Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
<<Zurück
 
 

Heft 18, Juni 1994, 05. Jhrg

Sabine Kebir
Philosophinnen - verfemt oder verschwiegen

"Weil die Schriftsteller auf die schönen Werke der Frauen neidisch sind, haben sie ihre hervorragenden Taten nicht erzählt sondern sie mit Schweigen übergangen."
Moderata Fonte (1555-1592)

Marit Ruthmann u.a.,
Philosophinnen. Von der Antike bis zur Aufklärung,
Edition Ebersbach, Zürich, Dortmund 1993, 331 S., 54,- DM.

Wer wußte schon, daß Sokrates' Methode der philosophischen Überzeugung - nämlich der Dialog - nicht von ihm erfunden wurde? Dabei betont er selbst, daß ihm diese Form von Aspasia ( um 460401 v. Ch.) vermittelt worden sei, keine "schlechte Lehrerin ... sondern eine, die auch viele andere treffliche Redner gebildet hat, einen aber, der es allen Hellenen zuvortut, den Perikles." Als Gattin dieses Staatsmannes hatte sie nicht nur auf dessen politische Entscheidungen bedeutenden Einfluß. In ihrem Salon verkehrten auch Anaxagoras, Archimedes, Sophokles und eben auch Sokrates, um von ihren Redekünsten und von ihrer sprichwörtlichen Weisheit zu lernen. Das frauenfeindliche, der Knabenliebe huldigende Athen warf indes dem Perikles vor, in sexueller Hörigkeit seiner Frau zu stehen. Aspasia selbst wurde von den antiken Komödiendichtern als männerverschlingende Hetäre verunglimpft. Als solche ging sie in die abendländische Geschichte ein, womit das Grundmuster gestrickt war, in das intellektuelle oder auch nur wissenshungrige Frauen seitdem oft gestellt wurden. Ihre trotz jahrtausendelanger Diskriminierung beim Zugang zum Studium dennoch vorhandenen großen Beiträge zur Entwicklung der Philosophie, der Künste und der Naturwissenschaften werden verkleinert oder ganz verschwiegen. Ein Beispiel aus neuerer Zeit: Die berühmte 'Monade' von Leibniz - die unteilbare ideelle und materielle Grundeinheit, auf die er alle Erscheinungsformen der Welt zurückführte, hat er nicht - wie die wissenschaftliche Literatur bis heute behauptet, von Franz Mercur van Helmont übernommen, sondern - wie er selbst auch schrieb - von ihrer Erfinderin, Lady Ann Conway (1631-1679). Diese unternahm mit dem Monadenbegriff einen der ersten Versuche, die Autorität von Descartes zu überwinden, für den das Geistige in strengem Gegensatz zur mechanistisch verstandenden Selbstorganisation der Materie stand.

Die Auflistung verschwiegener weiblicher Leistungen in der Geschichte des Denkens findet schier kein Ende. Wer weiß denn, daß sogar die ersten Schritte der Philosophie in Deutschland von einer Frau gemacht wurden - Hildegard von Bingen (1098-1179)? Und daß die erste philosophische Schrift in deutscher Sprache 'Das fließende Licht der Gottheit' ebenfalls von einer Frau - Mechthild von Magdeburg (1210-1294) - stammte? Daß die erste sozialistische Programmschrift von Flora Tristan (18031844) verfaßt wurde und nicht nur fünf Jahre vor Marx'/Engels' Kommunistischem Manifest erschien, sondern auch eine zehnmal höhere Auflage erreichte? Die sozialistische Bewegung nahm Flora Tristan kaum noch zur Kenntnis, wahrscheinlich weil sie die Gleichberechtigungsforderung der Frau besonders ausführlich behandelte. Man ahnt: Es waren dieselben Gründe, die zum Verschweigen des Entwurfs der auf die Frauen erweiterten Menschenrechtscharta von Olympe de Gouges (1748-1793) geführt haben. Trotz gegenteiliger Beteuerungen waren die 'Klassenkämpfe' bislang von männlichen Interessen dominiert.

Um der skandalös männlich ausgerichteten Einseitigkeit aller bisherigen Philsophiegeschichten entgegenzutreten, haben Marit Rullmann, Gudrun Gründken und Marlies Mrotzek ein chronologisch aufgebautes Nachschlagewerk mit Portraits von Philosophinnen von der Antike bis zur Aufklärung zusammengestellt. Es kann als Grundlage künftiger Ausarbeitung der überfällig gewordenen weiblichen 'Ergänzung' der Philsophiegeschichte dienen. Schon jetzt läßt sich absehen, daß in dieser Rekonstruktion Frauen nicht nur als Teilhaberinnen der großen Strömungen der Philosophie erscheinen werden, sondern manchmal auch als deren geistige Urheberinnen - und zwar nicht nur, wie heute noch oft unterstellt, als sinnliche Animateurinnen von Salons. Einem weiteren Vorurteil entgegen bestätigt die Philosophiegeschichte auch keinesfalls eine weibliche Unterbegabung für abstraktes und naturwissenschaftliches Denken. Solange Natur- und Geisteswissenschaften als Einheit galten, waren Philosophinnen selbstverständlich auch Mathematikerinnen und Physikerinnen, wie Voltaires Geliebte Emilie Marquise du Chatelet (1706-1749), die eine in der damaligen Zeit vieldiskutierte Synthese von Newtons Gravitationslehre mit Leibniz' Monadentheorie zu verbinden suchte. Während die polytheistische Antike auch weise Göttinnen kannte und in ihren Philosophenschulen teilweise noch Frauen zuließ - Themista und Leontion (4. Jahrh. v. Ch.) waren Epikureerinnen -, so sprachen die monotheistischen Religionen wie das Juden- und Christentum den Frauen die Teilhabe am männlich konzipierten Wissen und Bewußtsein ab. Es ist bezeichnend, daß die zwischen 370 und 415 in Alexandria lebende Hypatia, die dort offiziell Platon und Aristoteles lehrte und Verfasserin vieler Bände arithmetischer Kommentare war, von christlichen Fanatikern in einer Kirche ermordet wurde - ein Vorgriff auf die spätere Hexenverfolgung.

Während man männlichen Denkern jegliche Ausschweifung zugestand, mußten Frauen, die sich zur Wissenschaft berufen fühlten, seit Anbruch der christlichen Ära dem Sexualleben entsagen. Über mehrere Jahrhunderte war weibliches Philosophieren denn auch fast nur hinter den Mauern der Klöster möglich, wo auch Nonnen mit dem Abschreiben lateinischer Quellen beschäftigt und in die Sieben Künste eingeweiht werden konnten. Nicht Weltentsagen, sondern Wissensdrang brachte denn auch begüterte Damen zuweilen dazu, das Klosterleben zu akzeptieren. Teresa von Avila (1515-1582) verfaßte eine äußerst bemerkenswerte Autobiographie, in der sie von ihren jahrzehntelangen inneren Kämpfen zwischen der Leidenschaft der weltlichen Sinne und der Leidenschaft für das Wissen, der sie nur im Kloster frönen konnte, berichtete. Ihre 'Vida' ist der erste literarische Versuch, das Unterbewußte des eigenen Ich zu erforschen.

Das Formulieren eigener Gedanken ist den Damen im Kloster oft aber nur in Form von Mystik möglich gewesen, die aus einer angenommenen Offenbarung göttlichen Wissens entsprang, welche wiederum durch Trance- oder Schmerzzustände zustandekam. Früher als bislang angenommen, kam es so bereits zur Ausbildung spezifisch weiblicher Weltsichten. Hildegard von Bingen, Biologin und Medizinerin, hielt männliche Härte nicht für eine positive Eigenschaft, auch verwendete sie weibliche Symbole für Gott. Die deutsche Frauenmystik, der auch Mechthild von Magdeburg (1210-ca.1294), Mechthild von Hackeborn (1241- 1299) und Gertrud die Große von Helfta (1256-1301) zuzurechnen sind, stellt eine kulturhistorische Besonderheit dar: mystische Verbindungen zu Gott haben andere Religionen stets nur Männern zugestanden. Und obwohl Meister Eckart Hildegard von Bingen ausdrücklich als seine Lehrmeisterin benennt, wird die Frauenmystik bislang nicht als Voraussetzung der männlichen deutschen Mystik betrachtet.

Schon im Mittelalter argumentierten Frauen auf der Basis der Theologie gegen das Dogma ihrer Minderwertigkeit. Christine de Pizan (1365-1429/30) bezweifelte in ihrem "Buch von der Stadt der Frauen" - der ersten weiblichen Utopie - daß Gott in seiner "grenzenlosen Güte etwas Unvollkommenes erschaffen" haben sollte. Sie stellt fest: "... wenn es üblich wäre, die kleinen Mädchen eine Schule besuchen und sie im Anschluß daran, genau wie die Söhne, die Wissenschaften erlernen zu lassen, dann würden sie genauso gut lernen und die letzten Feinheiten aller Künste und Wissenschaften ebenso mühelos begreifen wie jene." Christine de Pizan eröffnete in ihrem Briefwechsel mit Jean de Montreuil den ersten Literaturstreit der Geschichte über den berühmten, aber außerordentlich sexistischen 'Rosenroman'. Er stellte die Männer als Opfer durchtriebener erotischer Verführungsmanöver der Frauen dar und riet den Männern grundsätzlich von Liebesbeziehungen ab. Auch Teresa von Avila formulierte theologische Argumente, um das Ansehen der Frau in der Christenheit zu heben. Sie verwies auf die besondere Zuneigung von Jesus für die Frauen und folgerte:" ... ich sehe die Zeit kommen, da man starke und zu allem Guten begabte Geister nicht mehr zurückstößt, nur weil es sich um Frauen handelt." Sie wagte es, Autoritäten wie den Apostel Paulus infrage zu stellen, der den Frauen "Zurückhaltung" anempfohlen hatte. Zwei Venezianerinnen, Moderata Fonte (15551592) und Lucretia Marinella (1571-1653) hielten die Frau sogar für eine gelungenere Schöpfung Gottes als den Mann, weil Adam seinen ersten, notwendigerweise unvollkommenen Versuch darstellte, während Eva aus dessen bereits beseelter Materie geformt worden sei.

Viele Jahrhunderte lang forderten Frauen, die sich ihre eigene Bildung von der Familie zumeist schwer erkämpfen mußten, allgemein bessere Bildungsbedingungen für Frauen. Anna Maria von Schurmann (1607-1678), die bereits als junges Mädchen 14 Sprachen beherrschte, und in einem eigens für sie gebauten Holzkäfig die theologischen Vorlesungen in Utrecht besuchen durfte, führte dafür vor allem an, daß erst Bildung und Wissen den Frauen ermöglichten, den christlichen Moralvorstellungen entsprechend zu leben. Weil offensichtlich die Sorge vor den moralischen Folgen der Koedukation immer wieder als Argument gegen Frauenbildung vorgebracht wurde, schlug Mary Astell (1666/81731) die Einrichtung von Frauenkollegs vor. Frauenbildung sollte in ihren Augen jedoch nicht auf eine Konkurrenz der Geschlechter um öffentliche Ämter ausarten. Mit ihrer Betonung der weiblichen Besonderheiten kann sie als Begründerin der noch heute im Feminismus vorhandenen Strömung gelten, die "Gleichheit in der Differenz" fordert.

Das Zeitalter der Aufklärung schwankte zwischen der prinzipiellen Anerkennung der vom Marquis de Condorcet vertretenen intellektuellen Gleichwertigkeit von Frau und Mann und der von Rousseaus Emile verkörperten Gegenströmung, die eine prinzipiell unterschiedliche Erziehung der Geschlechter in Hinblick auf ihre späteren gesellschaftlichen Rollen verlangte. Gegen diese sich zunächst durchsetzende Strömung traten jedoch immer mehr Frauen energisch auf, wie Mary Wollenstonecraft (1759-1797) und Flora Tristan (1803-1844), die nicht nur bildungsmäßige, sondern auch rechtliche Gleichheit für Frauen einforderten. Die Askese als Preis dafür war obsolet geworden und so wurden Sexualität und Ehe - die Claire Démar (1800- 1833) erstmals als "legalisierte Prostitution" bezeichnete - neue Schwerpunkte weiblichen Denkens.

Das Nachschlagewerk, das Aufmerksamkeit für die ältere Geschichte weiblichen Denkens erzeugen möchte, bricht in der Mitte des 19. Jahrhunderts ab. Dies ist der Zeitpunkt, als die Kämpfe für die Gleichberechtigung nicht mehr nur durch einzelne Frauen, sondern in der Folge massenhafter Einbeziehung der Frauen ins Arbeitsleben zunehmend durch Frauenbewegungen ausgetragen wurden. Die Erschließung der Geschichte des weiblichen Denkens ermöglicht es nicht nur, die bisherige männliche Einäugigkeit der Philosophigeschichte aufzuheben, sondern kann den heutigen Frauenbewegungen auch historisch begründetes Selbstbewußtsein vermitteln. Ein bei feministischen Unternehmungen bislang selten wahrnehmbarer Vorzug des Nachschlagewerkes liegt in der freundlichen Hervorhebung von Fällen, in denen weibliche Bildung und intellektuelle Tätigkeit von Männern nicht nur gefördert, sondern in partnerschaftlichem Genuß fair mitgelebt wurden. Dabei wird deutlich, daß diese Männer den offenen Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen nicht scheuten, selbst oft immer wieder auf die Leistungen ihrer intellektuellen Partnerinnen hinwiesen und daß es eher der Gesellschaft anzulasten ist, wenn diese im Nachhinein verkleinert oder ganz verschwiegen wurden. Stellvertretend für viele in dem Band angesprochene Beispiele sei hier das Verhältnis von Harriet Hardy-Taylor-Mill und John Stuart Mill genannt, der durch ihren Einfluß selbst zum aktiven Feministen wurde. So bietet das Buch eine neue Sicht auf die Geschichte der intellektuellen Interaktion von Männern und Frauen, die bislang vor allem ausbeuterische Beispiele aufgespürt und diese als psychologisches Grundmuster festgeschrieben hat (siehe Klaus Theweleit: Buch der Könige). Die empirisch belegbare differenziertere Sicht könnte dazu verhelfen, die Ursachen der weiblichen Benachteilung bei der Produktion des Denkens und der Kunst weniger im subjektiv-psychologischen Bereich der Geschlechterverhältnisse zu suchen, sondern eher in den mächtigen patriarchalen Grundstrukturen der Gesellschaft, die nur von außerordentlichen Charakteren 'überwunden' werden können. Eine solche Erkenntnis hätte Folgen für die feministischen Strategien insgesamt, die die Schwerpunkte ihres Wirkens weniger auf moralische Erziehung der Individuen als auf die Beseitigung der patriarchalen Funktionsweise der Gesellschaften zu richten hätten.

Dem Verdienst des Bandes, die Ergänzung der Philsosophiegeschichte durch ihre weibliche Komponente überhaupt erst zu ermöglichen, steht der den meisten Philosophiegeschichten inhärente Makel gegenüber, daß sie ein allzu eurozentrisches (auf die griechische Antike zurückgehendes) Bild der Entwicklung des Denkens entwerfen. Gerade aber für die Zukunft einer ganzheitlichen, den männlichen und den weiblichen Part dieser Geschichte berücksichtigenden Ausarbeitung ist es von fundamentaler methodischer Bedeutung, die bisher gewohnten 'Grenzen' der Kulturen und Zivilisationen zu überschreiten beziehungsweise infrage zu stellen. Dabei wird sich herausstellen, daß insbesondere die Bedingungen weiblicher Wissensaneignung und -anwendung präziser bestimmbar und deutlicher auf die allgemeine patriarchale Grundstruktur der Gesellschaft zurückzuführen sind
 
Zum Seitenanfang