräfteverhältnisse einen hohen Grad an (Selbst-)Disziplin erheischten. Die Ignoranz allseitiger und von Marx dargelegter Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung des Menschen lag in der Konsequenz administrativer Handhabung politökonomischer Macht. Nicht die bewußte Gestaltung der Lebensbedingungen der Menschen durch diese selbst setzte man als Aufgabe, sondern die Bewährung der Menschen im System, ihre Anpassung an Verhältnisse, was den Emanzipationsprozeß behinderte. (5) Der Mensch blieb auf den Faktor Produktionskraft reduziert, die Komplexität seiner Bedürfnisse mißachtet (6) Die Rolle des revolutionären Subjekts, bei Marx die Arbeiterklasse, wurde realiter von der Parteiführung beansprucht. (7)

Gegen undialektische Interpretationen des Satzes aus "Das Kapital", wonach das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt, wurde oft der Brief Friedrich Engels' von 1894 an Starkenburg zitiert: "Es ist also nicht, wie man sich hier und da bequemerweise vorstellen will, eine automatische Wirkung der ökonomischen Lage, sondern die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber in einem gegebenen, sie bedingenden Milieu, auf der Grundlage vorgefundener tatsächlicher Verhältnisse" (8). Der Unterstellung entgegenwirkend, Marx erkenne Geschichte mechanistisch oder deterministisch, er reduziere die Bedeutung menschlicher Aktivität, verwies man oft auf seine Erkenntnis, "daß also die Umstände ebensosehr die Menschen wie die Menschen die Umstände machen" (9). Die Dialektik von materiellen Lebensbedingungen und dem Tätig-Sein der Menschen für qualitativ höherwertige Bedürfnisbefriedigung durchzieht wie ein roter Faden die Frühschriften, insbesondere "Die deutsche Ideologie" und die "Nationalökonomie und Philosophie" (in der MEW-Ausgabe: "Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844").

Letztendlich: "Der Kommunismus ist ... das ... für die nächste geschichtliche Entwicklung notwendige Moment der menschlichen Emanzipation und Wiedergewinnung" (10) des Menschenwesens. "Die Sinne des Menschen menschlicher zu machen, als um für den ganzen Reichtum des menschlichen und natürlichen Wesens entsprechenden Sinn zu schaffen" (11), klingt wie ein kategorischer Imperativ, den im Prozeß dynamischer Entfaltung der Produktivkräfte zu verwirklichen allen aufgetragen ist, die inhumane Verhältnisse überwinden wollen. Die bewußte Vereinigung von Vernunft und Wirklichkeit mittels politischem Kampf bestimmt das Marxsche Denken.

Das Menschenbild von Karl Marx

Es ist kritische, empirisch und theoretisch reflektierte Realität, was Marx über den Menschen, seine Bedürfnisse und Selbstentfaltungsmöglichkeiten darlegt: "Die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz, also auch der Geschichte" ist, "daß die Menschen imstande sein müssen zu leben, um 'Geschichte machen' zu können. Zum Leben aber gehört vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges andere. Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst" (12).

"Das Zweite", daß die zur Befriedigung der elementaren ersten Bedürfnisse erforderlichen Tätigkeiten und die dafür erarbeiteten und benutzten Werkzeuge neue Bedürfnisse hervorbringen: ebenfalls eine "geschichtliche Tat" (13). Die Bewältigung von Naturkräften zum Zweck immer besserer Befriedigung eigener Lebensnotwendigkeiten hebt das Verhältnis Mensch/ Natur auf immer höheres Niveau. Zugleich entwickelt sich der Mensch: "Indem er durch diese Bewegung der Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur. Er entwickelt die in ihm schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel der Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit" (14). Der bedachte Einsatz von stets weiterentwickelten Werkzeugen und der vorher im Kopf fertige Plan für das spätere Produkt ist der qualitative Sprung vom Tier zum Menschen. (15)

"Das dritte Verhältnis" ist ein soziales: Die Menschen wirken von Anfang an bei der Produktion ihres eigenen Lebens und bei wachsender Bedürfnisbefriedigung zusammen. Aus dem ersten sozialen Verhältnis, der Familie (16), entwickeln sich im Prozeß gemeinsamen Tätig-Seins die gesellschaftlichen Verhältnisse (17). Die Menschen realisieren ihre Art-Spezifik, ihr bewußtes Einwirken auf die Natur und auf ihre gesamten Lebensbedingungen über ihr kollektives Tätig-Sein, über gesellschaftliche Zusammenarbeit. Das Bedürfnis nach Verständigung gehört zum Wesen des Menschen. Im Zusammenhang mit dem sozialen Verhältnis entwickeln sich neue - kulturelle - Bedürfnisse. Obwohl abhängig von der jeweiligen materiellen Basis, erreichen sie eine relative Eigenständigkeit und werden zur Quelle weiterer Bedürfnisse.

Bei der Produktion ihrer eigenen Lebensvoraussetzungen entwickelt sich schließlich als viertes Verhältnis das Bewußtsein der Menschen: "Die Vorstellungen, die sich diese Individuen machen, sind Vorstellungen entweder über ihr Verhältnis zur Natur oder über ihr Verhältnis untereinander oder über ihre eigene Beschaffenheit. ... Das Bewußtsein kann nie etwas anderes sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß." (18)

Ein oft gebrauchtes Bild zum besseres Verständnis sei hier wiederholt: Eine menschliche Gemeinschaft baut mit entwickelten praktischen Fähigkeiten und Kenntnissen sowie dementsprechenden Instrumenten für sich ein Wohnhaus. Dieses Werk entspricht den gegenwärtigen Bedürfnissen. Zunächst widerspiegelt das Haus den Grad der entstandenen Verhältnisse Mensch/Natur und Mensch/Gemeinschaft/Gesellschaft. Indem das neue Haus bewohnt wird, entwickeln sich neue Erfahrungen und neue Bedürfnisse. Das erreichte "Schon" und das erfahrene "Noch nicht" führt zum Bau eines neuen Wohnhauses, das neuen Bedürfnissen und veränderten Lebensgewohnheiten entspricht. Das Produkt menschlicher Arbeit wirkt wie ein Spiegel, in dem sich der Mensch erkennt, mit dem er sich identifiziert. - Dies verweist auch darauf, daß der Mensch - im Unterschied zum Tier - nicht primär auf Anpassung an vorgefundene Verhältnisse angelegt ist, sondern auf deren Veränderung im Sinne besserer Bedürfnisbefriedigung und eigener Emanzipation vom Bisherigen.

In der Arbeit erkennt Marx den Schlüssel zum Verständnis der gesamten Geschichte der Gesellschaft: "Sie hat den Menschen selbst geschaffen. ... Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist es der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, und um so mehr, je weniger sie durch den eigenen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt." (19)

Gegen alle einengenden Interpretationen des Marxschen Werkes, die alle Ableitungen auf Ware, Geld, Wert gründen, sei auf Marx verwiesen: "Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen ... sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigene Aktion erzeugten. ... Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen" (20).

Entfremdung und Selbstentfremdung

Der Kern des marxistischen Menschenbildes hängt jedoch ursächlich zusammen mit dem Klassenantagonismus: der Selbstentfaltung der Individuen im Prozeß der gesellschaftlichen Arbeit bzw. schöpferischen TätigSeins und der Fremdbestimmung/Selbstentfremdung in der arbeitsteiligen Produktion mit Privatbesitz an den Produktionsmitteln. Marx vergegenwärtigt das mögliche und notwendige Wachsen der menschlichen Selbstverwirklichung nach Umwerfung aller gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, und der Selbstentfremdung von seinem wahren Wesen in der kapitalistischen Produktion, wo "die eigene Tat des Menschen ihm zu einer fremden gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht" (21).

Die Selbstentfremdung des Menschen äußert sich 1. als Entfremdung des Arbeiters von seinem Produkt, in dem er sich bzw. die erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse der Werksgemeinschaft nicht erkennen kann; 2. als Entfremdung von seiner Tätigkeit/Arbeit, die er als Zwang erfährt und die ihn abstumpft; 3. als Entfremdung von seiner Natur, deren kreative Selbstverwirklichung blockiert ist, und 4. als Entfremdung der Menschen untereinander im rigorosen Konkurrenzkampf, wo der eine dem anderen zum Feind wird. (Die zusätzlichen Formen der Entfremdung/Fremdbestimmung mittels "Kultur"- und Freizeit-Industrie unserer Zeit waren damals noch nicht relevant, ebensowenig wie partielle Selbstentfaltungsmöglichkeiten der heutigen technischen Intelligenz.)

Obiges Lehrbeispiel vom Wohnhaus zeigt sich im Klassenantagonismus mit völlig verändertem Sinn: Wo solche Häuser durchaus gewachsene Ansprüche befriedigen, transformiert ein daneben gebauter Palast die Befindlichkeit der Menschen. Das Haus, mag es auch aufgestockt und modernisiert werden, beweist, daß die Bewohner geringere Ansprüche realisieren als jene im Palast, der Luxus äußert. "Obgleich also die Genüsse des Arbeiters gestiegen sind, ist die gesellschaftliche Befriedigung, die sie gewähren, gefallen im Vergleich mit den vermehrten Genüssen des Kapitalisten, die dem Arbeiter unzugänglich sind. ... Unsere Bedürfnisse und Genüsse entspringen aus der Gesellschaft; wir messen sie nicht an den Gegenständen ihrer Befriedigung, weil sie gesellschaftlicher Natur sind, sind sie relativ" (22). Das bedeutet: "Das materielle, unmittelbar sinnliche Privateigentum ist der materielle sinnliche Ausdruck des entfremdeten menschlichen Lebens" (23). Unter solchen Bedingungen wird das geschaffene Werk zum Zerrspiegel: Der Mensch kann sich darin nicht mehr erkennen, er vermag sich damit nicht zu identifizieren.

Marx kritisiert am Kapitalismus - das gilt jedoch prinzipiell und allgemein, eicht nur für diese Gesellschaftsformation -, daß eine Mehrzahl von Menschen von der aktiven Einflußnahme auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, auf die Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen ausgeschlossen ist. Jedoch: "Die Aufhebung der Selbstentfremdung macht den gleichen Weg wie die Selbstentfremdung" (24); sie bringt die Selbstverwirklichung des Menschen aus sich selbst hervor im Prozeß ständiger Entfaltung der Produktivkräfte. "An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller Sinne, der Sinn des Habens getreten. Auf diese absolute Armut mußte das menschliche Wesen reduziert werden, damit es seinen inneren Reichtum aus sich heraus gebäre". (25) Das allseitige Wollen des Menschen ist im Kapitalismus auf das "Haben-Wollen" eingeschränkt; auf dem tiefsten Punkt, wenn die Unerträglichkeit der Verhältnisse die notwendige revolutionäre Tat hervorbringt, verändern sich auch das Denken und Verhalten grundsätzlich: die physischen und geistigen Sinne entsprechen wieder dem wirklichen Wesen als dem "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse".

Der Weg der Selbstverwirklichung

Marx erkennt die historisch bedingten Wechselbeziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft. Im vorkapitalistischen Stadium beschränken die gesellschaftlichen Verhältnisse die freie Entfaltung der Menschen. Der Kapitalismus entfesselt zwar gewaltige individuelle und kollektive Schöpferkräfte, aber er deformiert das Mensch-Sein durch entfremdete Arbeit und durch den Klassenantagonismus. Erst die Umwerfung dieser Verhältnisse bringt "freie Individualität" hervor, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen Produktion mit bewußt gestalteten sozialen Beziehungen. (26)

In dialektischer Weise die anthropologischen Erkenntnisse Hegels von Selbstentfremdung und Selbstverwirklichung aufgreifend und die "Bewegung des Weltgeistes", die "absolute Idee" vom Kopf auf die Füße stellend, d.h. in der realen geschichtlichen Entwicklung nachweisend, formuliert Marx ein realistisches Menschenbild.

Marx unterscheidet, was die Entfaltungsmöglichkeiten, aber auch die weiterwirkende Entfremdung betrifft, zwischen "rohem", unvollendetem Kommunismus und einem späteren Kommunismus, den er als "vollendeten Humanismus" versteht: die "wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit den Menschen ... zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit" (27). Der rohe Kommunismus, "indem er die Persönlichkeit des Menschen überall negiert, ist aber nur der konsequente Ausdruck des Privateigentums, welches diese Negation ist. ... Wie wenig diese Aufhebung des Privateigentums eine wirkliche Aneigung ist, beweist eben diese abstrakte Negation der ganzen Welt, der Bildung und der Zivilisation, die Rückkehr zur natürlichen Einfachheit des armen Menschen, der nicht über das Privateigentum hinaus, sondern noch nicht einmal bei demselben angelangt ist" (28). Die "Entfremdung des Menschen als affiniertes" (als krankhaft verändertes) Wesen ist noch nicht aufgehoben. (29)

Es klingt wie eine auf unsere Zeit bezogene Verheißung für die Zukunft, wie eine kategorisch gestellte Aufgabe und Verpflichtung für alle Sozialisten, für alle realen Humanisten - den historischen Weitblick von Marx bestätigend -, wenn er zum vollendeten Kommunismus feststellt, dies sei "positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußte und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen". (30) "Die Aufhebung des Privateigentums ist daher die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften" (31). Selbstverwirklichung für alle bedarf also konkreter gesellschaftlicher Voraussetzungen; im allgemeinen ist sie nicht durch Akte persönlicher Willensanstrengungen zu erreichen. (Die Sonderfälle von Künstlern z.B. und deren Selbstverwirklichung in ihren Werken gab es in allen Gesellschaftsformationen.) Entscheidend bei Marx und Engels sind stets die revolutionäre Praxis, die in der politischen Aktion gewonnenen und reflektierten Erfahrungen, die Lernprozesse, die im stetigen Kampf für die Gesellschaft der Freien und Gleichen die Arbeiterklasse zum revolutionären Subjekt erheben.

Im Gegensatz zum reduzierten Wesen des Menschen im Kapitalismus auf das Haben-Wollen, den überspitzten Egoismus und zum Feind produzierenden mörderischen Konkurrenzkampf erkennt Marx - der sonst zurückhaltend mit Detail-Prognosen ist - die neuen gesellschaftlichen Beziehungen der durch gemeinsamen revolutionären Kampf veränderten Menschen: 'Das menschliche Wesen der Natur ist erst da für den gesellschaftlichen Menschen; denn erst hier ist sie für ihn das Band mit dem Menschen, als Dasein seiner für den anderen und des anderen für ihn, wie als Lebenselement der menschlichen Wirklichkeit erst hier ist sie da als Grundlage seines eigenen menschlichen Daseins" (32). - Heute nennen wir eben dies "Solidarität", die im opferreichen Bemühen um qualitativ bessere Lebensbedingungen als Notwendigkeit für die Kämpfenden sich herausbildet. Weiter bei Marx: "An die Stelle des nationalökonomischen Reichtums und Elends (tritt) der reiche Mensch und das reiche menschliche Bedürfnis. Der reiche Mensch ist zugleich der einer Totalität der menschlichen Lebensäußerung bedürftige Mensch. Der Mensch, in dem seine eigene Verwirklichung, als innere Notwendigkeit, als Not existiert". (33)

Erst dann, wenn die Arbeit, das Tätig-Sein, zur realen Selbstverwirklichung wird, ist sie mit Freiheit statt mit bisheriger Notwendigkeit identisch. "Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen." (34)

Marxistische Erneuerung muß zweifellos selbstkritisch den ersten Versuch einer Alternative zu bisherigen Gesellschaftsformationen aufarbeiten. Sie sollte zugleich zu den Quellen zurückkehren und dort neu beginnen. Emanzipation bleibt der historische Auftrag.

1 Alle Zitate, soweit nicht anders bezeichnet, sind der von S. Landshut herausgegebenen Dokumentation "Die Frühschriften", Stuttgart 1953, entnommen.
2 Vgl. Marxistisches Menschenbild - eine Utopie? Bonn 1993, S. 49 ff., S. 56.
3 Der Verfasser nahm von 1935 bis 1938 in den deutschen Randgebieten der bürgerlichen CSR an Seminaren teil, in denen diese Themenkomplexe diskutiert wurden.
4 Vgl. Marxistisches Weltbild..., S. 137ff.
5 Vgl. E. Kellner und A. Soldan, Die Reduktion des Individuums, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 4/1991, S. 431ff.
6 Vgl.. J. Stalin, Fragen des Leninismus, Moskau 1947. Unzulässige Verkürzungen der Marxschen Anthropologie enthält auch: Grundlagen der marxistischen Philosophie, Berlin 1960. Das zweibändige Philosophische Wörterbuch, Leipzig 1975/76, geht zwar auf Grundbegriffe des Marxschen Menschenbildes ein, klammert jedoch wesentliche Passagen aus.
7 Vgl. Marxistisches Weltbild..., S. 115ff.
8 Zitiert nach E. Böse, Materialistische Geschichtsauffassung, Hamburg 1948, S. 46/47. 9 Frühschriften, S. 368.
10 Ebd., S. 24s.
11 Ebd., S. 243.
12 Ebd., S. 345.
13 Ebd., S. 355.
14 Das Kapital, 1. Bd., Berlin 1947, S. 185.
15 Ebenda, S. 186.
16 Frühschriften, S. 355.
17 Ebd., S. 347/348.
18 Ebd., S. 348/349. Vgl. auch H. Karras, Die Grundgedanken der sozialistischen Pädagogik in Marx' Hauptwerk 'Das Kapital', Berlin 1956.
19 Das Kapital, 1. Bd., S. 186.
20 Frühschriften, S. 346/347.
21 Ebd. S. 361.
22 Vgl. Marxistisches Weltbild..., S.10.
23 Ebd.
24 Frühschriften, S. 232.
25 Ebd., S. 240.
26 Ebd., S. 392.
27 Ebd., S. 235.
28 Ebd., S. 234.
29 Ebd., S. 235.
30 Ebd., S. 235.
31 Ebd., S. 240.
32 Ebd., S. 237.
33 Ebd., S. 246.
34 Marx/Engels, Werke Bd. 20, S. 106.

 
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