Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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Heft 18, Juni 1994, 05. Jhrg

Editorial

"Eure Zielsetzungen sind ja wunderschön, aber ist der Mensch denn wirklich für die Gesellschaft, die euch vorschwebt, geschaffen?" Fragen dieser Art sind Linke, Sozialisten, Kommunisten jederzeit begegnet, und der Zusammenbruch des Realsozialismus schien denen Auftrieb zu geben, die schon immer gewußt haben wollen, daß nur die Marktwirtschaft der egoistischen Natur des Menschen angemessen sei. Der Preis, den dieses System der Mehrheit der Erdbevölkerung abverlangt, wird freilich nach dem Wegfall der sozialistischen Konkurrenz erst recht offenkundig, können sich die Markt- und Konkurrenzkräfte heute doch noch ungehemmter und global austoben.

Es bleibt aber die Frage nach dem Stellenwert eines "Menschenbilds" für eine Option, die diesen Zustand nicht als Ende der Geschichte betrachten möchte. Hat der Marxismus als Theorie ein "Menschenbild"? Wenn ja, ist dieses realitätsgerecht? Wenn nein, wie ist dieses Defizit aufzuarbeiten? Oder braucht der Marxismus vielleicht gar keines? Diese Fragen sind seit langem Gegenstand kontroverser Debatten im theoretischen und politischen Spektrum der marxistischen Linken. Natürlich können wir dazu nur eine knappe Auswahl an Positionen zur Diskussion stellen. Aber das Ziel wäre erreicht, wenn damit wichtige Gesichtspunkte zum Weiterdenken gegeben wären.

Die Beiträge von Lorenz Knorr und Elisabeth Bessau gehen gewissermaßen an den Anfang der Herausbildung des Marxismus zurück: Ihre Interpretation der Marxschen Frühschriften stellt den Autor des 'Kapital' ganz entschieden in eine humanistische Tradition. Die Selbstentfaltung des Menschen ist dabei ohne Veränderung der ihn fesselnden Lebensbedingungen undenkbar. Für Ekkehard Sauermann steht im Mittelpunkt der auf praktische Selbst-Erziehung statt autoritäre Gängelung setzenden Erziehungskonzeption Makarenkos ein optimistisches Menschenbild. Sebastian Reinfeld und Richard Schwarz verfechten demgegenüber mit Rückgriff auf Foucault und Althusser die Ansicht, daß philosophische Konzeptionen "des Menschen" selbst immer Konstruktionen sind, denen praktische Ordnungsschemata zugrunde liegen; die Frage ist, wie diese Ordnungsschemata sich zur gleichsam subkutanen Dimension der menschlichen Körper verhalten. Die diskursive Konstruktion von Grundbegriffen des abendländischen Denkens thematisiert Jens Christian Müller-Tuckfeld, der die Genese des Begriffs des "Subjekts" in juristischen Praxen untersucht. Um Konstruktion von Begriff und "Realität" geht es auch im Beitrag von Wulf D. Hund. Am Beispiel des Verhältnisses der Europäer und europäischen Kolonisatoren Nordamerikas zu den Indianern gibt er ein Exempel für jene "Dialektik der Aufklärung", in der die humanistische Idee der Zivilisation einhergeht mit der Domestizierung und letztlich Ausrottung der "Wilden", deren Existenzrecht auf das einer zum Schauobjekt degradierten Spezies beschränkt wird. Dieser Text kann auch als instruktiver Beitrag zur aktuell virulenten Problematik des Rassismus gelesen werden.

Z 17 war aktuell-politischen Problemen im "Superwahljahr" gewidmet. Wir nehmen diesen Strang mit zwei Beiträgen zur Wahldiskussion erneut auf. Ob die SPD "im Schlafwagen" zur Bonner Regierungsmacht fährt oder ob bis zur Bundestagswahl im Oktober das Meinungsklima zugunsten der etablierten Konservativen gewendet werden kann, bleibt in den Beiträgen von Georg Fülberth und Heinz Jung noch offen.

In der vorliegenden Ausgabe von Z stehen jedoch theoriegeschichtliche Diskussionen zum Marxismus im Mittelpunkt. Dies gilt nicht nur für die Beiträge zu Anthropologie und Menschenbild. Sowohl die Beiträge zur Wert-Preis-Transformationsdebatte wie die von Jung und Heininger gehören in diesen Kontext einer Re-Lektüre "klassischer" Beiträge zum Marxismus unter dem Blickwinkel der geschichtlichen Realentwicklung. Daß eine solche Re-Lektüre für marxistische Erneuerung von Bedeutung ist, war übrigens auch Thema der Tagung des Redaktionsbeirats von Z im April dieses Jahres. Heinz Jung gibt einen Durchgang durch die Frühschriften von Engels und Marx aus den Jahren 1843 bis 1846 mit Blick auf ihre Kommunismus/Sozialismus-Vorstellungen. Horst Heininger nimmt die Diskussion um die Leninsche Imperialismusanalyse (vgl. Z 10) auf und konfrontiert Lenin mit der zeitgenössischen Diskussion um den "Imperialismus". Bei der Jahrestagung des Arbeitskreises Marx-EngelsForschung Anfang Juni wird mit der Diskussion über den jetzt in der Urfassung vorliegenden 3. Band des 'Kapital' dieser Ansatz der "Re-Lektüre" weiter verfolgt.

Z wird in der Regel von hinten gelesen. Es ist dagegen nichts einzuwenden, wenn zuerst die kürzeren Stücke konsumiert werden, die rascheren Genuß versprechen. Und auch Vielfalt gehört zum Genuß. Die vorliegende Ausgabe enthält einen ausführlichen Rezensions-, Diskussions- und Berichtsteil, der diesem Interesse hoffentlich ebenso entgegenkommt wie die "Standpunkte" und die "übrigen Beiträge", darunter jene von Sabine Kebir zu Werner Krauss und Peter Scherer zur Geopolitik des heutigen Kapitalismus, die der Lektüre besonders empfohlen sind.

Es bleibt speziell Henning Böke für seine Beteiligung an der Redaktion dieses Heftes zu danken. Gast-Redakteure werden auch in Zukunft einen festen Platz in der Z-Arbeit haben. Thema des nächsten Heftes: die aktuelle Gewerkschaftsdiskussion. Die Redaktion verweist auf die Beilage zu dieser Ausgabe sowie auf die Eigenanzeige am Schluß des Heftes und bittet alle Leser/innen darum, von ihnen reichlich Gebrauch zu machen. Eine weitere Steigerung der Abo-Zahlen ist für das Projekt Z notwendig; daher die angefügten Bestellscheine - servez vous!

 
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